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Christopher Isherwood: "Nur zu Besuch"
Sehnsucht und Exzess

In seinem autobiografischen Roman von 1962 erzählt der englisch-amerikanische Schriftsteller Christopher Isherwood offen und schonungslos vom schwulen Leben in Europa und den USA - und von seiner hilflosen Verzweiflung angesichts des Zweiten Weltkriegs. Nun liegt das Buch in deutscher Übersetzung vor.

Von Bettina Baltschev | 06.08.2021
Christopher Isherwood auf einem Bahnsteig 1938 und sein Buch "Nur zu Besuch"
Christopher Isherwood versteht es meisterhaft Parallelen oder Abweichungen zwischen Fiktion und Wirklichkeit miteinander zu verknüpfen. (Foto: imago stock&people/ United Archives International, Buchcover: Hoffmann und Campe Verlag)
Der Reiz eines autobiografischen Romans liegt darin, dass er seine Leser und Leserinnen mitspielen lässt. Je nachdem, wie viel er oder sie über den Autor wissen, desto mehr eröffnen sich Parallelen oder Abweichungen zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Christopher Isherwood versteht es meisterhaft, beide Sphären miteinander zu verknüpfen.
So heißt sein Erzähler in "Nur zu Besuch" zwar wie er und die Stationen, die er durchläuft, sind dieselben wie die des Autors: England, Deutschland, Griechenland und Amerika. Doch gleich zu Beginn ist es nicht wie im echten Leben sein Freund, der Dichter W.H. Auden, der ihn Ende der 1920er Jahre dazu bringt, nach Berlin zu ziehen, sondern ein gewisser Mr. Laurence. Ob es ihn wirklich gab? Wer weiß das schon. Aber als dieser Mann ihm eindringlich und voller Abscheu von dem Moloch erzählt, für den er die deutsche Hauptstadt hält, nimmt das der junge Schriftsteller im Roman als Wink des Schicksals.
"'Christopher – nirgends, nicht in Tausendundeine Nacht, den schamlosesten Ritualen des Tantra, auf den Steinreliefs der Schwarzen Pagode, den japanischen Bordellbildern, den abscheulichsten Perversionen der orientalischen und asiatischen Phantasie, findet man Ekelerregenderes als das, was sich dort, ganz öffentlich Tag für Tag abspielt. (…) Du bist behütet aufgewachsen, Christopher, Gott sei es gedankt. Du kannst dir solche Dinge gar nicht vorstellen.' 'Nein, sicher nicht', sagte ich lammfromm, und ich traf auf der Stelle eine Entscheidung - eine Entscheidung, die mein gesamtes weiteres Leben prägen sollte. Ich beschloss, dass ich, egal wie, sobald wie möglich nach Berlin fahren und dort sehr sehr lange bleiben würde."

Ein Königreich für Homosexuelle

Wie es Christopher Isherwood in Berlin ergeht, wo er nachweislich mehrere Jahre verbringt, das lässt sich anderswo nachlesen. In seinen Büchern "Mr. Norris steigt um" und "Leb wohl Berlin", die später zur Vorlage des Musicals "Cabaret" werden. "Nur zu Besuch" setzt dagegen erst nach den wilden zwanziger Jahren in Berlin wieder ein, 1933, als sowohl der echte als auch der fiktive Christopher Isherwood das nationalsozialistische Deutschland Richtung Griechenland verlässt. Als homosexueller Engländer ahnt er, dass er in Gefahr ist.
"Der Terror ist noch immer ein bisschen unkoordiniert und amateurhaft, aber die Behörden werden schnell dafür sorgen, dass er bürokratisch reibungslos funktioniert. Mord von Amts wegen bringt in Deutschland wie alles, was dort von Amts wegen passiert, eine Menge Bürokratie mit sich."
Mit seinem jungen deutschen Freund Waldemar, dessen sexuelle Neigungen man heute wohl fluide nennen würde, landet Isherwood auf einer griechischen Insel. Dort träumt Ambrose, ein reicher Dandy, inmitten von Gleichgesinnten von einem Königreich für Homosexuelle. Noch einmal fünf Jahre später, 1938, befinden wir uns mit Christopher Isherwoods Alter Ego auf einem Schiff nach England. Zufällig trifft er Waldemar wieder, der als Verlobter einer englischen Kommunistin an Bord ist. Während Waldemar hofft, in England in Sicherheit zu sein, ist der Schriftsteller bereits überzeugt, dass Krieg kommen wird. Ein Gedanke, der ihn bis in seine Intimsphäre verfolgt, von der eingefügte Tagebuchaufzeichnungen Auskunft geben.
"Mittendrin ertappte ich mich dabei, wie ich aus lauter Höflichkeit besonders laut grunzte und stöhnte. Ich wage zu behaupten, dass G., der wirklich sehr süß ist, das gleiche machte. Aber ich konnte nicht darüber reden, dafür kennen wir uns nicht gut genug. Der andere Grund, warum das Wochenende ein Fehler war, ist die Krise, die sich plötzlich deutlich verschärft hat. Deutschland hat die Sowjets gefragt, wie sie auf eine 'Intervention' in die Tschechoslowakei reagieren würden."
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Vier Männer, vier Facetten

Im vierten und längsten Kapitel von "Nur zu Besuch" schlägt Isherwood schließlich einen Bogen von Kalifornien, wo er mittlerweile lebt, zurück nach Europa. Nun ist die Geschichte ganz seinem Geliebten Paul gewidmet, einem charismatischen Stricher, von dem er vergebens hofft, dass er mittels Yoga und Vegetarismus zu einem besseren Menschen würde. Als er ihm Anfang der 1950er Jahre in Paris ein letztes Mal begegnet, beschreibt Paul trotz des ihn umgebenden Nebels aus Alkohol und Drogen sehr präzise den Charakter seines Besuchers. Es sind Worte, die vermutlich auf beide Männer zutreffen, den realen und den fiktiven Christopher Isherwood.
"Paul warf den Kopf zurück und lachte schallend. 'Ach, Chrissi-Schätzchen! Wenn du wüsstest, wie komisch du bist! Du willst du es also probieren? Ein Mal? Eine Pfeife? Oder gleich ein Dutzend! Du bist wie ein Tourist, der glaubt, er könne Rom an einem Tag erkunden. Weißt du was, du bist ein Tourist, durch und durch. Ich wette, du verschickst Ansichtskarten mit "Nur zu Besuch" darauf. Das ist die Geschichte deines Lebens… Ich sage dir, was passiert, wenn du die Pfeife rauchst: Nichts! Es passiert gar nichts! Es ist völlig sinnlos, mit Drogen herumzuspielen, außer du willst in ihr Inneres vordringen, wirklich wissen, worum es dabei geht. Und dazu musst du süchtig werden. Gezielt. Ohne dich zu wehren. Ohne Angst zu haben. Ohne dir eine Frist zu setzen.'"
Mr. Laurence, Ambrose, Waldemar und Paul, mit den Namen dieser zentralen Figuren sind die vier Kapitel von "Nur zu Besuch" überschrieben. Und jeder der Männer scheint eine Facette des Erzählers aufzunehmen und zu verstärken, sein schriftstellerisches Talent, seine Homosexualität, sein politisches Interesse und seine charakterliche Ambivalenz. Kunstvoll und schonungslos erzählt Christopher Isherwood davon und selbst wenn man die reale Biografie des Schriftstellers kaum kennt, ist die fiktive so elegant und klug verfasst, dass es ein Vergnügen ist sie zu lesen.
Christopher Isherwood: "Nur zu Besuch"
Aus dem Englischen von Michael Kellner und Volker Oldenburg
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg. 448 Seiten, 29 Euro.