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Christoph Ransmayr: "Der Fallmeister"
Zurück in die Zukunft

Mancher Kritiker nennt Christoph Ransmayr schon einen "Alpen-Apokalyptiker". Denn sehr rosig schaut er in seinem Roman nicht in die Zukunft. "Der Fallmeister“ ist eine düstere Dystopie, in der Europa wie im Dreißigjährigen Krieg aussieht, in viele Kleinstaaten zersplittert ist - und jeder jedem misstraut.

Von Jörg Magenau | 20.04.2021
Christoph Ransmayr: "Der Fallmeister" Zu sehen sind der Autor und das Buchcover.
Großmeister eines archaischen Raunens: Der österreichische Autor Christoph Ransmayr (Bild: Imago / Manfred Siebinger / Cover: S.Fischer Verlag)
In den Büchern von Christoph Ransmayr gehen die Uhren anders. Die Zukunft ist tief in der Vergangenheit verborgen. Doch das, was einmal war, lässt sich erst auf dem Umweg über die Zukunft bestimmen. In Ransmayrs neuem Roman bekommen wir es mit einem "von der Vergangenheit geradezu besessenen" Mann zu tun. Er ist der titelgebende "Fallmeister". Er überwacht ein Kanalsystem am "Weißen Fluss", mit dem einst die Salzschiffer der Region in ihren Holzbooten den "großen Fall" umfahren konnten. Vorbild dieser von Ransmayr ins Ortlose verfremdeten Gegend ist der Traun-Fall in Oberösterreich, wo im 16. Jahrhundert eine etwa 400 Meter lange hölzerne Fahrrinne entlang der Felsen entstand. Die Passage war extrem gefährlich, weil der Fallmeister den Wasserzufluss exakt regeln musste, um eine zu schnelle und damit tödliche Abfahrt der Salzschiffer zu verhindern.

Hier sieht die Zukunft ziemlich alt aus

Diese Wasserrutsche ist heute allerdings nicht mehr erhalten. In Ransmayrs Roman, der in einer unbestimmten, düsteren Zukunft spielt, gibt es sie aber noch – allerdings bloß als Museumsattraktion. Und Ransmayrs Fallmeister, der seinen Beruf leibt und lebt, ist bloß noch Museumsvorsteher. Für ihn eine demütigende Lebenssituation. Gleich zu Beginn, wo man sich als Leser noch in mittelalterlicher Vergangenheit wähnt, kommt es zu einem schrecklichen Unglück. Der Fallmeister reguliert den Zufluss falsch; ein Boot kentert, fünf Personen kommen ums Leben. Ein Jahr später setzt der Fallmeister, der die Verantwortung dafür trägt, seinem eigenen Leben ein Ende, indem er sich mit seinem Boot die Wasserfälle hinunterstürzt.
Über die Gefahr von Literaturpreisen
Für den österreichischen Schriftsteller Christoph Ransmayr sind Literaturpreise eher eine Bedrohung. Er selbst wurde bereits oft ausgezeichnet und sagt, er habe für die Verleihungen seine ganz eigene Form gefunden.
Der Ich-Erzähler der ganzen Geschichte ist der Sohn des Fallmeisters. Er glaubt, dass der Tod der fünf Menschen kein Unfall war, sondern eine gezielte Mordtat seines Vaters, der sich mit dieser Verzweiflungstat dem Lauf der Zeit entgegenstemmen und die Vergangenheit bewahren wollte. Mit seinem Verdacht: "Mein Vater hat fünf Menschen getötet", setzt der Roman ein. Auch einen Selbstmord des Vaters schließt der Sohn bald aus und begibt sich auf die Spur des Verschwundenen, quer durch Europa. Das Misstrauen des Sohnes und Ich-Erzählers hat auch damit zu tun, dass er dem Vater in vielem ähnelt. Wie der Fallmeister hat auch er beruflich mit Wasserkraft zu tun. Er ist Spezialist für Strömungsumkehr an den großen Flüssen dieser Erde, am Amazonas und am Mekong. Wo der Vater den Fluss der Zeit umkehren wollte, macht der Sohn dasselbe mit dem Wasser und sieht den Vater aus dieser spezifischen Perspektive der Umkehr:
"Spätestens seit er sein Amt als Kurator des Museums am Großen Fall angetreten hatte, schien seine Lebenszeit ihre Fließrichtung umgekehrt zu haben und nicht in eine bedrohliche Zukunft zu verlaufen, sondern aus dem Nebel dieser Zukunft zurück in eine Vergangenheit, in der alles vertraut, alles absehbar, alles lenkbar erschien."

Der "Fallmeister" ist ein Nostalgiker

Man kann die romantische Vergangenheitssehnsucht oder Gegenwartsverweigerung von Ransmayrs Fallmeister durchaus verstehen. In der düsteren Zukunft dieser Dystopie ist Europa in zahllose, winzig kleine Herzogtümer und Grafschaften zerfallen, die untereinander in unübersichtliche Kriege verwickelt sind. Dabei geht es entweder um das knapper werdende Land, da der Meeresspiegel wegen des Klimawandels bedrohlich angestiegen ist. Oder man streitet sich um die verbliebenen Trinkwasserreserven, zumal Trinkwasservergiftung ein beliebtes Kampfmittel ist. Die Vergangenheit ist in dieser Vision eines durch Chauvinismus, Fremdenfeindlichkeit, Terror und Kriegen zerstörten Europas allemal der friedlichere Ort.
Als Strömungsexperte, der weiß, wie man aus Wasser Energie gewinnt, ist der Ich-Erzähler in dieser archaischen, apokalyptischen Welt der Grenzen und Trennungen ein wichtiger Mann und Teil einer weltweit operierenden Elite. Gleichwohl ist auch er nicht gefeit vor der Zerbrechlichkeit der Verhältnisse. Denn die sind seiner eigenen Familie eingeschrieben. Der Vater ist tot oder verschwunden. Die Mutter Jana – also die Ehefrau des Fallmeisters – stammt aus dem ehemaligen Jugoslawien und wird im Zuge einer ethnischen Säuberung in ihre alte Heimat abgeschoben. Die Schwester des Erzählers namens Mira leidet an Glasknochenkrankheit und damit symbolisch überdeutlich an einer Zerbrechlichkeit, die ihr zum Verhängnis werden muss. Jede Berührung, jede Umarmung kann ihren Tod bedeuten. Dabei verbindet den Ich-Erzähler ein zartes, inzestuöses Liebesverhältnis mit der Schwester, was in dieser düsteren Zukunft des Unter-Sich-Bleibens durchaus der Norm entspricht:

Völlig zersplittertes Europa

"Ich begriff, dass die Zwergstaaten des europäischen Kontinents, die jeder für sich auf Einzigartigkeit und Überlegenheit beharrten und weder Fremde noch Zuwanderer, Flüchtlinge oder andere Bedrohungen der eigenen Unvergleichlichkeit und Großartigkeit duldeten, sich folgerichtig aus dem eigenen Erbgut in die Zukunft verlängern mussten. Überkommene Inzestverbote waren dieser Form des Bevölkerungswachstums im Weg gewesen und deshalb in den meisten Zwergstaaten als den abendländischen Traditionen nicht mehr gemäß abgeschafft worden."
Christoph Ransmayr entwirft mit dieser Dystopie eine Gesellschaft des absoluten Misstrauens. Jeder ist der Feind des anderen. Also ist die Überwachung aller total. Der Überwachungswahn ist das Einzige, was all die kriegerischen Kleinstaaten miteinander verbindet. Auch der Ich-Erzähler gelangt schließlich zu der Überzeugung, dass jede Gesellschaft, egal wie sie organisiert sei, Menschen von solcher Verkommenheit hervorbringe, dass es kein anderes Mittel gegen sie gebe, als sie zu töten. Auf diesem Gebiet ist er durchaus Experte. Ransmayrs Ich-Erzähler ist kein Unschuldiger, so wie der Untertitel des Romans – eine "kurze Geschichte vom Töten" – es ja auch verspricht. Als Kind hatte er sich darauf spezialisiert, Hornissen und Wespen im Flug mit einer Schere durchzuschneiden. Auf der Suche nach einer Erklärung für die mutmaßliche Mordtat des Vaters wird er selbst zum Mörder und muss im totalüberwachten Flickenteppich-Europa zwischen Nordsee und Adria schließlich abtauchen, um abseits der alles erfassenden Datenströme nicht seinen Häschern in die Hände zu fallen.

Pathos aus der Hochdruckdüse

Die Zukunft ist für den Zukunftsskeptiker Christoph Ransmayr also wieder einmal gleichbedeutend mit tiefster Vergangenheit. Sie ähnelt stark der Zeit des 30jährigen Krieges. Der Mensch ist das Raubtier, das er immer war. Allzu dünn, so heißt es an einer Stelle, sei die Membran, die ihn von der "tief in ihm kauernden Bestie" trenne. Es ist schwer zu entscheiden, ob dieses Geschichtsbild etwas Progressives hat oder bloß reaktionär ist. Ransmayr schwelgt ein bisschen zu sehr im allgemeinen Zerfall, pinselt ihn allzu lustvoll in grellen Farben aus, wenn er beispielsweise die Ladekräne an der Elbe in lodernde Fackeln der Apokalypse verwandelt. Seine Mahnungen klingen wie die eines alttestamentarischen Propheten, der mit wehendem Bart den Weltuntergang ausmalt. Wer das mag, wer Kitsch erträgt und Pathos aus der Hochdruckdüse nicht fürchtet, wen auch symbolisch Überladenes und bedeutungsschweres Raunen nicht abschrecken, der allerdings wird an Christoph Ransmayrs Archaik durchaus seine Freude haben.
Christoph Ransmayr: "Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten"
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. Main. 220 Seiten, 22 Euro.