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Clement: Erst ein Drittel der notwendigen Reformen umgesetzt

Der frühere Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement hat angmahnt, dass Deutschland erst ein Drittel des Reformprozesses erreicht habe und die Koalition im Bereich Föderalismus, Gesundheitswesen und Rentenversicherung entscheidende Reformen vorantreiben müsse. Gerade beim Vorziehen der Rente mit 67 dürfe es keine Ausnahmen geben, sonst könne die Reform nicht greifen, sagte der SPD-Politiker.

Moderation: Jochen Spengler | 17.02.2006
    Jochen Spengler: Es wird Heulen und Zähneklappern geben. So sprach Hessens Ministerpräsident während der Koalitionsverhandlungen zwischen CDU und SPD. Schmerzhafte Reformen müsse es geben, Zumutungen für den Bürger, harte Einschnitte. Man fragt sich inzwischen: wo bleiben die eigentlich?

    Schwarz-Rot ist nicht nur mit sich selbst auf Kuschelkurs, auch mit uns Bürgern. Beide Koalitionspartner überbieten sich als Gralshüter des alten Sozialstaats. Die EU-Dienstleistungsrichtlinie wird bis zur Unkenntlichkeit entschärft und statt den Kündigungsschutz zu lockern, werden Mindestlöhne in Aussicht gestellt, Erwerbsunfähigkeitsrenten, Konjunkturprogramme.

    Vergessen ist das, was Kanzler Schröder mit der Agenda 2010 beginnen wollte, den Umbau des Sozialstaats, der in seinen Wucherungen diejenigen schützt, die Arbeit haben, aber nicht denjenigen hilft, die Arbeit suchen.

    Am Telefon ist nun einer, der wie kaum ein zweiter in der rot-grünen Regierung für Reformen rackerte. Er gab eigens den Posten des Ministerpräsidenten in Nordrhein-Westfalen auf, um Schröders Reform-Superminister für Wirtschaft und Arbeit zu werden. Guten Morgen Wolfgang Clement.

    Wolfgang Clement: Guten Morgen Herr Spengler.

    Spengler: Herr Clement, haben Sie vergebens für Reformen sich engagiert?

    Clement: Nein, das glaube ich nicht. Es ist ja einiges auf den Weg gebracht worden und einiges an Veränderungen herbeigeführt worden. Aber Sie haben Recht: Natürlich muss dieser Reformprozess weitergehen, und zwar energisch weitergehen. Wir haben bisher höchstens ein Drittel des Weges zurückgelegt, den Deutschland insgesamt zurücklegen muss. Ich setze darauf, dass die Koalition da auch noch erheblich zulegt.

    Spengler: Es heißt ja immer, die Grausamkeiten muss man am Anfang begehen. Muss man jetzt nicht befürchten, dass da gar nichts mehr kommt?

    Clement: Na ja gut, ich will mich da nicht in Befürchtungen ergehen. Ich gehe mal davon aus als jemand, der auch mit einigem Realismus geschlagen ist, dass nach den Landtagswahlen am 26. März es zur Sache gehen wird, wenngleich ich wenig davon halte, jeweils auf Wahlen so weit Rücksicht zu nehmen, dass nicht mehr die Wahrheiten ausgesprochen werden und die Dinge auf die etwas längere Bank geschoben werden. Also kurz und gut, ich stimme zu: Es wird Zeit, dass gehandelt wird.

    Spengler: Wie lautet denn die Wahrheit?

    Clement: Die Wahrheit lautet, dass in der Rentenversicherung wir sicher eine Verlängerung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre brauchen, und zwar im Grunde ohne Ausnahmen. Die Ausnahmen, die diskutiert werden, führen alle zurück. Die machen diesen Reformschritt, der vermutlich noch nicht einmal ausreichen wird, um die Rentenversicherung auf Dauer lebens- und finanzierungsfähig zu halten, um sie auf Dauer zu reformieren, zunichte. Der würde wieder aufgehoben, wenn man alle möglichen Ausnahmen und Ausnahmen von den Ausnahmen einbaut, so wie die Diskussion zurzeit verläuft.

    Spengler: Und wie heißt die Wahrheit beim Arbeitsmarkt?

    Clement: Beim Arbeitsmarkt heißt die Wahrheit, dass wir erstens mehr Wachstum brauchen. Dazu muss einiges geschehen. Dazu müssen diese Reformen eben stattfinden. Sonst gibt es kein Wachstum in dieser und anderer Reformen. Am Arbeitsmarkt glaube ich, dass sich die Politik sehr viel stärker zurückhalten sollte. Von jetzt allen möglichen Dingen wie Mindestlöhnen, jedenfalls gesetzlichen Mindestlöhnen, halte ich nichts. Ich halte viel mehr von Tarifhoheit. Da sind wir in Deutschland immer besser gefahren als alle anderen. Ich halte auch nichts von immer neuen Kombilohn-Modellen. Wir haben Kombilohn-Modelle. Die sollte man erst einmal praktizieren. Und ich halte viel davon, die Bundesagentur dort arbeiten zu lassen und die Agenturen und die Kommunen gemeinsam arbeiten zu lassen. Das kommt voran, wenn wir gleichzeitig ein anständiges wirtschaftliches Wachstum produzieren.

    Spengler: Johannes Rau hat immer gepredigt, "sagen, was man tut und tun, was man sagt". Haben Sie eigentlich den Eindruck, dass die Bundeskanzlerin das tut, was sie vor der Wahl gesagt hat?

    Clement: Das tut ja keiner. Das ist ja eines der ganz großen Probleme. Vor dieser Wahl ist wirklich nicht das ausgesprochen worden, was notwendig ist. Das ist ein schweres Handicap der Parteien und entsprechend groß sind ja auch im Grunde genommen die Vertrauensverluste, auch wenn die Kanzlerin jetzt sehr viel Zustimmung hat. Die Distanz zur Politik - das kann man ja allerorten spüren - ist sehr groß und es wird Zeit, dass diese Distanz überwunden wird. Aber dazu muss man aussprechen, was notwendig ist.

    Ich erinnere mich gut, dass ich vor der Bundestagswahl die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre thematisiert habe. Da ist man von allen Seiten entweder weggeputzt, oder gleich totgeschwiegen worden. Alle Seiten wussten, dass das fällig ist. Das soll jetzt angegangen werden. Ich hoffe, dass es jetzt passiert und dass in Zukunft auch vor Wahlen gesagt wird, was man will. Die Bürgerinnen und Bürger wissen sehr wohl, was notwendig ist in Deutschland, und viel Frust bei uns kommt daher, dass wir uns nur schleichend an die Wahrheit begeben. Als jemand, der gerade aus dem Ausland zurückgekommen ist, kann ich nur sagen: So werden wir die Zukunft nicht bestehen.

    Spengler: Haben Sie eigentlich persönlich, Herr Clement, die Reformunwilligkeit geahnt, als Schwarz-Rot das Ministerium für Wirtschaft und Arbeit, das ja unter Ihrer Führung erst zusammengelegt wurde, wieder aufgeteilt hat?

    Clement: Ja gut, ich habe diesen Schritt für wirklich falsch gehalten. Er ist falsch. Es gibt nichts Vernünftigeres, als Arbeit und Wirtschaft und Wirtschaft und Arbeit zusammen zu sehen und dann auch zusammen zu legen. Aber das ist eine Diskussion; die ist jetzt vorbei. Das nutzt ja jetzt nichts mehr. Ich glaube eben, dass wir auf diesen beiden Sektoren munter voranschreiten müssen. Das Wirtschaftsministerium tut das. Es hat ja Reformen thematisiert. Aber bisher ist die Gefolgschaft noch nicht ausreichend groß.

    Nehmen Sie den Bürokratieabbau. Das sind Kostenfaktoren. Das sind Faktoren, die gleichzeitig Ideen, Innovationen und Investitionen kosten, wenn sie nicht stattfinden, und die stattfinden müssen. Da gibt es auch nur bisher eine ziemlich große Zaghaftigkeit.

    Das ist die Gesundheitsreform, die jetzt endlich angegangen werden muss. Wir brauchen schlicht und ergreifend nicht alle möglichen neuen Modelle, sondern Wettbewerb im Gesundheitssystem, in der Pflegeversicherung. Das sind die Prozesse, die in Gang kommen müssen und auf die ich setze, dass sie jetzt auch tatsächlich stattfinden und dass man dabei sich nicht immer durch Wahlen oder durch den Vorwand von Wahlen aufhalten lässt, sondern endlich handelt. Die Bürger werden das honorieren.

    Spengler: Spüren Sie eigentlich - sage ich mal - eine gewisse Mitschuld daran, dass die Agenda-Politik nicht mehr ganz so gefragt ist, weil es vielleicht zu viel Show gab und zu wenig Erfolg?

    Clement: Hat es zu viel Show gegeben? Wir sind ja eher geprügelt worden. Das war ja keine Show, sondern wir sind ja ziemlich geprügelt worden, der Kanzler, wir alle dort im Kabinett, für Hartz IV und vieles andere mehr. War das wirklich zu viel Show?

    Spengler: Ich erinnere mich an Auftritte von Peter Hartz und anderen, die so und so viel weniger Arbeitslose versprochen haben.

    Clement: Gut, das stimmt schon, aber das waren natürlich auch Zeiten, in denen die Perspektive eine völlig andere zu sein schien, als sie dann wirklich geworden ist. Als wir dann vor drei Jahren mit der Agenda 2010 begonnen haben, da hat es ab da keine Show mehr gegeben, sondern da haben wir ein sehr, sehr hartes Reformprogramm auf den Weg gebracht. Der Kanzler hat es auf den Weg gebracht. Und wir haben es praktiziert gegen massivste Widerstände.

    Spengler: Das stimmt. Nun muss man aber eines sagen: Die Maßnahmen, jedenfalls Hartz I bis III, waren ja nicht besonders erfolgreich. Man hat ja versprochen, man wird es prüfen. Jetzt ist diese Prüfung erfolgt, und die Wissenschaftler sind sich einig: Na ja, das hat doch nicht so richtig hingehauen; teuer und unwirksam.

    Clement: Das ist aber wirklich nicht richtig.

    Spengler: Zum Beispiel die Personalservice-Agenturen vermitteln Arbeitslose langsamer als - -

    Clement: Herr Spengler, dazu brauchten wir wirklich keine Wissenschaftler. Das ist ja auch schon lange bekannt. Das sind immer Diskussionen. Die kauen wir zum x-ten Male durch. Die Personalservice-Agenturen sind vom Vorstand der Bundesagentur längst zurückgefahren worden. Das wird dann heute wieder als das neue Negativum dargestellt. Die waren schon zu meiner Zeit, die Personalservice-Agenturen. An manchen Stellen sind sie nämlich erfolgreich. Da sind sie weitergeführt worden. Bei den Vermittlungsgutscheinen ist das ähnlich.

    Aber schauen Sie: die Neuorganisation der BA ist in vollem Gange. Sie ist erfolgreich. Sie wird noch erfolgreicher werden. Öffentlich wird diskutiert, wir sollen die Ich-AG zurückfahren. Tatsächlich ist das eines der wichtigsten Instrumente, nämlich auch Selbständigkeit und Arbeitsuchenden die Chance zur Selbständigkeit zu geben. Also das ist doch ein sehr differenziertes Bild. Aber dass man neue Instrumente einsetzt und dann feststellt, das war auch von Anfang an die Absicht, sie sollen evaluiert werden, wir wollen klären funktionieren sie gut wie gedacht, oder weniger gut, oder gar nicht. Und daraus zieht man Konsequenzen. Das finde ich völlig normal. Dem Grunde nach sind die Reformen allesamt auf dem richtigen Weg, in der richtigen Richtung und sie zeigen ja auch, dass sich etwas verändert.

    Spengler: Herr Clement, zum Schluss noch. Sie haben gestern unfreiwillig Anlass gegeben für eine aktuelle Stunde im Bundestag. Man kritisiert dort, dass Sie bei RWE Power einen Aufsichtsratsposten angenommen haben. Nicht Ihr erster und einziger Aufsichtsratsposten; das muss man mal dazu sagen. Für FDP, Grüne und Linkspartei jedenfalls sieht das aus wie Gefälligkeitspolitik, insofern Sie als Bundeswirtschaftsminister RWE mit Entscheidungen geholfen haben. Was sagen Sie zu so einem Vorwurf?

    Clement: Ich habe immer eine Energiepolitik - übrigens auch schon als Journalist - vertreten. Die vertrete ich mein Leben lang. Die werde ich auch in Zukunft vertreten. All diese oberflächlichen Diskussionen, die es da gibt, werden mich daran nicht hindern. Ich werde übrigens noch mehrere Mandate wahrnehmen, damit ich das gleich deutlich hinzugefügt habe. Die haben etwas mit dem zu tun, was ich in meinem Leben mir erarbeitet habe: keineswegs nur als Wirtschaftsminister, sondern in meinem gesamten beruflichen Leben. Von dem, was ich dort getan habe, mache ich weiter Gebrauch: bis zu meinem 67. Lebensjahr und auch deutlich darüber hinaus. Da können sich manche Leute darüber das Maul zerreißen. Das wird mich nicht sonderlich beschäftigen. Ich habe andere Dinge zu tun, habe auch andere Absichten, die nicht immer nur in meinem Interesse sind, sondern auch im allgemeinen Interesse, und ich gedenke, diesen Weg auch in aller Ruhe, aber in aller Konsequenz weiter zu gehen.

    Spengler: Also Sie sagen da gab es keine Interessensverquickung?

    Clement: Da gab es keine Interessensverquickung. Ich habe vorher wie nachher schon seit 1990 - soll ich deshalb einem Berufsverbot unterliegen -, schon in den 90er Jahren für Gartzweiler die Braunkohle gefochten. Das habe ich aber früher auch schon als Journalist getan und werde ich auch in Zukunft tun. Es zeigt sich, dass es richtig war. Das hat viel zu tun mit der Energieversorgung, Sicherheit und den Interessen der Bundesrepublik Deutschland und die nehme ich wahr, jedenfalls auch in meinem privaten Bereich.

    Spengler: Danke für das Gespräch. – Das war Wolfgang Clement, der Sozialdemokrat und frühere Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit.