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Cloé Mehdi: "Nichts ist verloren"
Zwischen Aufruhr, Verzweiflung und Hoffnung

Poetisch und kraftvoll zeigt Cloé Mehdi in ihrem Roman, dass eine Gewalttat nie vereinzelt steht, sondern Menschen und Gemeinschaften prägt und verändert. Sie schreibt über Chancenlosigkeit und Vorverurteilung, erzählt von Wut und Hilflosigkeit, von Selbstvorwürfen und Schuld – und doch vor allem von Hoffnung und auch von Liebe.

Von Kirsten Reimers | 06.03.2019
Die Schriftstellerin Cloé Mehdi und ihr Kriminalroman „Nichts ist verloren“
Die Schriftstellerin Cloé Mehdi und ihr Kriminalroman „Nichts ist verloren“ (Cover Polar Verlag / Autorenportrait (c) Anne-Marie Gabriel)
Der elfjährige Mattia, der in prekären Verhältnissen in einer kleinen Stadt am Rande von Paris aufwächst, hat in seinem Leben schon zu viel verloren, allem voran seine Familie. Seit ein paar Jahren lebt er bei Zé, seinem Vormund. Dennoch ist er viel zu oft auf sich selbst gestellt. Denn Zé ist vollauf damit beschäftigt, seine Freundin, die suizidgefährdete Gabrielle, davon abzuhalten, sich umzubringen. Mattia hilft ihm dabei – indem er das Blut beseitigt, nachdem Gabrielle sich die Pulsadern aufgeschnitten hat, indem er sie nicht aus den Augen lässt, nicht einmal im Krankenhaus:
"Manchmal, wenn ich die anderen Kinder so sehe, dann frage ich mich, ob sie auch schon mal Blut von einer Autorückbank wischen mussten oder nachts verschreckt unter einem Krankenhausbett Wache halten. Ob sie wohl schon mal Steinchen in einen Tümpel geworfen haben (…), und dabei das Oberarschloch da oben im Himmel, oder wer auch immer da ist, angefleht haben, allen, die krank sind oder bald sterben werden, einen winzigen Aufschub zu gewähren, nur ein klitzekleines bisschen mehr Zeit zu geben?"
Verantwortung und Schuld
Zé, eigentlich Zéphyr, knapp Mitte zwanzig, ist der Sohn einer reichen, bürgerlichen Familie – Vater Staatsanwalt, Mutter Richterin. Als Jugendlichem war ihm eine Zukunft als begnadeter Mathematiker prophezeit worden. Doch durch den Tod einer Mitschülerin, an dem Zé sich schuldig fühlt, verlor er den Boden unter den Füßen. Zé kam in die Psychiatrie. Heute hat er den Kontakt zu seiner Familie weitgehend abgebrochen und der bürgerlichen Gesellschaft den Rücken gekehrt. Er arbeitet als Wachmann in einem Supermarkt und hat die Mathematik gegen Poesie getauscht, Formeln gegen Lamartine, Baudelaire, Camus, Aragon.
Auch Mattia fühlt sich verantwortlich: dafür, dass sein Vater Selbstmord begangen hat, dafür, dass seine Mutter sich nicht um ihn kümmert, dafür, dass die Familie auseinandergebrochen ist. Vor 15 Jahren, noch vor Mattias Geburt, wurde in der Sozialsiedlung, in der die Familie damals lebte, ein Teenager von einem Polizisten getötet: Saïd, gerade einmal 15 Jahre alt – eine Ausweiskontrolle, die aus dem Ruder lief.
"Nächtelange Ausschreitungen im grellen Licht der Polizei-Scheinwerfer, im Blitzlichtgewitter der Kameras und im Schein der in Flammen stehenden Barrikaden. (…) Die Leute aus dem Viertel fordern Gerechtigkeit. Sie glauben an die Republik. Sie scharen sich um die Familie von Saïd. Sie berufen sich auf die schöne Marianne, die Demokratie und alles, was dazugehört. Sie verlangen, dass der für den Einsatz Verantwortliche verurteilt wird."
Zwischen Depression und Unbezwingbarkeit
Mattias Vater arbeitete zu jener Zeit als Streetworker, Saïd gehörte zu seinen Schützlingen. Nach dessen Tod resigniert er; er wird depressiv und entwickelt Symptome von Schizophrenie. Als mehrere Jahre später der Prozess gegen den Polizisten, der Saïd getötet hat, mit dessen Freispruch endet, bricht Mattias Vater endgültig zusammen und kommt in die Psychiatrie; da ist Mattia gerade geboren. Weil er bei einem Besuch sich dem fremden Vater entzieht, glaubt er, eine Mitschuld zu haben, als sich dieser bald danach erhängt. Die Mutter schafft es nicht mehr, sich um die Kinder zu kümmern, sie bringt Mattia zu Zé; Gina, Mattias ältere Schwester, geht eigene Wege, der Halbbruder kehrt allen den Rücken zu und bricht den Kontakt ab.
"Gina ist unbezwingbar. Das hat sie mir mal gesagt, als sie noch eine Jugendliche war. Unbezwingbar, Mattia. Sie sagte es mit solcher Überzeugung, dass ich es glaubte. Du bist auch unbezwingbar. Wie eine Mauer aus Stein. (…) Nicht wie unsere Eltern. Un-be-zwing-bar, sprich es mir nach. Und anschließend ist sie auf und davon, und dafür hasste ich sie. Ich mag sie nur, wenn sie da ist. Also nicht oft."
Zé mag nicht der perfekte Vormund sein, aber hier findet Mattia dennoch Wärme und Geborgenheit, die es ihm erlauben, nicht innerlich zu versteinern, sondern zu wachsen. Als jetzt, 15 Jahre nach Saïds Tod, jedoch an den Hauswänden Graffiti mit dessen Konterfei und der Forderung "Gerechtigkeit für Saïd" auftauchen, reißt dies alte Wunden auf: im Viertel, in Mattia, in seiner Familie; und der Junge muss erkennen, dass diese ihm etwas verheimlicht.
Klug, nie altklug
Mit seinen elf Jahren trägt Mattia viel zu viel auf den schmalen Schultern und ist viel zu abgeklärt, gleichzeitig aber auch sehr verletzlich. Er beobachtet mit wachem Blick die Geschehnisse um sich herum, ohne sie immer benennen oder gar verstehen zu können: die beginnende Gentrifizierung des früheren sozialen Brennpunkts, die Vertreibung der ursprünglichen Bewohner, die unterschwellige Wut und das Misstrauen in die staatlichen Institutionen – allen voran in die Polizei, und das mit gutem Grund. Cloé Mehdi verleiht ihm dabei eine glaubwürdige Stimme: lakonisch, klug, aber nie altklug. Manchmal bricht das Kindliche durch, das trotz allem in Mattia steckt, die Freude über den ersten Schnee, die Liebe zu Zeichentrickserien oder die Angst davor, die letzten geliebten Menschen zu verlieren, wenn seine Schwester sich mit seinem Vormund streitet.
Cloé Mehdi schildert, wie strukturelle Gewalt sich im Physischen manifestiert – und wie sie wirkt, wie Gewalt über Jahre hinweg Menschen und Viertel, die Gesellschaft als Ganze prägt und verändert. Mehdi schreibt mit hoher Intensität und Genauigkeit, dabei mit viel Wärme für ihre Figuren. Wo ihre Sympathien liegen, ist eindeutig, doch das verleitet sie nicht zu Einseitigkeit oder Verkürzung. Sie gibt allen Seiten Raum, behandelt jede ihrer Figuren mit Respekt und Gerechtigkeit. Sie bleibt auch da differenziert, wo die Wut sich Bahn bricht.
So schreibt Mehdi über Chancenlosigkeit und Vorverurteilung, erzählt von Wut und Hilflosigkeit, von Selbstvorwürfen und Schuld – und doch vor allem von Hoffnung und auch von Liebe. Dies tut sie mit großer erzählerischer Wucht, zart und poetisch, geradeheraus ohne Schnörkel und mit leisem Humor.
Cloé Mehdi: "Nichts ist verloren"
aus dem Französischen von Cornelia Wend
Polar Verlag, Stuttgart, 312 Seiten. 18 Euro