Donnerstag, 18. April 2024

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Christian Stückl
"Ich finde den Heimatbegriff ganz schwierig"

Früher sei er sich in seiner eigenen Heimat Oberammergau oft wie ein Außerirdischer vorgekommen, sagte Regisseur Christian Stückl im DLF. Am Ende sei er aber geblieben. Wichtig sei, offen zu sein für Migranten und diesen dabei zu helfen, in Deutschland eine neue Heimat zu finden.

Christian Stückl im Gespräch mit Karin Fischer | 13.08.2016
    Regisseur Christian Stückl während einer Premierenfeier von "Jedermann" bei den Salzburger Festspielen in 2012.
    Regisseur Christian Stückl: "Ich habe dieses Theatermachen immer als etwas empfunden, wo ich das Gefühl gehabt habe, da muss man die Grenzen aufreißen." (picture alliance / dpa / Barbara Gindl)
    Christian Stückl: Sagen wir mal so, ich bin ja selber in einer Gaststätte aufgewachsen, also quasi von klein weg mit Touristen großgeworden. Ich fand das immer total spannend, wenn die Fremden nach Oberammergau kamen. Ich fand die Zeit, wo das Hotel oder die Gaststätte geschlossen war, die langweiligste Zeit. Ich fand immer, das hat das Dorf total bereichert, dass wir Fremde gehabt haben im Dorf, dass es also ständig neue Menschen gab, und das macht meinen Ort ja irgendwie auch aus.
    Ob das jetzt Kitsch oder Tradition ist, also für mich ist das mein Ort, mit dem ich groß werde, und natürlich kennt man die ganzen Bilder mit den Geranien-Kästen auf die Berge hin fotografiert, aber das ist nicht der Ort, sondern der Ort ist viel lebendiger, und der Ort ist viel facettenreicher. Er hat natürlich seine dunklen Seiten.
    "Dieser Ort war für mich eine ganze Zeitlang absolute Enge"
    Karin Fischer: Was sind die dunklen Seiten von Oberammergau?
    Stückl: Es gab bei mir natürlich mit 18, 19 absolute Fluchterscheinungen, wo ich immer dachte, mir ist diese Welt zu aufgeräumt, mir ist es zu heimelig, ich muss hier raus, ich muss irgendwie die Welt entdecken, ich muss was anderes erleben. Also dieser Ort war für mich eine ganze Zeit lang auch totale Enge. Also ich habe dann ganz früh gemerkt, ich habe einen Berufswunsch, ich wollte dieses Passionsspiel übernehmen.
    Ich war mit 16, 17 schon sicher, dass ich dieses Passionsspiel übernehmen will, habe aber immer gemerkt, dass das auch unbeweglich ist und dass man quasi, weil das Passionsspiel auch so ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für Oberammergau ist, ständig Angst hat vor der Veränderung, ständig Angst hat vor was Neuem, und das war mir eigentlich total fremd.
    Ich habe dieses Theatermachen immer als etwas empfunden, wo ich das Gefühl gehabt habe, da muss man die Grenzen aufreißen, da muss man was Neues machen, da muss man was anders machen, man muss die Sachen hinterfragen, und ganz oft war es halt so, dass ich das empfunden habe, dass man das nicht hinterfragen darf und dass man da nichts verändern darf.
    Ich habe mir aber dann trotzdem irgendwie da drin meine Freiräume geschaffen. Manchmal bin ich mir auch in meiner eigenen Heimat wie ein Außerirdischer vorgekommen. Dann habe ich gedacht, gehöre ich wirklich hierher oder will ich raus. Am Ende bin ich aber dann geblieben und fahre dann immer, wenn es mir zu viel wird, weg einfach.
    "Wenn man irgendwo eine Heimat hat, dann muss man auch anderen Leuten eine Heimat geben"
    Fischer: Der Sänger Marco Michael Wanda hat anlässlich des letztjährigen Heimatsoundfestivals gesagt, ich muss auch anderen eine Heimat schaffen. Wer nur sich selbst eine Heimat schafft, ist wertlos für die Gesellschaft.
    Ich möchte mit diesem Zitat anknüpfen an die Tatsache, dass Sie ja beschrieben haben, dass einerseits dieses kleine Örtchen Oberammergau schon immer durch die Fremden bunter und vielfältiger war als das, was wir von außen und auf diesen Postkartenidyllen wahrnehmen. Können Sie diesen Satz unterschreiben?
    Stückl: Ja, unbedingt. Man merkt ja, bei uns gibt es zum Beispiel ein ganz klares Spielrecht. Also man muss dort geboren sein oder man muss seit 20 Jahren dort leben, um Teil dieses Passionsspiels sein zu dürfen, und da denke ich immer ganz oft, na ja, das funktioniert so nicht. Man muss eigentlich schauen, wer in diesem Ort lebt, der muss mitgenommen werden. Ich muss wirklich auch schauen, dass die, die neu kommen, die von woanders herkommen, die erst einmal nicht in diesem Ort aufwachsen, dass die trotzdem mitgenommen werden. Nur dann lebt ein Ort auch, wenn man wirklich versucht, dann einen ständigen Austausch zu treiben.
    Für mich ist das ein ganz wichtiger Punkt. Ich finde zum Beispiel, ich habe bei uns erst seit fünf Monaten ein Flüchtlingswohnheim in Oberammergau, und das ist ein ganz wichtiger Punkt, dass man merkt, plötzlich wird das Dorf auch bunter. Es kommen Menschen mit dunkler Hautfarbe, aber sie bereichern das Dorf.
    Von daher ist es ganz klar, wenn man irgendwo eine Heimat hat, dann muss man auch anderen Leuten eine Heimat geben. Man muss sagen, ihr gehört irgendwann auch dazu und ihr gehört auch hierher, und ihr könnt Teil von uns oder wir nehmen auch was von euch auf.
    Fischer: Da verschiebt sich gerade im Moment ganz viel, aber natürlich auch schon in den letzten 20 Jahren. Auch das kann man, glaube ich, gerade in Bayern an der Musik festmachen, die ja nicht mehr bajuwarisch oder alpenländisch tümelnd ist, sondern die ganz neu interpretiert wird mit vielen anderen Einflüssen, und Sie, die Sie mit dem Theater zu tun haben, wissen sowieso, dass man auch mit Passionsspielen an eine 2000-jährige Kulturgeschichte andockt. Wie hat sich der Heimatbegriff in Ihren Augen verändert in den letzten Jahrzehnten?
    Stückl: Ich finde den Heimatbegriff sowieso immer ganz einen schwierigen. Also ich merke, ich mache gerade eine Oper, die heißt "Nabucco" draußen und habe einen Sänger aus Aserbaidschan da, der den Nabucco singt, und Evez Abdulla, der kam nach Oberammergau und sagte, er wacht jeden Tag auf und denkt sich, hier ist meine Heimat, hier kehre ich her. Mir ist es ganz ähnlich gegangen. Ich bin vor 20 Jahren nach Indien gefahren und wurde da vom Goethe-Institut nach Indien eingeladen.
    Ich bin in dieses ???, das ist eine kleine südindische Stadt. Ich bin dahingekommen, dann dachte ich plötzlich, ich fühl mich hier total daheim, ich weiß nicht, warum es so ist, aber ich fühle mich da total daheim, ähnlich daheim wie in Oberammergau und fahre jetzt seit 20 Jahren da jedes Jahr runter. Für mich ist Heimat ein ganz schwieriger Begriff, weil ich persönlich eigentlich immer merke, für mich hat das ganz früh damit gar nicht unbedingt mit der Landschaft ... natürlich gehört das irgendwo auch dazu, aber für mich hat es ganz früh mit den Menschen, mit denen ich arbeite, mit denen ich beschäftigt bin, zu tun.
    Wenn ich das Gefühl habe, das ist reichhaltig, da passiert was, da geht bei mir was auf, dann fühle ich mich daheim. Für mich ist der Begriff Heimat ganz schwer an einen Ort zu binden.
    Trotzdem gibt es dann natürlich so Sachen, wenn ich dann von Indien zurückkomme, dann merkt man plötzlich, wir haben doch andere Gerüche, die Gerüche haben was mit meiner Heimat zu tun, und ich merke irgendwie so, ich reagiere anders auf die Musik, die mich zu Hause umgibt als auf die indische. Das bleibt dann doch irgendwie exotischer. Also ich finde den Heimatbegriff ganz einen schwierigen Begriff.
    "Wo Hass und wo Terror passiert, das hat nichts mit Religion zu tun"
    Fischer: Wir können ja auch, anstatt über Heimat über Identität sprechen, deren einer Teil ja vermutlich auch die Religion ist, mit der Sie als Spielleiter der Passionsspiele, aber auch zum Beispiel als Regisseur des "Jedermann" in Salzburg ganz viel zu tun hatten und haben. Wie beurteilen Sie denn das, was gerade im Namen der Religion auch passiert an Hass, an Gewalt, an Terror, um mal ganz kurz abzuschweifen?
    Stückl: Ich glaube, dort, wo Hass und wo Terror passiert, das hat nichts mit Religion zu tun. Also ich glaube, Stefan Zweig hat ein Stück geschrieben, "Jeremias", und da schreit Jeremias ganz klar, tut ab den Namen Gottes vom Krieg. Ich glaube wirklich, also überall da, wo Krieg ist, kann man das nicht Religion, sondern das kann man nur Verbohrtheit in die falsche Richtung ???, Rechthaberei. Das hat alles irgendwie letztlich für mich nichts mit Religion zu tun.
    Für mich, ich selber bin ja total katholisch sozialisiert, ich habe immer wieder gemerkt, wenn ich nach Indien gehe, ich bin katholisch aufgewachsen, ich bin katholisch, nicht einmal protestantisch, sondern wirklich katholisch, weil ich einfach mit den Weihrauchgerüchen, mit der Musik, mit all dem aufgewachsen bin. Ich kann mir gar nicht vorstellen zu konvertieren oder so, und trotzdem habe ich in meinem Umkreis, meine besten Freunde sind Hindus, Moslems, also wir verstehen uns alle relativ gut, also innerhalb dieses Kreises. Ich glaube, dann kommt Religion auch zum Klingen, wenn man wirklich aufeinander hört und wenn man wirklich sich gegenseitig bereichert mit dem, was man gelernt hat, mit dem, womit man aufgewachsen ist, mit dem, was man mitgenommen hat. Überall da, wo Rechthaberei entsteht, wo katholische Rechthaberei entsteht, wo man sagt, wir haben den wahren Gott oder wo die Muslime sagen, wir haben das wahre Buch oder die wahre Schrift, überall da fängt das an, was Lessing schon beschrieben hat, wo wir uns gegenseitig totschlagen, und das hat am Ende nichts mit Religion zu tun. Ich finde alles, was mit Gewalt zu tun hat, ist ganz weit weg von Religion, aber trotzdem wird natürlich Religion missbraucht und dazu hergenommen, ganz klar.
    "Wir müssen aufmachen und andere an unserer Heimat teilnehmen lassen"
    Fischer: Wäre das, was Sie gerade gesagt haben, Christian Stückl, auch Ihre Empfehlung für den Umgang mit den neuen Flüchtlingen? Sie haben die in Oberammergau erwähnt, die zu uns oder nach Europa kommen, natürlich auch, weil sie eine neue Heimat suchen.
    Stückl: Ja, mein Gott, die sind ja zum Teil gezwungen, eine neue Heimat zu suchen.
    Ich habe jetzt gerade im Theater einen Buben aus Eritrea dabei, ich habe zwei Buren aus Afghanistan dabei in Oberammergau bei unseren Sommertheaterveranstaltungen, und du merkst ja, die Leute sind nicht freiwillig gegangen von dort, wo sie gehen haben müssen.
    Fischer: Na klar.
    Stückl: Die sind ja weggetrieben worden, und natürlich suchen sie eine neue Heimat. Man spürt total, gerade die Jüngeren, die ganz offen sind, die versuchen jetzt natürlich dies richtig aufzusaugen.
    Ich merke, wenn man immer sagt, die wollen nicht Deutsch lernen oder die sind nicht bereit, das stimmt überhaupt nicht. Alle, denen ich begegnet bin, die sind richtig begierig darauf, irgendwie dazuzugehören.
    Wir müssen offen sein, wir haben unsere Heimat, wir sitzen in unseren Dörfern, in unseren Städten, uns geht es eigentlich relativ gut, und wir müssen aufmachen und sie daran teilnehmen lassen. Dann funktioniert es vielleicht auch.
    Natürlich kann trotzdem was passieren, und trotzdem sind welche dabei, die nicht integrationsfähig sind, aber wir sind zum Teil auch nicht integrationsfähig. Wir schaffen es auch ganz oft nicht, sie mitzunehmen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.