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Claudia Roth
"Ich warne davor, Flüchtlinge in gute und schlechte zu sortieren"

Die Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) hat das Maßnahmenpaket der Bundesregierung zur Asylpolitik kritisiert. Die Verschärfungen und Leistungskürzungen seien symbolische Politik, sagte sie im DLF. Sie warnte davor, durch die Benennung von sicheren Herkunftsländern ein "Zweiklassensystem" unter den Flüchtlingen einzuführen.

Claudia Roth im Gespräch mit Sandra Schulz | 01.10.2015
    Die Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne) bei einer Pressekonferenz
    Bundestags-Vizepräsidentin Claudia Roth. (AFP / Odd Andersen)
    Die Kommunen und Länder würden eine dynamische, strukturelle Unterstützung pro Flüchtling benötigen, sagte Roth im DLF. Finanzielle Unterstützung für unbegleitete Minderjährige und einen deutlich erleichterten Arbeitszugang begrüßte sie. Die Verschärfungen und Leistungskürzungen, wie sie im Gesetzentwurf vorgesehen, seien jedoch "zum Teil symbolische Politik", so beispielsweise im Hinblick auf die Einstufung von sicheren Herkunftsländern.
    "Wir dürfen als Staat nicht unterstellen, dass ein Land sicher ist", betonte die Grünen-Politikerin. Dadurch werde das individuelle Recht, Asyl zu beantragen, eingeschränkt. Nun müsse man auch pragmatisch sein, wenn es um den Schutz des deutschen Rechtsstaates und Asylrechts gehe. Roth warnte davor, dass durch die Benennung von sicheren Herkunftsländern ein Zweiklassensystem von Flüchtlingen hergestellt werde.

    Das Interview in voller Länge:
    Sandra Schulz: Bis zu 10.000 Menschen erreichen täglich Deutschland. Bayern meldete allein im September 170.000 Flüchtlinge. Aus Sicht des bayerischen Ministerpräsidenten Seehofer (CSU) ist die Situation vollständig aus den Fugen geraten, so hat er es gesagt. Die Große Koalition in Berlin, die will jetzt gegensteuern, braucht im Bundesrat aber auch die Grünen. Das Asylpaket ist heute in erster Lesung im Bundestag.
    Am Telefon ist jetzt die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Claudia Roth von Bündnis 90/Die Grünen. Guten Morgen!
    Claudia Roth: Schönen guten Morgen, Frau Schulz.
    Schulz: Frau Roth, wie wird es laufen? Die Große Koalition verschärft das Asylrecht und die Grünen machen mit. Richtig?
    Roth: Nein, so einfach nicht. Ich stimme Herrn Oppermann zu, ich stimme Herrn Kauder zu, dass alle zusammenarbeiten müssen. Ich stimme vor allem der Kanzlerin zu, wenn sie sagt, wir müssen das schaffen, wir können das schaffen. Aber es geht ja darum, was wird genau beschlossen. Ich glaube, auf der einen Seite ist es absolut notwendig, gut und überfällig, dass die Kommunen entlastet werden. Sie brauchen eine finanzielle Unterstützung. Die Länder brauchen diese Unterstützung, eine dynamische, eine strukturelle Unterstützung pro Flüchtling, die die Länder bekommen vom Bund und die dann von den Ländern an die Kommunen, die wirklich Not haben, jetzt weitergereicht werden. Es braucht eine Unterstützung für die minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge, das ist richtig, und es braucht einen deutlich erleichterten Arbeitszugang. Da stimme ich zu. Aber ich sehe sehr, sehr, sehr kritisch die Verschärfungen und die Leistungskürzungen. Das ist zum Teil wirklich auch symbolische Politik. Schauen Sie, wenn Herr Kauder sagt, sichere Herkunftsländer. Der Kosovo soll jetzt zum sicheren Herkunftsland gemacht werden oder benannt werden. Gleichzeitig schicken wir Soldaten in den Kosovo, weil die Lage dort nicht sicher ist. Das stimmt vorne und hinten nicht zusammen und ich glaube, wir dürfen nicht unterstellen als Staat, dass ein Land sicher ist, und dadurch Einschränkungen für das individuelle Recht jedes Einzelnen machen, der für sich das Asyl beantragen können muss. Ob er es dann bekommt, ist ja eine andere Frage.
    Auf Integration setzen - aber gleichzeitig unseren Rechtsstaat bewahren
    Schulz: Aber warum machen die Grünen denn dann da im Bundesrat mit? Vielleicht, weil die Kollegen aus den Ländern doch ein bisschen besser wissen, wie wichtig das Geld in den Ländern gebraucht wird, das ja auch verknüpft ist damit?
    Roth: Es geht nicht um besser wissen, dass sie es besser wissen, oder dass sie gar pragmatischer wären, sondern noch einmal: Schauen Sie sich bitte an, wie die Situation in den Ländern, wie die Situation in den Kommunen ist. Tatsächlich geht es jetzt um die Notwendigkeit - der Winter kommt - der Unterbringung. Es geht um Integration. Es geht um viel, viel, viel Herausforderungen, die geleistet werden können, und da spielt natürlich die finanzielle Unterstützung eine ganz große Rolle. Ich verstehe das, ich habe ein großes Verständnis für die Kommunen und für die Länder. Aber es geht auch darum - und das ist die Aufgabe jetzt auf Bundesebene -, dass wir pragmatisch sind, wenn es um den Schutz unseres Rechtsstaats geht, wenn es um den Schutz unseres Asylrechts geht, und ich glaube, es ist nicht gut, wenn Zwei-Klassen-Flüchtlinge erklärt werden, wenn wir das, was wir doch erreicht hatten, wieder zurückholen, nämlich die Möglichkeit, Arbeit zu bekommen, oder die Residenzpflicht aufzuheben, wenn wir jetzt sagen, Menschen müssen sechs Monate in Erstaufnahmeeinrichtungen belassen werden, oder wenn gesagt wird, jetzt werden wieder Sachleistungen verteilt. Das unterstellt ja, dass Menschen nach Deutschland kommen aus Syrien, aus dem Irak, aus Afghanistan, wo es überall lichterloh brennt, dass sie nur kommen, weil es hier 160, 163 Euro im Monat gibt. Ich glaube, wir kommen nicht voran mit einer symbolischen Politik, sondern wir sollten alles dafür tun, die Kommunen unterstützen, jetzt auf Integration setzen, aber gleichzeitig wissen, dass wir unseren Rechtsstaat bewahren müssen, denn das ist etwas, was uns sehr reich macht.
    Schulz: Aber dann ist die Arbeitsteilung, das habe ich jetzt richtig verstanden, Sie als Grüne kritisieren es im Bundestag und im Bundesrat, um das noch mal verstanden zu haben, da machen Sie aber mit, weil da die Kritik dann gar nicht mehr so schwer wiegt?
    Roth: Weil dort die Not so groß ist, dass die Länder und die Kommunen endlich entlastet werden vom Bund! Ich meine, der Bund hat sich sehr, sehr lange ein Stück weit vom Acker gemacht und hat die Länder...
    "Ich warne davor, dass die Regierung weiter draufsattelt"
    Schulz: Sind die Grünen denn da käuflich in den Ländern?
    Roth: Es geht nicht um käuflich. Es geht darum, dass jetzt dringend, dringend, dringend die Kommunen unterstützt werden, dringend unterstützt werden, denn in der Tat, die Herausforderung ist sehr groß, und schauen Sie sich an, wie prekär die Unterbringungssituation ist. Wir brauchen auch Schutz vor Obdachlosigkeit. Wir brauchen Wohnungen, die gebaut werden müssen. Wir brauchen Container. Wir brauchen mittel- und langfristige Integrationsleistungen. Noch einmal: Ich weiß gar nicht, wie das Paket jetzt im Einzelnen aussieht. Das muss jetzt überprüft werden. Ich warne davor, dass die Regierung weiter draufsattelt. Die Forderungen aus Bayern, jetzt direkt an den Grenzen sozusagen Verfahren durchführen zu wollen, da frage ich mich ernsthaft, wie soll das rechtsstaatlich möglich sein. Also wir schauen uns jetzt das Paket ganz genau an. Wir überprüfen und wir wollen dann auch differenziert abstimmen können, ja zu einer finanziellen Entlastung der Kommunen, aber für mich zum Beispiel nein zu einer Ausweitung des Konzepts der sicheren Herkunftsstaaten, was eine Verschärfung und eine Schwächung des Asylrechts bedeutet.
    Schulz: Aber wenn die Lage so dramatisch ist in den Kommunen oder auch in Ihrem Wahlkreis Augsburg zum Beispiel in Bayern, warum ist es dann falsch zu sagen, die Menschen, die herkommen, die aber quasi null Chance auf Asyl haben, die null Chance darauf haben, hier bleiben zu dürfen und Asyl zu kriegen, die müssen einfach schneller wieder gehen, was im Falle von Kosovo und Albanien ja stimmt, weil die Anerkennungsquote da bei, glaube ich, rund 0,3 bis ein oder zwei Prozent liegt. Was ist daran denn falsch?
    Roth: Null Chance stimmt nicht und selbst wenn es bei einem Prozent liegt, dann sind es Menschen, die diesen Anspruch rechtsstaatlich für sich in Anspruch nehmen müssen. Ich warne davor, dass wir dieses Zwei-Klassen-System bekommen, die guten und die schlechten Flüchtlinge. Ja, ich gebe Ihnen völlig recht, wir brauchen zügige Verfahren. Es ist ein Unding, dass eine viertel Million, 250.000 Verfahren immer noch nicht bearbeitet sind. Dann frage ich mich aber, warum kann man nicht Altfall-Regelungen machen. Warum kann man nicht ganze Gruppen rausnehmen und sagen, wir machen jetzt nicht ein langes und ein aufwendiges Verfahren, beispielsweise für Menschen, die aus Syrien kommen. Warum macht man ein Widerrufsverfahren? Stellen Sie sich vor, anerkannte Asylbewerber müssen nach drei Jahren noch mal überprüft werden. Also da braucht es tatsächlich eine zügige Bearbeitung, aber bitte nicht ein Zwei-Klassen-System von guten und von schlechten Menschen. Ich würde jedem empfehlen, sich mal nach Belgrad zu begeben und zu schauen, wie die Roma beispielsweise als Gruppe einer gruppenspezifischen Verfolgung ausgesetzt sind, und da dürfen wir nicht anfangen, in gut und in schlecht zu sortieren.
    "Ich würde mir ein Einwanderungsgesetz wünschen"
    Schulz: Und genau da verstehe ich Ihre Kritik nicht, denn an der Sache, an der Einzelfallprüfung wird sich ja gar nichts ändern. Das ist ja eigentlich nur eine Umetikettierung. Warum ist das für Sie so ein Aufreger?
    Roth: Nein, das ist nicht eine Umetikettierung. So wie es aussieht, soll es eine große unterschiedliche Behandlung geben von Menschen, die aus sicheren Drittstaaten kommen, die zum Beispiel definitiv in Erstaufnahmeeinrichtungen bleiben müssen, sechs Monate, mindestens sechs Monate, wenn nicht länger, die einen nicht gleichberechtigten Zugang zu einem Rechtsstaatsverfahren haben. Man unterstellt ihnen per se, dass sie keine Möglichkeit haben, das Asylrecht für sich in Anspruch zu nehmen. Ich würde mir wünschen, was richtig ist, dass man diesen Arbeitszugang schafft, dass wir endlich ein Einwanderungsgesetz bekommen. Schauen Sie, das würden wir haben. Dann wäre der ganze Dschungel, dieses ganze Labyrinth, wie kann ich hier in Arbeit kommen, erleichtert. Ja, es gibt Erleichterungen, aber das reicht noch nicht aus. Die Menschen müssen zuerst wieder zurück in ihr Herkunftsland und können sich dann um einen Arbeitszugang bemühen. Auch das könnte man deutlich vereinfachen.
    Schulz: Die Vizepräsidentin des Bundestages, Claudia Roth von Bündnis 90/Die Grünen, heute hier im Deutschlandfunk im Interview. Guten Tag und danke schön!
    Roth: Ja, Ihnen auch. Danke schön, Frau Schulz.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.