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Sibylle Berg: "GRM Brainfuck"
Alles wird immer schlimmer

Sibylle Berg entwirft in ihrem neuen Buch "GRM Brainfuck" das düstere Bild eines futuristischen Großbritanniens nach dem Brexit. Vernachlässigte Kinder werden dort misshandelt, heimlich Pornos gedreht, Drogen konsumiert - und der Staat überwacht alle. Dieses Buch ist nichts für schwache Gemüter.

Von Eva Pfister | 05.06.2019
Zu sehen ist die Autorin Sibylle Berg und das Cover ihres Romans "GRM Brainfuck".
Immer für eine Provokation gut: Sibylle Berg (Autorenfoto: Katharina Lütscher/ Cover: Verlag Kiepenheuer & Witsch )
Die englische Stadt Rochdale machte vor einigen Jahren Schlagzeilen, als bekannt wurde, dass dort viele Mädchen von pakistanischstämmigen Jugendlichen vergewaltigt und zwangsprostituiert wurden. Manche Opfer erstatteten Anzeige, aber die zuständigen Behörden blieben untätig - aus Angst vor Rassismus-Vorwürfen.

Dieser Skandal ist ein Kernmotiv in Sibylle Bergs neuem Roman "GRM. Brainfuck". Wenn man die drei Buchstaben wie ein Wort ausspricht – "Grm" – klingt es fast wie Grimm. Tatsächlich liest sich das Buch streckenweise wie ein böses Märchen der Brüder Grimm: Vernachlässigte Kinder werden in einer finsteren Welt von brutalen Bösewichtern gepeinigt, können sich schließlich retten – und sogar rächen.
"GRM" wie "Grime": Schneller, harter Rap
GRM meint aber "Grime", zu Deutsch "Dreck", eine Musikrichtung, die vor 20 Jahren in London entstand. Es ist ein schneller, harter Rap, in dessen Texten Gewalt und Hass eine große Rolle spielen. Die vier jugendlichen Protagonisten in Sibylle Bergs Roman lieben Grime. Don zum Beispiel, die gerade in die Pubertät kommt und es aufgegeben hat, von ihrer überforderten Mutter geliebt werden zu wollen, hält sich an dieser Musik fest:

"Scheinbar nur für sie war Grime erfunden worden. Don wusste nicht von wem… Don wusste nur, dass die Musik so klang, wie sie sich gerne fühlen würde. Wütend und gefährlich. Die Stars hatten die besten Turnschuhe, Ketten und Autos. Sie hatten es geschafft. Sie waren Helden."
Vier schwer misshandelte Kinder sinnen auf Rache
Don freundet sich mit Karen an, der hochbegabten Tochter aus einer schwarzen Familie, die durch ihren Albinismus eine zweifache Außenseiterin ist. Die dritte in Sibylle Bergs Bande von 12- bis 13jährigen Kindern ist Hannah, ein verwaistes Mädchen aus einer asiatischen Familie. Schließlich kommt noch Peter dazu, der autistische Sohn einer polnischen Gastarbeiterin. Auch er bleibt allein zurück, als seine Mutter einen reichen Mann kennen lernt.

Wie Sibylle Berg das Leben in den Armenvierteln englischer Städte beschreibt, ist nichts für schwache Gemüter. Die hohe Arbeitslosigkeit macht die Männer aggressiv. Sie lassen ihre Launen an den Frauen aus, die zwischen prekären Jobs noch auf Liebe hoffen oder in den Alkoholismus abdriften. Die Kinder treiben sich in leerstehenden Fabriken herum, in denen mit Drogen oder Sex gehandelt wird, und sind wehrlos der Gewalt der Älteren ausgesetzt, seien es Brüder, Väter oder eben junge Männer, wie Patuk, der sich als Loverboy Karen nähert, um sie dann mit Drogen gefügig zu machen und zu prostituieren. Die Geschichten der vier Jugendlichen sind ergreifende Sozialdramen, aber Sibylle Berg umgibt diese mit so viel bissigem Sarkasmus, dass sie jegliche Gefahr von Gefühlsduselei sofort bannt. Zudem ist die Handlung durchsetzt mit politischen Analysen – immer polemisch zugespitzt.
Gewaltschocker, Zukunftsprognose und Kapitalismuskritik
"Die Verachtung der Kapitalisten gegenüber den Armen hatte sich institutionalisiert. Obdachlose, Arbeitslose, Arbeitsunfähige, Kranke, Schwache mussten akribische, nicht nachvollziehbare bürokratische Schwachsinnsanforderungen erfüllen, um einen Minimalbetrag zu erhalten, der ihre Lebensfunktionen aufrechterhielt. Der unverwertbare Teil der Gesellschaft konnte durch kleine Formfehler sämtliche Unterstützung verlieren, und dann hockten sie da. In ihren verranzten Buden ohne Strom und Heizung und Essen."
Der Roman von Sibylle Berg spielt in Großbritannien und hat viel mit unserer Gegenwart zu tun. Die neoliberale Politik hat drastische Kürzungen im Sozialbereich durchgesetzt. Die Folgen zeigen sich deutlich: Gesundheit ist wieder eine Klassenfrage, und die Jugendkriminalität ist stark angestiegen, seit die Freizeitclubs geschlossen wurden. Man kann also das Buch als einen sehr ernst gemeinten Sozialreport lesen. Das ist aber nur die eine Ebene von "Grime". Auf die zweite deutet der Untertitel hin: "Brainfuck", der Name einer Programmiersprache. Die Autorin streut Zitate davon in ihre Dystopie eines durchorganisierten Überwachungsstaats ein. Einige Jahre nach dem vollzogenen Brexit hat sich die britische Regierung etwas Neues ausgedacht: Nur wer sich registrieren lässt, erhält Zugang zum Gesundheitssystem.
Ein "Brave New World" des Internetzeitalters
"Der Kunde blickte in eine Kamera. Das Gesicht wurde an die Datenbank übermittelt, in Sekundenbruchteilen ein Chip mit den Daten des Betreffenden geladen. Geräte-IDs, biometrische Passangaben, Konten, Adresse, Krankheitsakte, Strafregister, sexuelle Vorlieben, Freundeskreis, Familie, soziale Auffälligkeiten, Vorstrafen."
Die Briten stehen Schlange, um sich den Chip implementieren zu lassen, denn als Belohnung winkt ihnen ein bedingungsloses Grundeinkommen. Nur die jugendlichen Protagonisten bleiben skeptisch.

Erstaunt betrachteten die Kinder die Begeisterung der Eingeborenen. Menschen mit verschlissener Kleidung, schlechten Zähnen, aufgedunsenen Gesichtern, von Alkohol gezeichnetem Blick tanzten geradezu ausgelassen in die Nacht. Sie hatten wieder einen Glauben an ihre Regierung. Einen Stolz auf ihr Land, Stolz, Brite zu sein. Stolz, Teil eines weltweiten Reiches zu sein. Das großartige Land, das ihnen ein Einkommen schenkt."
Der Überwachungsstaat funktioniert jedoch eher schlecht als recht, und das Dateninformations-System lässt sich leicht knacken. So können Hacker zum Beispiel mit heimlich montierten Kameras die sexuellen Vorlieben ihrer Feinde auf öffentliche LED-Wände projizieren. Das ist ziemlich gruselig, zumal die Autorin kaum eine brutale Perversion auslässt. Diese Pornos bilden die dritte Ebene von "GRM. Brainfuck" und sind in ihrer Redundanz schuld an manchen Längen des Romans. Zusammen mit immer neuen trostlosen Sozialfällen und Szenen brutaler Gewalt macht das die Lektüre ziemlich anstrengend! Bis die Kinder die Rache an ihren Peiniger ausgeführt haben, vergeht auf 640 Seiten viel Zeit; Zeit, in denen sie durch das verkommene London strolchen, sich verlieben, sich langweilen, und ihren Freunden, einer jugendlichen Hackerbande, zuschauen.
Jeder Bürger wird gnadenlos ausgespäht
Diesen Hackern gelingt es tatsächlich, das staatliche Überwachungssystem zu outen, das ist der letzte traurige Höhepunkt in "Grime". Die Leute können sich plötzlich selbst auf den öffentlichen Bildschirmen sehen und dazu die auf ihren Chips gespeicherten Informationen lesen:

"Ist das nicht zu privat?" Fragt eine Frau. "Dass die wissen, dass ich in den Wechseljahren bin? Und dass ich fremdgehe?" … Die. "Wer sind die?", flackert es im Land durch Millionen Hirne… Vielleicht geht es jetzt los, denkt Hannah. Eine Revolution, die Leute werden den Staatsschutz stürmen und das Regierungsgebäude belagern, sie werden sich ihre Chips aus dem Arm beißen und ihre biometrischen Pässe verbrennen, die Kameras zerstören und – "Kann man das auch zu Hause empfangen, das Programm?", fragt eine Frau, "da hätte ich alle Informationen zu meinen Nachbarn." In dem Moment weiß Hannah, dass die Freunde verloren haben.
Das Ende entspricht ganz der traurig-beißenden Ironie Sibylle Bergs. Die Kinder werden erwachsen und passen sich an. Die Künstliche Intelligenz hat die Macht übernommen. Die Demokratie ist ein Fake, und alle sind zufrieden.
Sibylle Berg: "GRM - Brainfuck".
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln. 640 Seiten, 25 Euro