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Clemens Meyer: "Die stillen Trabanten"
Schlüsselmomente eines kurzen Glücks

Autor Clemens Meyer hat ein Gespür für die großen Gefühle der kleinen Leute – und verwandelt die Territorien des Alltags in Abenteuerschauplätze der Literatur. Die Menschen in seinem Erzählband "Die stillen Trabanten" eint ihre Nähe zum Abgrund.

Von Eberhard Falcke | 09.05.2017
    Buchcover von Clemens Meyers "Die stillen Trabanten". Im Hintergrund: Die Karl-Liebknecht-Strasse in der Leipziger Südvorstadt.
    Buchcover von Clemens Meyers "Die stillen Trabanten". Im Hintergrund: Die Karl-Liebknecht-Strasse in der Leipziger Südvorstadt. (S. Fischer Verlag / dpa / picture alliance)
    Trabanten gibt es am Himmel und auf der Erde. Im All umkreisen sie satellitengleich größere Himmelskörper. Und auf der Erde ziehen sie ihre Bahnen eher außerhalb der gesellschaftlichen Zentren, wo sich Glanz, Geld und Bedeutung zusammenballen – so jedenfalls bei Clemens Meyer.
    Die Menschen, deren Leben in seinem neuen Erzählband Thema ist, tummeln sich im Graubraun einstiger Arbeiterviertel, in Trabentenstädten, in den Schattenzonen des Konsumgetriebes und in jenen Randbezirken, wo es bis zu irgendeinem Abgrund nie weit ist. Oder genauer: sie schlagen sich durch, sei es als Reinigungskraft, Lokomotivführer, Abrissarbeiter. Oder als Wachmann, der in Nächten, die ihm öde und endlos erscheinen, seinen Dienst tut, und in dessen Erinnerung jeder Lichtblick noch jahrelang weiter glimmt. Wie zum Beispiel die flüchtige Begegnung mit einer jungen Frau aus dem Ausländerwohnheim nebenan.
    "Ich lief mit dem Hund durch die Straßen der alten Russenkaserne, ging von Kontrollstreifen zu Kontrollstreifen. Ich fragte mich manchmal, wer die ganzen Scheiben eingeschlagen hatte, als die Russen abgezogen waren."
    "Sie stand am Zaun, den Kopf hatte sie gegen die Streben gelehnt, so sah ich sie das erste Mal. Sie trug einen Mantel, der ihr viel zu groß war."
    "Ein stummes Tänzchen in irgendeinem Winkel, mit Glasscherben unter den Sohlen - das ist schon der beste Augenblick für diese beiden verlorenen Seelen."
    Besonderes Gespür für die großen Gefühle
    Es sind fast durchweg Schlüsselmomente eines kurzen Glücks, manchmal aber auch eines einschneidenden Schreckens, von denen Clemens Meyers hier erzählt. Der Titel des Bandes "Die stillen Trabanten" lässt sich ebenso gut auf die Schauplätze wie die Figuren beziehen. Nicht dass sie alle völlig still wären, aber über ihren engen Lebenskreis dringt das, was sie sagen oder erzählen, nicht hinaus.
    Da ist zum Beispiel der alte Mann, der dem zufälligen Zuhörer, mit dem er sich eine Bank am Strand teilt, von den letzten Kriegsmonaten und einem Flüchtlingsmädchen aus den Ostgebieten erzählt. Und von Bomben, seinem Cousin Karli und der letzten Fahrt der Strandbahn, die es hier einmal gab, auf eine Feuerwand zu.
    "Ich hab Irma aus dem umgestürzten Wagen geholt und runter zum Strand getragen. Karli war eingeklemmt. Er hat mich angeblickt, als ich sie aus dem Wagen holte. Ich sehe das heute noch ..."
    Clemens Meyer hat seit seinem fulminanten Romandebüt "Als wir träumten" immer ein ganz besonderes Gespür für die großen Gefühle der ganz normalen Menschen bewiesen, die oft als "kleine Leute" bezeichnet werden. Aber was er mit seinen neuesten Erzählungen auf diesem Gebiet vollbringt, ist schlicht und einfach brillant und außerdem bewegend. Denn seine Verehrung für amerikanische Erzählkunst hat er hier in reines Gold verwandelt: Er erzählt ohne den bei uns oftmals überdeutlich sichtbaren Zeigefinger und trifft die Empfindungswelten seiner Figuren so genau, wie man das von großen Amerikanern kennt. Wobei der Leipziger Clemens Meyer nicht dem Missverständnis aufsitzt, man müsse hier genauso cool sein wie zuweilen jenseits des Atlantiks. Nein, bei ihm wallen die Gefühle fast bis zur Rührseligkeit, aber die stilistische Fassung bleibt auf wundersame Weise, die man nur kunstvoll nennen kann, gewahrt.
    Eine poetische Musikalität
    Obwohl die Situationen der Figuren mit innerer, oft emotionaler Dramatik hochgradig aufgeladen sind, wird diese Energie in der Erzählhaltung durch perspektivische Brechungen und sachliche Distanz subtil aufgefangen. Sogar dann, wenn es um einen Lokführer geht, der dem Vorleben des Mannes nachforscht, der sich vor seinen Zug geworfen hat. Oder in der Geschichte von dem ehemaligen Jockey Frankie, dessen großer Traum es ist, einmal ein Pferderennen auf dem See von St. Moritz zu erleben und der dort nie ankommt.
    "'Frankie', rief ich, 'wo bist du?' Ich spürte etwas unter mir. Das Eis vibrierte direkt unter meinen Füßen. Das Eis war wie Glas, und unter dem Glas sah ich die langen Pferdeleiber, ganz langsam sanken sie ..."
    Clemens Meyer beherrscht das, was die Aufgabe der erzählerischen Kunst ist: Die Territorien des alltäglichen Lebens in Abenteuerschauplätze der Literatur zu verwandeln. Und nicht wenige dieser Erzählungen, ganz besonders die vorletzte mit dem mythologischen Titel "Die Rückkehr der Argonauten", haben eine poetische Musikalität, die fast an Balladen denken lässt, gesungen von einem wie Johnny Cash.
    Melancholie, Sehnsüchte, Verluste und Hoffnungen bestimmen die Tonlagen dieser Erzählungen, aus denen dennoch zugleich ein sehr genaues Zeitbewusstsein spricht. Bessere, an Klängen reichere Erzählungen wird man in deutscher Sprache derzeit kaum finden.
    Clemens Meyer: Die stillen Trabanten. Erzählungen.
    S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017
    270 Seiten, 20 Euro