Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Colson Whitehead: "Die Nickel Boys"
Grausame Gewalt-Justiz

Von außen sieht die Strafvollzugsanstalt hübsch und gepflegt aus. Doch im Nickel Institute werden Jugendliche drangsaliert, missbraucht und ermordet. Colson Whiteheads siebter Roman beruht auf einem authentischen Fall, überzeugt aber durch dokumentarische wie literarische Qualität.

Von Christoph Schröder | 06.06.2019
Zu sehen ist der Autor Colson Whitehead und das Cover seines Romans "Die Nickel Boys".
Spätestens seit seinem 2016 erschienen Roman "Underground Railroad" ist er auch international ein Star: der Pulizerpreisträger Colson Whitehead (Autorenfoto: Peter-Andreas Hassiepen/ Cover: Hanser Verlag)
Im Jahr 1899 eröffnete der Staat Florida im nördlich gelegenen Jackson County die "Florida Industrial School for Boys". Die Besserungsanstalt sollte, so der Grundgedanke, jugendlichen Straftätern die Chance eröffnen, ihr Handeln frei von störenden äußeren Einflüssen zu überdenken und sich danach geläutert in die Gesellschaft zu integrieren. Die Einrichtung existierte unter wechselnden Namen bis ins Jahr 2011, bevor sie, offiziell aus ökonomischen Gründen, geschlossen wurde.
Ehemalige Schüler der Florida School hatten sich zu einer Interessengemeinschaft zusammengeschlossen und von sadistischen Behandlungen durch das Personal berichtet. Als daraufhin Archäologiestudenten damit beauftragt wurden, den Friedhof der Anstalt auszugraben, stießen sie auf eine Reihe von anonymen Gräbern außerhalb des Friedhofsbereichs und brachten damit eine Lawine ins Rollen. Noch im April 2019 wurden auf dem Gelände der ehemaligen Florida School die Überreste von weiteren 27 Menschen gefunden. Eine Entdeckung, die rund um die Stadt Marianna auch darum für Unmut sorgte, weil der Bau des auf dem ehemaligen Schulgelände geplanten Büroviertels sich nun weiter verzögerte. Den meisten wäre es lieber gewesen, wenn die Vergangenheit sich schnell hätte zubetonieren lassen.
Fiktive Welt, doch reale Schicksale
Colson Whitehead eröffnet seinen Roman mit der Schilderung der Arbeit der Archäologen und deren Konsequenzen: "Jeder Junge kannte diesen schlimmen Ort, aber es musste erst eine Studentin der University of Tampa kommen, um den Rest der Welt darauf hinzuweisen, Jahrzehnte nachdem man den ersten Jungen in einen Kartoffelsack verschnürt und in eine Grube versenkt hatte. Auf die Frage, wie sie die Gräber entdeckt hatte, antwortete Jody: "Die Erde sah komisch aus. Der eingesunkene Boden, das struppige Unkraut."
Nach diesem Epilog aus der Gegenwart springt Whitehead zurück in die frühen 1960er-Jahre. Die Geschichte, die er erzählt, ist fiktiv und doch steht sie paradigmatisch für das Schicksal einer großen Zahl schwarzer Jugendlicher, die zu Opfern institutioneller Willkür geworden sind.
Justizirrtum wird zum Verhängnis
Elwood Curtis heißt sein Protagonist, ein sechzehnjähriger, hoch intelligenter Junge, der in einigermaßen geordneten Verhältnissen aufwächst und mit den Reden von Dr. Martin Luther King im Kopf von einer gerechten Zukunft träumt. Seine Eltern haben sich nicht lange nach seiner Geburt aus dem Staub gemacht, um in Kalifornien ihr Glück zu suchen, doch seine Großmutter hat Elwood aufgenommen und sich erfolgreich um die Erziehung gekümmert. Er hat einen guten Schulabschluss in der Tasche und macht sich Hoffnung auf das College.
Eines Abends fährt er per Anhalter in einem Auto mit. Der Wagen erweist sich als gestohlen; die Polizei nimmt Elwood fest. Ein Gericht verurteilt ihn zu einem Aufenthalt in der Florida School. Ein Justizirrtum, eindeutig, den Elwood allerdings mit erstaunlicher Gelassenheit hinnimmt. Er vertraut, und das ist ein Grundmotiv des Romans, in das Funktionieren des Staates. Darum ist er überzeugt davon, dass der Anwalt, den seine Großmutter ihm besorgt hat, den Fehler bald aufklären wird. Darüber hinaus schenkt Elwood den raunenden Erzählungen, die über das Nickel Institute, wie Whitehead die Anstalt in romanhafter Verfremdung nennt, keinen Glauben.
Brutalität hinter freundlicher Fassade
Elwood fühlt sich in seiner Einschätzung bestätigt, als er, wenn auch in Handschellen, an der Florida School abgeliefert wird. Keine Mauern, kein Stacheldraht: "Das penibel gepflegte Anstaltsgelände war ein üppiger Garten mit ein paar verstreuten zwei- oder dreigeschossigen Gebäuden aus roten Ziegeln. Die Kiefern und Buchen waren hoch und uralt, sorgten stellenweise für Schatten. Elwood hatte noch nie ein so hübsches Anwesen gesehen."
Der Wissensvorsprung, den die Leser gegenüber dem Protagonisten im Hinblick auf die Zustände im Nickel haben, macht die Lektüre dieses Romans noch grausamer. Denn Elwood, der idealistische Jugendliche, gerät in ein Mahlwerk aus Erniedrigungen und Demütigungen, aus dem es keinen Ausweg gibt. Glaubt Elwood zu Beginn noch, Institutionen wie das Nickel seien die Abweichung von der Norm, der blinde Fleck eines an sich Gerechtigkeit produzierenden Staatsgebildes, wird er bald eines Besseren belehrt.
Zum einen gilt es für ihn, so schnell wie möglich die ungeschriebenen Gesetze der Anstalt zu lernen, um dort zu überleben. Es gilt, herauszufinden, wessen Freundlichkeit echt und wessen Freundlichkeit Fassade ist. Es geht auch darum, keinesfalls den Zorn des offen brutalen Oberaufsehers Spencer auf sich zu ziehen. Zugleich aber zeigt Whitehead Heranwachsende, die alles daran setzen, sich nicht deformieren zu lassen und sich selbst einen Alltag zu schaffen, über dem nicht permanent der Schatten willkürlicher Strafe und Gewalt liegt.
Eindringlich bleibt keine Floskeln
Wenn häufig missbräuchlich benutzte Floskeln wie "eindringlich", "bestürzend" oder "ergreifend" auf ein Buch zutreffen, dann auf Whiteheads von der ersten bis zur letzten Seite spannenden, glänzend geschriebenen und vom Schriftsteller Henning Ahrens auch ausgezeichnet übersetzten Roman. "Die Nickel Boys" ist Colson Whiteheads siebter Roman. In jedes seiner Bücher hat Whitehead mehr oder weniger offen fantastische, surreale Elemente in seine Wirklichkeitsschilderungen einfließen lassen. Selbst in "Underground Railroad", dem zu Recht gefeierten Roman über das untergründig arbeitende Netzwerk von Sklavenbefreiern im 19. Jahrhundert, sind anachronistische Unwahrscheinlichkeiten eingearbeitet.
In die "Die Nickel Boys" hat Whitehead gänzlich auf spielerische Elemente verzichtet. Der Humor, so erzählte er es in einem Interview, sei ihm nach der Wahl von Donald Trump und angesichts des seither um sich greifenden institutionellen Versagens unangemessen vorgekommen.
System aus Rassismus und Misshandlung
Im Nickel herrscht ein gnadenlos rassistisches System. Schwarze und weiße Insassen werden in getrennten Wohneinheiten untergebracht. Der Strafenkatalog, so stellt sich bald heraus, ist nicht einheitlich. Die Schwarzen werden offensichtlich ungleich härter bestraft als die Weißen. Angebliches Fehlverhalten wird nicht öffentlich, sondern heimlich in den Nächten sanktioniert, wenn die ahnungslosen Jungen aus dem Schlaf gerissen und in ein berüchtigtes Gebäude verschleppt werden, das ironischerweise den Namen "Das Weiße Haus" trägt. Und auch Elwood, der in einem Streit schlichten will, muss lernen, dass deeskalierendes Verhalten im Nickel nicht gedankt wird. Geradezu zwangsläufig ereilt auch ihn das Schicksal der Misshandlung durch die Aufseher.
"In der Zelle, in der man die Hiebe verabreichte, erblickte er eine blutige Matratze, übersät von den Abdrücken der Zähne, die die Jungs hineingeschlagen hatten. Der Luftzug des Ventilators hatte Blut aufgewirbelt und auf die Wände gespritzt. Die Akustik war bizarr – einerseits übertönte der Ventilator die Schreie der Jungs. Andererseits waren die Befehle klar und deutlich zu verstehen: 'Am Bett festhalten und nicht loslassen. Wenn du muckst, gibt’s noch mehr Hiebe.'"
Individuelle Erfahrungen im gesellschaftlichen Kontext
Colson Whitehead schlägt im Verlauf seines kurzen, aber intensiven Romans einen zeitlichen und räumlichen Bogen bis in das New York der Gegenwart. Der Clou des Romans ist eine überraschende Volte am Schluss, die an dieser Stelle selbstverständlich nicht verraten wird, die aber, so viel sei gesagt, die Ereignisse rückblickend noch einmal in ein neues Licht taucht. Unter anderem das ist die literarische Leistung von "Die Nickel Boys", die den Roman weit über seinen dokumentarischen Wert hinaushebt: Whitehead gelingt es, die individuellen Erfahrungen seiner Figuren in einen gesamtgesellschaftlichen Kontext zu stellen. Er moralisiert und belehrt nicht, sondern vertraut auf die Überzeugungskraft seiner Darstellung.
Der Mann, der dem Nickel entkommen ist und im heruntergekommenen New York der späten 1960er-Jahre mit Erfolg versucht, ein neues Leben zu beginnen, ist ein Gezeichneter. Manchmal schreckt er in den Nächten aus dem Schlaf hoch in der Erwartung, aus dem Schlafsaal gezerrt zu werden. Was man ihm nicht hat nehmen können, ist seine Würde. So bitter der Abgesang auf die Utopie eines Dr. Martin Luther King hier auch angestimmt werden mag, so desaströs die menschliche Zwischenbilanz insgesamt auch ausfallen mag – Whitehead zeigt sich auch in "Die Nickel Boys" als Humanist. Das hat unabhängig von der unbestreitbaren literarischen Qualität dieses Romans auch etwas Tröstliches.
Colson Whitehead: "Die Nickel Boys"
Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Ahrens
Haner, München, 224 Seiten, 23 Euro