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Clara Immerwahr
Selbstmord aus Protest gegen chemische Waffen

Am 2. Mai 1915 nimmt sich die Chemikerin und Pazifistin Clara Immerwahr das Leben. Sie war die erste Frau des späteren Nobelpreisträgers der Chemie Fritz Haber. Immerwahr erschoss sich im Ersten Weltkrieg mit der Dienstwaffe ihres Mannes, als dieser nach dem verheerenden Giftgaseinsatz in Ypern zum Hauptmann befördert wurde, und wurde danach für verrückt erklärt.

Von Gerit von Leitner | 02.05.2015
    Der Gedenkstein von Clara Immerwahr (1870-1915) steht am 23.04.2015 im Garten des Fritz-Haber-Instituts der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin-Dahlem
    Der Gedenkstein von Clara Immerwahr (1870-1915) steht im Garten des Fritz-Haber-Instituts der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin-Dahlem (dpa / picture alliance / Rainer Jensen)
    "Der zwölfjährige Hermann hatte als einziger den Schuss im Morgengrauen gehört, der aus der Dienstwaffe seines Vaters von der Mutter genutzt wurde, um sich zu töten. Er weckte den Vater, der sich nachts mit schweren Schlafmitteln zu betäuben pflegte. Der Vater ließ sich nicht abhalten, am nächsten Tage an die Ostfront zu fahren, um dort einen noch größeren Giftgaseinsatz vorzubereiten."
    Der Physiologe und Fritz-Haber-Forscher Adolf Henning Frucht über jenen 2. Mai 1915, an dem sich die Chemikerin Clara Immerwahr im Garten ihrer Berliner Villa das Leben nahm. Ein Akt der Verzweiflung aus Protest gegen die damals beginnende chemische Massenvernichtung, die ihr Mann, der Chemiker Fritz Haber, maßgeblich vorantrieb.
    Clara Immerwahr wurde 1870 als jüngste Tochter eines jüdischen Chemikers in der Nähe von Breslau geboren. Nach zehnjährigem Kampf um eine behördliche Sondergenehmigung bestand sie das Abitur und konnte - allen männlichen Anfeindungen zum Trotz - ein reguläres Studium der Experimentalphysik an der Breslauer Universität aufnehmen. Im März 1900 schreibt sie von der Bergakademie in Clausthal am Harz, wo sie für ihre Doktorarbeit recherchiert, selbstbewusst an ihren Doktorvater Professor Richard Abegg über Gaussche Potentialmessungen: "Ich bitte Herrn Professor, mir nicht böse zu sein, wenn ich Herrn Professor aufgrund meiner Erfahrungen warne, sich auf Gauss’ Messungen zu verlassen."
    In ihrer Doktorarbeit "Beiträge zur Löslichkeitsbestimmung schwerlöslicher Salze des Quecksilbers, Kupfers, Bleis, Cadmiums und Zinks" wird Clara Immerwahr zeigen, wie man Veränderungen der elektrischen Energie in Metallionen präzise in den Salzen messen kann.
    "Provinzialzeitung Breslau 22. Dezember 1900.
    Ein zahlreiches, schaulustiges Publikum hatte sich eingefunden, um mit anzusehen, wie der erste weibliche Doktor an unserer Universität sein wohlverdientes Doktordiplom erhielt."
    Mit 30 Jahren hat Clara Immerwahr den erstrebten akademischen Grad erreicht und erhält - für eine Frau damals unerhört - eine unbezahlte Assistentenstelle an der Universität Breslau. 1901 heiratet sie den Chemiker Fritz Haber, damals Dozent an der Technischen Hochschule Karlsruhe. Sie hofft, Ehe und Forschung miteinander verbinden zu können. "Es war stets meine Auffassung vom Leben, dass es nur dann wert gewesen sei, gelebt worden zu sein, wenn man alle seine Fähigkeiten zur Höhe entwickelt und möglichst alles durchlebt habe, was ein Menschenleben an Erlebnissen bieten kann."
    Am 1. Juni 1902 kommt nach schwerer Schwangerschaft Sohn Hermann zur Welt. "Lieber noch 10 Doktorarbeiten", verkündet sie. Clara versucht, eigene Wege zu gehen. "Ich halte vor circa 100 Hörerinnen sechs Vorträge über Chemie und Physik im Haushalt."
    Während Fritz Haber zum Ordinarius aufsteigt und mit großem Mitarbeiterstab an der Ammoniaksynthese arbeiten kann, zieht Clara ein trauriges Fazit ihrer Ehe. "Was Fritz in diesen acht Jahren gewonnen hat, das - und mehr - habe ich verloren, und was von mir eben übrig ist, erfüllt mich selbst mit der tiefsten Unzufriedenheit.“
    Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs stellt sich Professor Fritz Haber, seit 1911 Direktor des Instituts für Physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin-Dahlem, in großem Patriotismus in den Dienst des Vaterlands. Seine Frau Clara nimmt deutlich Stellung und bezeichnet das bedingungslose Ausliefern hochgiftiger chemischer Substanzen an das Militär als eine "Perversion der Wissenschaft". Im Januar begleitet sie ihren Mann nach Köln, wo nahe der Westfront freiwillige Soldaten, meist Abiturienten, für den Gaskrieg ausgebildet werden. In Anwesenheit der Vertreter von Wissenschaft, Industrie und Militär wendet die Chemikerin sich scharf gegen die neuen Kampfstoffe.
    Jahrzehnte lang wurde die erste Frau des Nobelpreisträgers für verrückt erklärt, ihre Existenz verschwiegen, der Grund ihres Todes ignoriert. Erklärende Abschiedsbriefe und Fotos von ihr wurden vernichtet. Ihre Methode zur Messung der Löslichkeiten aber wird noch heute an den Universitäten gelehrt und eignet sich unter anderem zur Messung der wachsenden Verunreinigung der Meere durch tonnenweise versenkte chemische Kampfstoffe.