Donnerstag, 25. April 2024

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Claudia Roth
"Dieses Deutschland ist leicht entflammbar"

Die Grünen-Politikerin Claudia Roth hat davor gewarnt, Integration mit der "Sanktionskeule" zu erzwingen. Flüchtlinge dürften nicht unter Generalverdacht gestellt werden, dass sie sich nicht an Gesetze halten wollten, sagte die Bundestagsvizepräsidentin im DLF. Größere Sorgen machten ihr die Verfassungsfeinde in Deutschland.

Claudia Roth im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 12.12.2015
    Die Grünen-Politikerin Claudia Roth.
    Die Grünen-Politikerin Claudia Roth. (Imago / Felix Abraham)
    Wer hier lebe, habe die Verfassung zu respektieren, sagte Claudia Roth im Deutschlandfunk. "Mit Verlaub, das gilt aber für alle". Sie äußerte sich besorgt über die jüngsten Übergriffe auf Flüchtlinge. Deutschland sei leicht entflammbar. Vor allem der Angriff von Kindern auf Flüchtlingskinder in einer Schule in Wurzen habe eine neue Dimension.
    Die Grünen-Politikerin wies die Forderung der rheinland-pfälzischen CDU-Fraktionschefin Julia Klöckner nach einem Integrationspflichtgesetz zurück. Es gebe bereits Integrationskurse. Diese müsse man so schnell wie möglich anbieten, und zwar auch für Asylbewerber. Außerdem müssten Asyl-Anträge schneller bearbeitet und der Arbeitsmarkt geöffnet werden, anstatt immer wieder die "Sanktionskeule" zu schwingen.
    Roth lehnte auch einen Vorschlag des Migrationsforschers Klaus J. Bade ab. Dieser sei "das Gegenteil von Willkommenskultur". Zudem sei das Grundrecht auf Asyl nicht konditionalisiert. Bade hatte gestern im Deutschlandfunk gefordert, dass alle Ankommenden ein ein- bis zweiseitiges Dokument in ihrer Sprache erhalten sollten, in dem die Grundzüge der Verfassung aufgelistet seien. Wer diese Grundwerte nicht akzeptiere und trotzdem im Rahmen des Grundgesetzes Schutz suche, dem müsse man schnell wieder den Weg zur Grenze zeigen.

    Das Interview in voller Länge:
    Jürgen Zurheide: Die CDU streitet über Flüchtlinge – wir haben es in dieser Sendung schon thematisiert –, da geht es um die Frage wie viel oder genau genommen wie kann man begrenzen. Wir wollen heute Morgen die Frage bewusst mal etwas anders stellen. Wir wollen fragen: Wie gehen wir denn mit denen um, die hier sind? Was müssen, was dürfen wir verlangen von jenen Menschen, die zu uns kommen, dürfen wir überhaupt etwas verlangen?
    Klaus Bade, der Migrationsforscher, hat gestern in diesem Programm einen bemerkenswerten Satz gesagt, und den wollen wir uns anhören, bevor wir darüber reden.
    (Klaus Bade: Alle, die ins Land kommen, müssen in ihrer Sprache, ob das nun Urdu, oder Farsi oder was das auch immer ist, in ihrer Sprache einen ein bis zwei Seiten langen Text haben, in dem in menschenfreundlicher Prosa die Grundwerte unserer Verfassung, was wichtig, was schön, was notwendig und richtig ist in dieser Verfassung aufgeführt sind. Und es muss ein Dolmetscher dabei sein, damit man auch wirklich fragen kann, ob das verstanden worden ist, und der letzte Satz muss dem Sinn nach heißen: Wer diese Grundwerte der Verfassung nicht akzeptiert und gleichzeitig Schutz im Rahmen des Grundgesetzes in dieser Verfassung sozusagen sucht, der lebt in einem Widerspruch. Wer diese Grundwerte nicht akzeptiert, dem muss man ganz schnell den Weg zur Grenze wieder zeigen. Es geht nicht, dass man hier das Grundrecht bricht in seinen Werten oder sich darüber lächerlich macht und gleichzeitig seinen Schutz beanspruchen will. Das gilt nicht nur für Muslime, das gilt für alle, die in dieses Land kommen. Das wäre zum Beispiel eine Innovation, wenn dies aus dieser Sendung in die Politik überspringen würde, dann wären wir schon einen Schritt weiter.)
    Mitgehört hat jetzt Claudia Roth von den Grünen, die ich zunächst einmal am Telefon begrüße. Guten Morgen, Frau Roth!
    Claudia Roth: Schönen guten Morgen, Herr Zurheide!
    Zurheide: Frau Roth, stimmen Sie Klaus Bade zu?
    "Es geht nicht um eine Einbürgerung, es geht erst mal um Schutz"
    Roth: Nein, ich stimme ihm nicht zu, und ich glaube, er hat sich wirklich kräftig vergaloppiert, denn wenn er über Grundrechte redet und von anderen den Grundrechtrespekt einfordert, dann müsste er wissen, dass das Grundrecht auf Asyl, der Artikel 16, nicht konditionalisiert ist. Also er kann nicht sagen, jemand, der das Asylgrundrecht für sich in Anspruch nehmen will, an der Grenze zu uns kommt, oder die Genfer Flüchtlingskonvention, muss dann sofort eine Art Vertrag unterschreiben, eine Garantie abgeben. Das Grundrecht auf Asyl ist nicht konditionalisiert. Außerdem, ich würde ihm wirklich mal empfehlen, dann an die Grenze zu gehen, an die Orte, in Passau, an anderen Orten, mit den Menschen zu reden, die der Hölle entkommen sind, die Sicherheit, die Frieden, die eine neue Zukunft suchen. Die sofort unter Generalverdacht zu stellen, sie würden sich nicht an Gesetze halten wollen, das entspricht wirklich nicht ihrer Situation. Und das ist das Gegenteil für mich von einer, ja, wirklichen Willkommenskultur gegenüber Flüchtlingen. Wir reden ja nicht von einem Einbürgerungstest, also da spricht mit Herrn Bade der Migrationsforscher. Es geht hier nicht um eine Einbürgerung, sondern es geht erst mal um den allerersten Schutz für Menschen, die zu uns kommen.
    Zurheide: Wenn wir es jetzt noch mal versuchen abzuschichten: Bei Menschen, die zu uns kommen, auch möglicherweise dauerhaft hier leben wollen – ich hab's vorhin schon mal gesagt –, müssen wir was verlangen, dürfen wir überhaupt etwas verlangen, und was wäre das aus Ihrer Sicht?
    Roth: Wir müssen vor allem von uns was verlangen, von unserer Gesellschaft. Also man kann nicht sagen, wir haben die größte Willkommenskultur, gleichzeitig schaffen wir aber nicht Rahmenbedingungen, in denen Integration möglich ist. Integration hat immer zwei Seiten. Die Menschen, die zu uns kommen, ja, die sollen integrationsbereit sein, wenn sie bei uns bleiben wollen, aber die Gesellschaft muss auch integrationsfähig sein. Es gibt zum Beispiel seit über zehn Jahren im Rahmen des Zuwanderungsgesetzes, das Rot-Grün damals auf den Weg gebracht hat, Integrationskurse, die Integrationspflicht – da geht es um Deutschkurse, da geht es um Kenntnis der Rechts- und Gesellschaftsordnung. Richtig, aber die soll man doch bitte schön endlich öffnen. Die sind nämlich überhaupt nicht geöffnet bei uns für Asylbewerber, für Menschen mit Duldung. Die soll man öffnen, statt immer neue Ideen, neue Sanktionen durchs Land zu treiben. Nur um die zu öffnen, braucht es natürlich Rahmenbedingungen, auch finanzielle. Es gibt sehr, sehr, sehr viel mehr Bedarf, als tatsächlich Kurse da sind.
    "Verfassungsfeinde, die wir in unserem Land haben"
    Zurheide: Es geht um den Kanon der Grundwerte – ich sag das, ohne jetzt Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben: repräsentative Demokratie, Gewaltenteilung, auch Gleichberechtigung der Frauen. Das sind einige Elemente, wir könnten wahrscheinlich andere hinzufügen. Da sind Sie erst mal einverstanden, dass es nicht geht – ich sage ein plakatives Beispiel –, dass wir hier nach Scharia-Recht Dinge handhaben, das geht nicht. Gibt's für Sie auch so Punkte, wo Sie als Claudia Roth sagen, no go?
    Roth: Ja, natürlich. Wer mit uns hier in unserem Land lebt, hat unsere Verfassung zu respektieren. Mit Verlaub: Das gilt aber für alle. Ich meine, in unserer Verfassung – ich gebe Ihnen mal ein Beispiel –, da gibt es den Artikel 6, das ist das Recht auf Familie, Schutz der Familie. Dieses Recht auf Familie wird gerade in der CDU, CSU vor allem, infrage gestellt. In unserem Grundgesetz steht nicht Recht auf deutsche Familie, steht auch nicht, die Menschenwürde, die Würde gilt nur für den Deutschen. Da hat auch die Politik einigen Nachholbedarf. Aber ich mache mir vor allem Sorgen, Herr Zurheide, vor allem Sorgen um Verfassungsfeinde, die wir in unserem Land haben. Dieses Deutschland ist leicht entflammbar. Wir haben in den letzten Tagen wirklich schreckliche Angriffe erlebt, sei es in Jahnsdorf, wo ein Bus mit 30 Geflüchteten angegriffen worden ist, sei es in Wurzen – und das ist wirklich eine neue Dimension –, wo in einer Schule Kinder Flüchtlingskinder angegriffen haben. Also da haben wir einen wirklichen Bedarf, Verfassungskunde zu lehren, was Gewaltfreiheit bedeutet, was Offenheit bedeutet, was das Recht bedeutet in unserem Land. Und wir haben Pegida, wir haben AfD, wir haben die Hetzer, wir haben 817 Angriffe allein in diesem Jahr auf Flüchtlinge oder Unterkünfte, also wir haben ein Problem – aber bitte nicht den Generalverdacht gegen diejenigen, die der Hölle aus Syrien, aus Afghanistan oder dem Irak entkommen sind.
    "Integrationskurse so schnell wie möglich anbieten"
    Zurheide: Die entscheidende Frage, Frau Roth, ist, was folgt daraus. Sie haben zutreffend beschrieben, es gibt auch diese Probleme in Deutschland. Bei Bade, wenn wir das zu Ende denken, da haben Sie klar gesagt, da gehen Sie nicht mit, heißt es, wer das nicht akzeptiert, muss wieder an die Grenze zurückgeführt werden, auch wenn er das mit menschenfreundlicher Prosa sagt. Aber was ist mit denen, die hier sind und die, ja, die kann man ... die sind hier, Punkt. Was machen Sie?
    Roth: Also noch mal: Diese Integrationskurse, die es schon gibt, die braucht Frau Klöckner gar nicht mit einem Integrationspflichtgesetz noch mal neu aufzuwärmen und weiter zu sanktionieren, nein, Integrationskurse so schnell wie möglich anbieten, auch und vor allem für Asylbewerber, die bei uns sind. Das heißt, so schnell wie möglich die Anträge bearbeiten – es ist ein Riesenproblem, dass Hunderttausende Anträge nicht bearbeitet sind –, viel mehr investieren, Geld investieren in diese Kurse, Deutsch lernen, Deutsch lernen, Deutsch lernen, die Schulen ausstatten, damit die Schulen tatsächlich nicht überfordert werden, Ausbildung ermöglichen, und zwar nicht nur ein Jahr lang und dann wird wieder überprüft, sondern drei Jahre Ausbildung und dann zwei Jahre Arbeitsgarantie, Öffnung der Arbeit ermöglichen, Wohnungsräume zur Verfügung stellen. All das muss getan werden, statt immer wieder neue Sanktionskeulen zu schwingen. Also, Integration ausbauen statt Sanktionskeulen zu schwingen und für Integration werben. Integration braucht Vertrauen, braucht Verständnis, braucht die Öffnung zur Teilhabe, und ich glaube, das wäre jetzt das Allerwichtigste.
    Zurheide: Und was macht Frau Roth mit jenen Männern, die dann sagen, meine Frau geht da aber nicht hin, weil ich weder will, dass die Deutsch spricht, geschweige denn, dass sie sich offen hier in der Gesellschaft bewegt?
    "Es gibt schon Sanktionsmöglichkeiten"
    Roth: Na, die kriegen schon was zu hören. Noch mal, also ...
    Zurheide: Nur was zu hören oder andere Sanktionen?
    Roth: Nee, nee, nee ... Nein, nein, nein ... Diese Integrationskurse, die es seit über zehn Jahren für Zuwanderer, für Einwanderung gibt, die sehen auch tatsächlich jetzt schon Sanktionsmöglichkeiten vor für diejenigen, die diese Kurse nicht besuchen. Das heißt, wenn der Mann verhindert, dass seine Frau an solchen Kursen teilnimmt, dann hat er natürlich mit Sanktionen zu rechnen. Aber erst mal brauchen wir flächendeckend Angebote, die mit Vertrauen ausgestattet sind. Aber wissen Sie, wenn ausgerechnet die CDU sich jetzt in der Hausordnung, die sie ja vorschreiben will – Respekt vor Frauen, vor Arbeitgeberinnen, Religionsfreiheit, Toleranz zur sexuellen Orientierung –, da fällt mir doch einiges ein, wo es auch noch einen Nachholbedarf gibt bei der Union, denn wir haben immer noch nicht gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Wir haben immer und überall Debatten, ob überhaupt Moscheen gebaut werden dürfen, und bei der sexuellen Orientierung haben wir immer noch nicht gleiche Rechte, wirklich gleiche Rechte für Schwule, Lesben und Transgender. Also bitte bei sich selber anfangen mit der Verfassungstreue, dann kann man auch glaubwürdig von allen, die hier leben, genau das einfordern.
    Zurheide: Das war Claudia Roth von den Grünen zum Thema Integration. Frau Roth, ich bedanke mich heute Morgen für das Gespräch, auf Wiederhören!
    Roth: Ich danke Ihnen, auf Wiederhören!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.