Christiane Thiel vs. Wolfgang Thierse Werden Ostdeutsche "rassistisch benachteiligt"?
Ostdeutsche seien „fast rassistisch benachteiligt“ - diese These äußerte die Hochschulpfarrerin Christiane Thiel in einem Dlf-Interview, das viele Reaktionen hervorrief. Ganz anders sieht das der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Er findet: Die negative Selbstwahrnehmung hilft nicht weiter.
Eine zugespitzte Frage, zwei Gäste, zwei konträre Positionen – dazu eine Moderatorin oder ein Moderator und ein weites Themenspektrum, jeden Samstag um 17.05 Uhr. Das ist das Konzept der neuen Sendung. Sind wir zu politisch korrekt? Passen Religion und Aufklärung zusammen? BER und Stuttgart 21 – hat Deutschland das Bauen verlernt? Den Streit wert sind Kunst und Musik, Glaube und Wissenschaft, Lebensstil und politische Kultur. Eine gleich bleibende Debattendramaturgie sorgt für klare Standpunkte, dann folgen echter Austausch, Abwägen und gemeinsames Nachdenken. Im besten Fall wird der Titel so eingelöst, dass wir genau das vorführen: Streit-Kultur.
Zurückgewiesen und unfair behandelt: Die Theologin Christiane Thiel findet, Ostdeutsche seien zugehörigkeitsbenachteiligt (dpa / picture alliance / Frank May)
Christiane Thiel ist Hochschulseelsorgerin in Halle, war lange Pfarrerin in Leipzig und ist in Freiberg in Sachsen geboren.
"Ja. Rassismus ist zwar eine heikle These, es gibt bei den Menschen keine Rassen. Deshalb ist der Begriff hier nur eine theoretische Krücke. Aber ich spreche von einer Zugehörigkeitsbenachteiligung. Meine Mundart zum Beispiel führt dazu, dass ich im westlichen Kontext oft gedisst werde, es hat etwas damit zu tun, wie ich aufgewachsen bin, wie ich denken gelernt habe in welchen Zusammenhängen und durch welche Hintertüren. Ich kann das natürlich nicht für alle 17 Millionen ehemaligen DDR-Bürger sagen.
Ich spreche vor allem von meinen Erfahrungen bei dem Versuch, mit in diese Welt einzubringen. Die Benachteiligungen sind massiv: Es geht nicht nur um die Leitungsposten, es geht auch um die mittlere Ebene. Es geht auch darum, wie es als Ostdeutsche möglich ist, auch innerhalb Westdeutschlands sichtbar zu werden als ostdeutsche Person. Gregor Gysi hat einmal gesagt: Wenn der erste Pressesprecher der Stadtwerke von Ingolstadt ein Ostdeutscher ist, dann ist die Einheit vollzogen. Es gibt bisher keine ostdeutschen Pressesprecher in westdeutschen Städten dieser Größe, auch keine Oberbürgermeister und Oberbürgermeisterinnen."
Der SPD-Politiker Wolfgang Thierse ist in Breslau geboren und war von 1998 bis 2005 Präsident des Deutschen Bundestages und von 2005 bis 2013 dessen Vizepräsident.
"Nein, ostdeutsche sind nicht rassistisch benachteiligt. Gewiss, es gibt ökonomisch soziale Ungleichheit zwischen West und Ost in Deutschland. Wirtschaftskraft, Einkommen, Renten sind noch schmerzlich verschieden, da ist noch viel zu tun. Vor allem: Es gibt eine West-Ost-Ungleichheit der Sicherheiten und Gewissheiten. Nach der ostdeutschen Erfahrung eines Systemwechsels, eines radikalen Umbruchs und eines vielfachen Entschwindens der eigenen Lebenserfahrungen und Lebensleistungen. Das tat und tut weh und erzeugt Vorwürfe und autoritäre Erwartungen, die sich an "die da oben", an den Westen richten. Das kann man verstehen. Aber wir sollten diese Emotionen und Haltungen nicht noch verstärken und die negative Selbstwahrnehmung vieler Ostdeutscher bestätigen.
Wolfgang Thierse (imago/IPON)
Das in den Jahrzehnten der Spaltung entstandene Minderwertigkeitsgefühl, das wir als Rucksack mit uns tragen, macht uns Ostdeutsche nicht produktiv. Wir brauchen mehr ostdeutsches Selbstbewusstsein und haben auch Anlass dazu, denn es gibt ja nicht nur Verlierer, sondern viele Gewinner von friedlicher Revolution und deutscher Einheit. Es ist wirklich schon viel erreicht, das sollten wir nicht übersehen. Die negative Selbstwahrnehmung macht uns nicht produktiv und stärkt uns nicht."