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"Cicero" Chefredakteur: 9/11-Mythos ist auch eine Lüge

Die Folge des Anschlags vom 11. September 2001 war ein "völlig ungerechtfertigter Krieg gegen den Irak mit über 200.000 Toten", erinnert "Cicero"-Chefredakteur Michael Naumann. Das Ausblenden einiger Aspekte der Folgen von 9/11 sei ein Teil der Erinnerungskultur der USA.

Michael Naumann im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann |
    Dirk-Oliver Heckmann: Es war ein Tag, der noch einmal die Emotionen aufsteigen ließ. Präsident Barack Obama erwies gemeinsam mit seiner Frau und dem Ehepaar Bush den Opfern der Anschläge vom 11. September seine Referenz, in New York, in Washington DC, im US-Bundesstaat Pennsylvania, und hielt zum Abschluss dann doch noch eine Rede.
    Darüber, wie die Amerikaner mit der Erinnerung an den 11. September umgehen, darüber sprechen wir jetzt mit Michael Naumann, ehemals Kulturstaatsminister in der Regierung Gerhard Schröder, derzeit Chefredakteur des Monatsmagazins "Cicero". Schönen guten Morgen, Herr Naumann.

    Michael Naumann: Ja guten Morgen.

    Heckmann: Herr Naumann, wenn Sie sich die Bilder von den Gedenkfeierlichkeiten in Erinnerung rufen gestern, ist der 11. September 2001 also mehr Geschichte, oder mehr Gegenwart?

    Naumann: Na ja, er ist das, was in Amerika immer schnell zusammengebastelt wird, wenn es Opfer zu beklagen gibt. Er ist ein Mythos geworden, und Mythos heißt eben nicht nur Erinnerungssage, sondern, um es klar zu sagen, auch Lüge. Für mich war es doch schon ziemlich schmerzhaft zu beobachten, auch übrigens in den eben vorgestellten Reden von Präsident Barack Obama, wie ein kleiner Sachverhalt ausgeblendet wurde, nämlich ein in Folge dieses Anschlages und durch diesen Anschlag völlig ungerechtfertigter Krieg gegen den Irak mit über 200.000 Toten, hauptsächlich Zivilisten, der die gesamte Region in eine, wie man sieht, weiter anhaltende Instabilität versetzt hat. Das war gewissermaßen Tabu in diesen Erinnerungsreden, und das wird nun aber wieder offenkundig werden. Sie erinnern sich: Die Vereinigten Staaten haben dann behauptet a.) Saddam Hussein hätte Massenvernichtungswaffen, und b.) er sei in diesen Anschlag involviert gewesen. Das hat sich dann sehr schnell als Lügengebäude, als klassisches, krasses Lügengebäude herausgestellt. Hintergrund waren die Versuche der Vereinigten Staaten, geopolitische Versuche, in der Region aus welchen Gründen aus immer einen Regimewechsel herbeizuführen in der Annahme, dass dann dort vielleicht demokratische Tendenzen entstünden. Die kamen aber zehn Jahre später erst. Kurzum: Das ist auch ein Teil der Erinnerungskultur, wenn Sie es so nennen wollen, in den Vereinigten Staaten, dass einige Aspekte einfach ausgeblendet werden, ...

    Heckmann: Und dadurch, dass diese Aspekte – Pardon, Herr Naumann – ausgeblendet werden, verlängert Präsident Obama de facto eine Lüge aus der Bush-Ära?

    Naumann: Ach nein. Ich glaube, man kennt ihn gut genug, um zu wissen, dass er diesen Krieg für einen großen Fehler hält. Man weiß allerdings auch, dass wenn sie erst einmal in ein Land der Größe und der Komplexität wie im Irak einmarschiert sind, dass sie dann nicht einfach einpacken können und gehen können, und dasselbe trifft auch auf Afghanistan zu. Das heißt, sein Versprechen, glaube ich, im Juli dieses Jahres abgezogen zu sein, ist schon wieder vergessen, das wird nicht möglich sein, weil die Grube gewissermaßen, die Präsident Bush, der dort still und trauernd ebenfalls bei den Festivitäten, den Erinnerungsmomenten anwesend war, weil diese Grube, die eben Bush gegraben hat und den Vereinigten Staaten selber gegraben hat, einfach zu tief ist, und wir sind mit drin.

    Heckmann: Obama hatte ja seinen Vorgänger George W. Bush eingeladen, an den Trauerfeierlichkeiten an seiner Seite sozusagen teilzunehmen. Was sagt Ihnen das Bild dieser beiden Präsidentenpaare nebeneinander?

    Naumann: Sicherlich ein asymmetrisches politisches ästhetisches Ereignis. Tatsache ist, dass mir immer wieder auffällt, dass bei Barack Obama ein starker Hang zur Herstellung von Konsens vorherrscht. Er möchte im Grunde genommen immer noch wie ein Sozial- und Quartierarbeiter in Chicago verfeindete Seiten zusammenbringen. Das scheint aber nicht möglich zu sein, wenn ich mir anschaue, wie die Tea Party hinter ihm her ist, wie sie seine Programme, die völlig rational und vernünftig sind für die Vereinigten Staaten, bekämpft, wie ein Kandidat in Texas gegen ihn antritt, der mehrfach damit gedroht hat, Texas aus dem Bund vom Verband der Vereinigten Staaten loszulösen – und dieser völlig verrückte Mann hat das ernst gemeint. Also in wenigen Worten: Obamas Versuche, gewissermaßen auch durch symbolische Gesten wie jetzt neben Bush stehend das Land zu vereinen, scheinen, in der Praxis, in der täglichen parlamentarischen Praxis nicht zu fruchten.

    Heckmann: Herr Naumann, Susan Sontag hatte gefordert, kurz nach den Anschlägen direkt, die Amerikaner müssten fragen, weshalb es zu diesen Anschlägen gekommen sei, und hat sich dafür massive Kritik anhören müssen. Tragen solche Feierlichkeiten, wie wir sie gestern erlebt haben, inklusive einer gewissen Heldenverehrung auch, die ja stattfindet, dazu bei, dass kritische Fragen nicht gestellt werden?

    Naumann: Nein, das glaube ich nicht, sondern ganz im Gegenteil. Die Literatur zu 9/11 in den Vereinigten Staaten füllt inzwischen schon große Bibliotheken. Schuldzuweisungen fliegen hin und her, auch Erklärungen, auch sozialpolitische, auch geopolitische, auch historische Erklärungen über die Radikalisierung des Islam sind zu haben. Also mit anderen Worten: Das krasse Gegenteil ist der Fall. Die Vereinigten Staaten, die akademische und intellektuelle und journalistische Klasse, wenn man sie so bezeichnen darf, hat sich der Ursachenforschung dieser Anschläge mit einer Intensität gewidmet, die beispielhaft ist.

    Heckmann: Glauben Sie, Herr Naumann, dass diese Heldenverehrung, die ich gerade angesprochen habe, diese Art und Weise, der Opfer zu gedenken in den USA, dass die Nation zusammenrückt, dass das auch etwas Therapeutisches haben kann und dass wir Deutschen davon möglicherweise etwas lernen können?

    Naumann: Also ich hoffe nicht, dass wir die Gelegenheit haben, Feuerwehrmänner, die in der Tat wirklich heldenhaft und heroisch bis in die 70. Stockwerke mit ihrer Ausrüstung hochgekeucht sind, verehren zu müssen. Gott bewahre uns davor und Gott bewahre die Feuerwehrleute davor. Das waren nun wirklich Helden. Und auch die Menschen, die den gerade noch davon gekommenen dort geholfen haben und sich diesem furchtbaren Staub und Dreck ausgesetzt haben, der offenkundig zu Krankheiten geführt hat. Nein! Ich glaube, das ist nicht unbedingt beispielgebend für uns. Ich glaube schon, dass wir mit unserer nüchternen Art und Weise, wie wir mit unserer Geschichte umgehen, nicht mehr sonderlich zur Heldenverehrung neigend, sehen wir von Beckenbauer ab, gut fahren. Wir sind eine nüchterne Nation geworden, und das ist in Ordnung.

    Heckmann: Der ehemalige Kulturstaatsminister Michael Naumann, jetzt Chefredakteur des "Cicero", hier im Gespräch im Deutschlandfunk. Herr Naumann, danke Ihnen für das Gespräch.

    Naumann: Gerne!

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