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Christian Metz: "Kitzel"
Eine ambivalente Empfindung zwischen Lust und Unlust

Lachen, Nervenanspannung, Begehren: Der Kitzel ist ein intensiver Sinneseindruck zwischen Lust und Unlust, der viele Spuren in der Körper- und Geistesgeschichte hinterlassen hat. Der Literaturwissenschaftler Christian Metz geht ihnen nach - von der antiken Philosophie zum modernen Kitzelporno.

Von Jutta Person | 27.08.2020
Die Hand einer Mutter kitzelt die Fußsohle ihres Babys.
In der symbiotischen Mutter-Kind-Beziehung gehört das Kitzeln zur vorsprachlichen Kommunikation (imago / Westend61)
Fingerspitzen, die sich wie Spinnenbeine einer Fußsohle nähern. Eine Feder, die auf eine Achselhöhle zusteuert. Eine Ziegenzunge, die konvulsivische Zuckungen auslöst. Ein Pinsel, der sich am Hals zu schaffen macht. Zeitlos sind solche Szenarien keineswegs, lehrt eine kulturwissenschaftliche Studie, die den Blick auf den Kitzel gründlich verändert.
Wer sich nach der Lektüre dieses Buches kitzeln lässt oder eine Kitzel-Attacke vorbereitet, wird dabei auch an Aristoteles, Darwin oder Freud denken. Sie alle spielen wichtige Rollen in der Geschichte des Kitzels, die Christian Metz in seiner sechshundertseitigen Habilitationsschrift unter die Lupe nimmt.
Porträt von Christian Metz.
Christian Metz geht dem Kitzel von der antiken Philosophie zum modernen Kitzelporno nach (S. Fischer Verlag / Markus Kirchgessner)
"Unter die Lupe" ist in diesem Fall wörtlich zu verstehen, denn die Untersuchung des Literaturwissenschaftlers und -kritikers entfaltet sich – ganz analog zu ihrem Gegenstand – an feinsten Berührungen oder vermeintlich nebensächlichen Bemerkungen. Obwohl die Kitzel-Stellen der Weltgeschichte eher als Randnotizen vorkommen, werde man doch überraschend oft fündig, erklärt Metz. Das Forschungsvorhaben seiner "Genealogie einer menschlichen Empfindung" fasst er so zusammen:
"Nicht nur so komplexe Gefühle wie Liebe oder Angst, sondern auch eine so basale Empfindung wie der Kitzel ist geschichtsträchtig und -mächtig. Weil Kitzligsein ein Merkmal des menschlichen Wesens ist, weil sich im Kitzel die elementaren Aspekte des Menschseins (Empfindungsfähigkeit, Lust, Schmerz) formieren, weil der Umgang mit dem Kitzligsein eine basale Körpertechnik darstellt. Wenn auch der Gedanke, der Kitzel mache große Geschichte, zu hoch greifen sollte, so schreibt er doch Geschichten."
Lachkitzel - eine von Grund auf menschliche Eigenschaft
Im Folgenden wandert der Autor von der antiken Philosophie über die Literatur des 18. oder die Evolutionstheorie des 19. Jahrhunderts bis zu den Kitzelpornos der Gegenwart – ein weit ausgreifendes Panorama, um die Relevanz des Kitzels belegen: gut versteckt sei er, aber durchaus einflussreich. Der untersuchte Formenreichtum umfasst dabei Ausprägungen wie den sanften oder den harten Kitzel, den Lachkitzel, den sexuellen Kitzel oder den Nervenkitzel. Gemeinsam ist ihnen, dass sie als gemischte Empfindungen auftreten, bei denen Lust und Schmerz, Spiel und Angst ineinander übergehen.
Schon in der Antike erweist sich das Kitzligsein als aufschlussreiche Eigenschaft: Aristoteles, der klassischerweise für eine Theorie des Lachens vereinnahmt wird, habe vor das Lachen den Kitzel gestellt, führt Metz aus. Das liegt auch daran, dass in der Antike das Zwerchfell eine so große Rolle spielt. Als Transformator trennt es die oberen von den unteren Körperteilen, reguliert die Körpersäfte – und übersetzt den Kitzelreiz in Lachen. Für Aristoteles ergibt sich daraus:
"Das Zusammenspiel von feiner Hautberührung, Zwerchfell(schwingung) und Lachen ist ausschließlich dem menschlichen Körper vorbehalten. Es sorgt dafür, dass der Mensch zum Menschen wird. Nicht das Lachen allein, vielmehr der Lachkitzel im Speziellen stellt eine von Grund auf menschliche Eigenschaft dar."
Streifzug durch theologische und weltliche Kitzeltheorien: Christian Metz: „Kitzel. Genealogie einer menschlichen Empfindung“
Streifzug durch theologische und weltliche Kitzeltheorien: Christian Metz: „Kitzel. Genealogie einer menschlichen Empfindung“ (Buchcover: S. Fischer Verlag, Hintergrund: picture alliance/dpa/Friso Gentsch)
Der Kitzel wird zum Gegenstand der Wissenschaft
Aber auch schon bei Platon kommt dem Kitzel eine besondere Bedeutung zu. Mit zwei Kitzelstellen im "Symposion" – der Dichter Aristophanes kitzelt sich mit einer Feder die Nase – fächert Metz das antike Begehren auf und lässt den Liebesdiskurs Revue passieren. Und noch eine Komponente zeichnet sich in der Antike ab: In den medizinischen Schriften des Hippokrates ist der Begehrenskitzel zentral. Mann und Frau empfinden ihn an den Geschlechtsorganen, wobei der weibliche Orgasmus eine entscheidende Rolle spielt.
Zu Beginn der Frühen Neuzeit entsteht mit dem "sanften Kitzel" ein Typus, der sich in einem Sujet der Kunst konkretisiert: die "Madonna mit Kind". Die Muttergottes kitzelt das – menschliche – Jesuskind, was allerdings nie über eine gemäßigte Affektstufe hinausgeht:
"Die Berührung löst mitunter zwar ein Lächeln aus, aber es kommt (...) nie zu lachtypischen Körperverrenkungen oder gar zum orgiastischen Kontrollverlust."
Nach dieser christlichen Übernahme entstehen wieder weltlichere Kitzeltheorien: Descartes verschiebt den Kitzel ins Gehirn und Grimmelshausen buchstabiert im "Simplicissimus" die Kitzelfolter an Fußsohlen aus. Um 1800 beobachtet Metz eine epochale Umbesetzung, denn mit der Aufwertung des Körpers werde der Kitzel zu einem zentralen Element der Subjektbildung. Von der Ästhetik des Erhabenen bis zu den Komiktheorien gilt: Im Schauder wie im Lächerlichen wird die gemischte Empfindung neu zusammengesetzt. Dazu kommen die Wissenschaften, die den Kitzel mit den Nervenbahnen verschalten. Der Kitzel steht für ein Scharnier zwischen Körper und Geist, äußerem Reiz und innerer Erregung – mit unterschiedlichen Akzenten: manchmal bloße Metapher, manchmal reales Zucken und Winden. Fündig wird der Autor bei Jean Paul, Goethe, Hegel, wie auch bei Nietzsche, Kafka oder Freud und dessen Patientin "Dora".
Hegel, der Kitzler und die Geschlechterordnung
Dass die Klitoris im Deutschen als Kitzler bekannt ist, eröffnet der Genealogie des Kitzels zahlreiche geschlechtergeschichtliche Forschungsfelder. Hegel etwa bestimmt die geistigen Positionen von Mann und Frau analog zur Anatomie:
"Wie im Manne der Uterus zur bloßen Drüse herabsinkt, so bleibt dagegen der männliche Testikel beim Weibe im Eierstocke eingeschlossen, tritt nicht heraus in den Gegensatz, wird nicht für sich, zum thätigen Gehirn, und der Kitzler ist das unthätige Gefühl überhaupt."
Meistens wird diese Stelle so interpretiert, dass Hegel den Mann auf der aktiven, verständigen Seite und die Frau auf der passiven, gefühlvollen Seite platziert. Metz wagt eine Gegenthese: Mit dem Kitzler bleibe ein irritierender Rest, der zu einer Verunsicherung der Geschlechterordnung führe. Ob die eine, einzige Kitzler-Erwähnung aber tatsächlich die dialektische Ordnung erschüttern kann, die Hegel auch den Geschlechtern zugedacht hatte, könnte man bezweifeln. Ohnehin liegt der Lesegewinn nicht unbedingt darin, jedem Deutungsdetail in allen Punkten zuzustimmen – sondern im gleichermaßen informierten wie eleganten Gang durch die Körper- und Geistesgeschichte, die dieses Kitzelpanorama bietet. Hier schreibt ein dekonstruktivistisch geschulter Autor, der seinem Forschungsgegenstand auf nachvollziehbare Weise durch die Jahrhunderte folgt.
Kitzeln als Kommunikation zwischen Mutter und Kind
Zu manchen Themen hätte man gern mehr erfahren: Neurologische Untersuchungen zeigen, dass zum Beispiel auch Ratten kitzlig sind, vermerkt der Literaturwissenschaftler. Aber was bedeutet es, wenn die so urmenschliche Kitzelempfindung von anderen Arten geteilt wird? Apropos menschlich: Metz verweist auch auf die Relevanz der frühkindlichen Entwicklung. In der symbiotischen Mutter-Kind-Beziehung gehört das Kitzeln zur vorsprachlichen Kommunikation – und löst die erste Bindung schonend auf.
"Indem die Mutter ihr Kind kitzelt, unterbricht sie das bislang selbstverständliche Stillen und setzt an die Stelle der (bedingungslosen) Wunscherfüllung die Ambivalenz aus Ablehnung (Verbot) und gleichzeitiger Zuneigung."
Die Studie endet mit einem Ausflug in die Welt der Kitzelpornos, in denen keine Körperflüssigkeiten ausgetauscht, dafür aber Fußsohlen, Rippen oder Achseln gereizt werden.
Nach sechshundert Seiten mag man vorerst erschöpft sein – aber gleichermaßen beeindruckt und überzeugt, dass noch zahlreiche Geschichten des Kitzels zu erzählen sind. Nicht zuletzt lernt man ja, dass diese gemischte Empfindung eine Art Ambivalenz-Trainingsmaschine im Aushalten uneindeutiger Gefühle ist.
Christian Metz: "Kitzel. Genealogie einer menschlichen Empfindung"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main. 637 Seiten, 32 Euro.