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Claude Simon: "Das Pferd"
Von der Agonie der Soldaten

Der Erzähler und sein Regiment ziehen in den Zweiten Weltkrieg. Sie frieren, sind erschöpft, Langeweile und Angst quälen sie und die Pferde, auf denen sie reiten. Claude Simon beschreibt in seiner Erzählung "Das Pferd" einen Moment der Wahrheit, der sich im Auge eines sterbenden Pferdes spiegelt.

Von Dina Netz | 11.04.2017
    Undatierte Aufnahme des Literatur-Nobel-Preisträgers (1985) Claude Simon.
    Claude Simon: Nun ist seine Erzählung "Das Pferd" auf Deutsch erschienen. (picture alliance /epa Andersen )
    Der Erzähler und sein Regiment ziehen in den Zweiten Weltkrieg. Auf erschöpften Pferden reiten die erschöpften französischen Soldaten Richtung Osten, Richtung Berlin. Bisher haben sie es allerdings nur bis Flandern geschafft. Der Erzähler beschreibt den stumpfen Kriegsalltag aus Kälte, Hunger, Durst, aus Langeweile, Angst und Wahnsinn. Und die Pferde, die die Soldaten tragen, erleben diesen Alltag mit, nicht nur das: Pferde und Soldaten sind im Grunde eins:
    "Die Pferde teilen mit den Soldaten die Fähigkeit, in Bewegung einzunicken, zu schlafen und dabei weiterzugehen, erschöpft, und dennoch im Schlaf mechanisch ihre lahmen Glieder zu bewegen -, verstört (die Männer), deutlich, unermesslich, quälend jenes Rumoren, jenes Knistern wiederfindend, das zu hören sie in Wirklichkeit nicht aufgehört hatten, es auch in ihrem Schlaf wie ein beharrliches Hintergrundgeräusch zu vernehmen: das beunruhigende, das ewige und barbarische Lärmen der marschierenden Armeen."
    Claude Simon sieht nicht nur Parallelen zwischen Soldat und Pferd, er geht weiter: Das Tier ist bei ihm Symbol des menschlichen Leidens.
    Der Mensch kann Sprache und Verstand einsetzen, um seine Angst vor dem Tod zu unterdrücken, sie mit Grog wegtrinken, sie mit Ironie weglachen – wie es Maurice tut, der kranke Kamerad und Freund des Erzählers, der sich schwer erkältet und fiebernd nur mit Mühe auf den Beinen hält.
    Schnodderig, pointierte Dialoge
    Immer wieder flicht Simon schnodderige, pointierte Dialoge ein, mit denen sich die Soldaten das eigene Elend vom Leib halten wollen. Aber es gelingt ihnen nicht, auf ihre Wortwechsel lässt Simon wieder lange philosophische Betrachtungen über das Wesen von Mensch und Tier folgen. Diese sprachlichen Wechsel geben dem Text einen ganz eigenen, dynamischen Rhythmus.
    Das Tier ist unverstellt, wahr, es ist die reine Natur. Die Grausamkeit der Kriegserfahrung kann Simon am besten im Auge eines sterbenden Pferdes spiegeln. Nicht umsonst heißt der Text "Das Pferd" und nicht "Der Krieg" oder "Die Soldaten".
    "Wir betrachteten das immer noch hinten im Stall auf der Seite liegende Pferd. Man hatte ihm eine Decke übergeworfen. Und es ragten nur seine Insektenbeine heraus, sein schrecklich langer Hals, an dessen Ende der Kopf hing, den auch nur zu heben es keine Kraft mehr hatte, knochig, zu groß mit seinen eingefallenen Backen, seinem nassen Fell, seinen langen gelben von den aufgeworfenen Lippen entblößten Zähne. Nur das Auge schien noch zu leben, riesig, schmerzerfüllt, schrecklich, und von der glänzenden gewölbten Oberfläche widergespiegelt konnte ich uns sehen, unsere drei im Halbkreis verzerrten Silhouetten."
    Im Auge spiegelt sich der eigene drohende Tod
    Im Auge des Pferdes sieht der Erzähler nicht nur seine Silhouette - darin spiegeln sich auch die eigene Agonie und der eigene drohende Tod.
    Das Pferd ist nicht das einzige Tier, dessen Simon sich bedient, um dem Beschriebenen Tiefe und Authentizität zu verleihen. Überhaupt nutzt er die Natur als Bezugs- und Assoziationsraum. Er vergleicht zum Beispiel das monotone Getrappel der Pferde mit dem Geräusch Tausender von Insekten. Eine Frau ist "trächtig wie eine Kuh". Ein Knecht erinnert ihn an einen struppigen Bären mit den Schultern eines Gorillas. Und die Natur, das ist dem Erzähler völlig klar, ist das, was bleiben wird, wenn die Menschen, die sich jetzt so wichtig nehmen, mit ihrem Krieg eines Tages abgezogen sein werden:
    "Durch das Fenster konnte ich über dem violetten Dach der Scheune gegenüber, sich nach und nach verdunkelnd, sich in Schatten und Geheimnis hüllend, die große Fichte mit ihren hängenden altersschwachen Zweigen sehen, ungewöhnlich, schwarz, wie ein Relikt der Vorgeschichte, Überlebende der versunkenen Wälder, der Sintfluten, deren sich zurückziehende Wasser sie so zurückgelassen hätten, tintig, finster, mit lange Bärten aus Moos und Algen, die langsam abtropfen, sich biegend unter dem Gewicht ihrer antiken Zweige."
    Claude Simons Erzählung, die eine Art Vorübung für seinen großen Antikriegsroman "Die Straße in Flandern" war, ist natürlich zuallererst ein Dokument des Krieges, eine Verarbeitung seiner eigenen traumatischen Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg. Und ein Versuch, das Grauen literarisch zu bannen.
    Zugleich ist "Das Pferd" aber auch eine formvollendete Verneigung vor der Natur, vor ihrer Wahrhaftigkeit und Größe. Wenn der Mensch öfter im Auge eines sterbenden Pferdes seine eigene Zukunft läse, würde er vielleicht nicht so leicht wieder Kriege anzetteln.
    Claude Simon: "Das Pferd"
    Berenberg Verlag 2017, ISBN 978-3-946334-17-0, Preis: 22,00 Euro