Remme: Der angekündigte Vergeltungsschlag der Hamas nach dem Anschlag auf Scheich Jassin ist ausgeblieben. Kann es sein, dass das Kalkül Ariel Scharons nicht doch aufgeht und dies der Weg ist, den Terror zu bekämpfen?
Cohn-Bendit: Na ja, also Sie stellen hier eine Frage, was soll ich sagen? Das haben wir alle beobachtet. Das müssen wir jetzt in der Entwicklung sehen. Die Bilder sind eindeutig. Es gibt ja massenhaft Menschen, die bereit sind, sich zu opfern. Richtig ist, dass die Abriegelung des palästinensischen Gebietes durch Israel mit der Mauer und so weiter die Infiltration von Selbstmordanschlägen schwerer macht. Jetzt ist ja die Frage, wie lange die Reorganisation solcher Terrororganisationen wie Hamas dauert. Also ich würde drei, vier Wochen erst mal nicht als Beweis einfach nehmen, denn man weiß nicht, wie lange Prozesse der Reorganisation der Hamas dauern.
Remme: Mein Hintergrund der Frage war auch, heiligt der Zweck die Mittel, wenn ein Erfolg abzusehen ist?
Cohn-Bendit: Er heiligt sie politisch nicht, und er heiligt sie auch in der moralischen Bewertung nicht. Ich finde, dass wir gerade in einem Moment, wo wir gegen den Terrorismus kämpfen, nicht zu Maßnahmen greifen dürfen, die dem Rechtsstaat widersprechen. Das Problem ist ganz klar: Die widerrechtlichen Tötungen sind nicht das Problem, sie sind ein Problem, aber das wichtigste Problem ist die Mauer, die Abtrennung, die völlige Isolierung palästinensischer Gebiete. Das ist das große Problem, weil das einen Hass bei den Palästinensern immer wieder stärkt, und damit wird Israel auf lange Sicht nicht fertig werden.
Remme: Welche Chance hat die internationale Politik an diesem Punkt?
Cohn-Bendit: Die internationale Politik hätte nur dann eine Chance, wenn es einen anderen amerikanischen Präsidenten gäbe. Wir sind jetzt in einer fatalen Spirale. Wir müssen einfach das sagen, was wir sagen müssen, dass es so nicht geht. Im Grunde genommen schadet Israel sich selbst als Staat mit dieser Politik, und wir müssen alles vorbereiten und erst mal abwarten, bis es einen neuen amerikanischen Präsidenten gibt, oder nach den Wahlen, wo dann der amerikanische Präsident vielleicht auch anders handeln will oder kann. Denn ohne Amerika wird es Europa nicht gelingen, Israelis und Palästinenser zur Räson zu bringen.
Remme: Aber warum setzen Sie auf einen Wechsel im Amt des amerikanischen Präsidenten? Was machen die USA falsch?
Cohn-Bendit: Die USA sind nicht mehr Garant einer Perspektive im Nahen Osten der Sicherung des israelischen Staates und der Möglichkeit der Entwicklung das heißt der Sicherung eines palästinensischen Staates. Sie haben sich im Grunde genommen der Strategie Ariel Scharons untergeordnet, der einen palästinensischen Staat, der lebensfähig wäre, unmöglich macht. Deshalb können sie im Grunde genommen nicht mehr Vermittler in diesem Konflikt sein. Da hat die Europäische Union ganz andere Karten, ganz andere Positionen. Die Europäische Union muss viel mehr Druck auf die Palästinenser ausüben, was den Terror angeht, aber die Europäische Union kann allein nicht den politischen Druck auf Israel ausüben.
Remme: Sie haben mit dem, was Sie gerade gesagt haben, angespielt auf den Besuch Scharons in Washington und der Zustimmung von George Bush, dass Israel einige Siedlungen im Westjordanland behalten kann. Ein Affront für den Rest des Nahostquartetts?
Cohn-Bendit: Das ist die Verlängerung des unilateralen Affronts. Die Amerikaner entscheiden alleine, was richtig oder falsch ist, und das ist das Verheerende. Das ist die Fortsetzung der Irak-Mentalität, also der Intervention im Irak, mit anderen Mitteln. Es gab ja ein Quartett. Die Europäische Union und die Vereinigten Staaten waren drin, und ohne sich abzusprechen, entscheiden die Amerikaner für einen bestimmten Kurswechsel, und das ist verheerend.
Remme: Wenn die USA als Makler ausgeschieden sind, wer kann an die Stelle treten?
Cohn-Bendit: Alleine niemand. Also man kann die USA kurzfristig nicht ersetzen. Deswegen müssen die Amerikaner wieder zurück zu einer gemeinsamen Maklerposition, vor allem mit der Europäischen Union. Das ist ja das Problem. Die UNO wird eine Rolle dort spielen können, wenn im Grunde genommen dieses Quartett, also alle vier - dabei ist ja noch Russland und die UNO drin -, wenn alle vier wieder zusammen Vermittlerpolitik in dieser Region machen wollen. Im Moment wollen die Amerikaner überhaupt nicht zusammen. Nur: Damit kann man sie nicht ersetzen, sondern man muss sie wieder zurückholen, denn sonst - und das werden die Israelis ziemlich schnell merken - hat die ganze Region keine friedliche Perspektive.
Remme: Das Wort der Europäischen Union, es galt eigentlich in der Nahost-Region im Vergleich zu den Amerikanern bisher nicht viel. Sehen Sie Indizien dafür, dass das wachsen kann?
Cohn-Bendit: Ich glaube, das ist nicht wahr. Ich glaube, das ist eine oft in den Medien wiederholte Feststellung, die nicht stimmt. Die Europäische Union gilt sehr viel, gerade in der Unterstützung des Alltags. Ich meine, ohne die Europäische Union gäbe es die autonomen palästinensischen Gebiete überhaupt nicht. Israel braucht den wirtschaftlichen Austausch mit der Europäischen Union. Nur: Die Europäische Union hat bis jetzt nicht die politische Struktur, die politische Macht, um wirklich ganz entscheidend in solche Prozesse alleine zu intervenieren. Das wird noch dauern. Und deswegen braucht die Europäische Union die Vereinigten Staaten, um gemeinsam dort im Grunde genommen stabilisierend zu wirken.
Remme: Also bis zu den Wahlen in den USA Stillstand?
Cohn-Bendit: Stillstand nicht. Man muss klar artikulieren, was man will. Aber man muss wissen - und das ist das Fatale an dieser Situation, das nutzt auch Scharon aus -, dass die amerikanische Außenpolitik im Moment innenpolitisch gebunden ist, und das ist die schlechteste Voraussetzung für eine rationale Außenpolitik.
Remme: Vielen Dank für das Gespräch.