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Colson Whitehead: "Underground Railroad"
Enzyklopädie der Dehumanisierung

Autor Colson Whitehead, Abkömmling der schwarzen Mittelklasse und Harvard-Absolvent, widmet sich in seinem Roman "Underground Railraod" der Entrechtung, Unterdrückung und Vernichtung von Schwarzen durch Weiße in den USA - aber auch ganz allgemein von Menschen durch Menschen.

Von Martin Ebel | 17.09.2017
    Buchcover: Colson Whitehead: Underground Railroad
    Colsons Whitheads Roman "Underground Railroad" handelt von Rassismus und Sklaverei in den USA (Hanser Verlag / dpa / picture alliance)
    In den USA kennt jedes Kind die "Underground Railroad". Bei uns muss man den Begriff und die Sache erst einmal erklären. Anders als der Name suggeriert, war die "Underground Railroad" keine Eisenbahn, und unterirdisch verlief sie auch nicht. "Underground Railroad" ist vielmehr eine Metapher, ein Bild für ein Netzwerk von Helfern, Zuträgern, geheimen Verstecken und verschlüsselten Nachrichten, das dazu diente, entlaufende Sklaven in sichere Staaten zu schleusen. Es entstand Ende des 18. Jahrhunderts und funktionierte bis zum amerikanischen Bürgerkrieg, an dessen Ende die Sklaverei verboten wurde.
    Das Vokabular des gerade in den USA entstandenen Eisenbahnwesens diente als Tarncode; man sprach von "Bahnhöfen", "Stationsvorstehern", "Passagieren". Reisedokumente mussten beschafft werden, neue Identitätspapiere für Flüchtlinge, die laut Gesetz immer noch ihren Peinigern gehörten; Anwälte mussten bezahlt, die bis in den Norden aktiven Sklavenjäger abgelenkt werden.
    Die Zahl der "Passagiere", die auf diese Weise in die Freiheit geschleust wurden, wird auf 30 bis 100.000 geschätzt. Seinerzeit ein gut gehütetes Geheimnis, gehört die "Underground Railroad" heute zu den nationalen Mythen, auch weil sie sich gut eignet, aus der Schande der Sklaverei ein Heldenlied zu destillieren. Denn die "Railroad" wurde von Schwarzen - Ex-Sklaven oder Freigeborenen - wie von Weißen - Gegnern der Sklaverei - am Laufen gehalten, war also ein Beispiel für das "gute", das nichtrassistische Amerika. Zugleich gibt sie bis heute eine perfekte Story ab: Gut gegen Böse, David gegen Goliath, Einzelkämpfer gegen ein übermächtiges System.
    Porträt der Fluchthelferin Harriet Tubman, die im 19. Jahrhundert vielen Sklaven zur Freiheit verhalf.
    Die berühmte Fluchthelferin Harriet Tubman soll den neuen 20-Dollar-Schein zieren (dpa-plattform / H.B. Lindsley)
    Der Mythos wird sorgfältig gepflegt. Es gibt Sammlungen von Zeugenberichten, Interviews, historische Abhandlungen. In Harlem steht ein Denkmal von Harriet Tubman, der Ikone der "Railroad", die selbst einer Plantage entlaufen war und etliche Male undercover zurückkehrte, um Leidensgenossen abzuholen. Das Denkmal ist optisch einer Lokomotive angenähert. Harriet Tubmans Porträt soll demnächst die 20-Dollar-Note schmücken.
    In Cincinnati gibt es ein "Railroad"-Museum und alljährlich einen einschlägigen Kongress. Eine Fernsehserie natürlich längst auch. Und nun einen Roman von einem der interessantesten Autoren der USA: Colson Whitehead, Jahrgang 1969, Abkömmling der schwarzen Mittelklasse und Harvard-Absolvent. In "John Henry Days", seinem Roman von 2001, hatte Whitehead demonstriert, wie ein Mythos zur Folklore herabgesunken war. Und er hatte das Thema der Diskriminierung von Schwarzen ironisch gefiltert, durch die Brille eines Schmierenjournalisten. Hier geht er es direkt an.
    Schonungslos brutal von Beginn an
    Besonders die ersten beiden Kapitel sind von großer Härte und Grausamkeit. Im ersten erzählt er, nüchtern, lakonisch und immer auf den Schmerzpunkt der Leser zielend, wie Ajarry, eine junge Schwarze, in Afrika entführt und über die "Middle Passage" in die USA gebracht wird; misshandelt, vergewaltigt, zweimal am Selbstmord gehindert. Im "Gelobten Land" der Weißen ist sie eine Ware, verkauft und wiederverkauft, ihr Preis steigt und fällt mit der Nachfrage. Ihre Odyssee endet auf der Randall-Farm in Georgia, wo sie bis zum Umfallen arbeiten muss. Bis zum Tod.
    "Ajarry starb in der Baumwolle, während die Samenkapseln um sie herum hüpften wie Schaumkronen auf dem grausamen Ozean. Die Letzte ihres Dorfes, aufgrund eines Knotens in ihrem Gehirn zwischen den Reihen umgekippt, während Blut aus ihrer Nase strömte und weißer Schaum ihre Lippen bedeckte. Als hätte es irgendwo anders passieren können. Seit der Nacht, in der man sie entführt hatte, war sie immer wieder taxiert und neu taxiert worden und jeden Tag auf der Schale einer neuen Waage erwacht. Kenne deinen Wert und du kennst deinen Platz in der Ordnung. Der Grenze der Plantage zu entkommen hieß, den Grundprinzipien der eigenen Existenz zu entkommen: unmöglich."
    Dies wird erst Cora gelingen, Ajarrys Enkelin. Cora ist die Heldin des Romans, der "Passagier" der "Underground Railroad"; wir verfolgen ihre Flucht durch verschiedene Staaten mit unterschiedlichen Unterdrückungssystemen bis zu einem Treck in, vielleicht, die Freiheit.
    Zuvor führt uns der Autor aber ausführlich und mit allen schrecklichen Details das Leben auf der Baumwollplantage vor. Das Prinzip der Terrorcamps des 20. Jahrhunderts, Vernichtung durch Arbeit, findet sich hier bereits vollgültig ausgeprägt, verschärft durch Willkür und Sadismus.
    Einer der Herren, der bösartige Terrance, lebt "jede flüchtige und jede tief sitzende Fantasie an allen aus, über die er Gewalt hatte. Wie es sein gutes Recht war", so Colson Whiteheads sarkastische Formulierung. Ein geflohener und wieder eingefangener Sklave, Big Anthony, wird drei Tage lang zu Tode gefoltert - vor geladenen Gästen.
    "Am zweiten Tag traf in einer Kutsche eine kleine Schar von Besuchern ein, illustre Seelen aus Atlanta und Savannah. Feine Damen und Herren, die Terrance auf seinen Reisen kennengelernt hatte, dazu ein Zeitungsmann aus London, der gekommen war, um über die amerikanische Szene zu berichten.
    Sie aßen an einem Tisch, den man auf dem Rasen aufgestellt hatte, ließen sich Alices Schildkrötensuppe und Hammelfleisch schmecken und überlegten sich Komplimente für die Köchin, die diese niemals zu hören bekommen würde. Big Anthony wurde während der gesamten Mahlzeit ausgepeitscht, und sie aßen langsam. Der Zeitungsmann kritzelte zwischen den Bissen aufs Papier. Das Dessert wurde serviert, und die Speisenden verfügten sich ins Haus, um nicht von den Moskitos belästigt zu werden, während Big Anthonys Bestrafung fortgesetzt wurde."
    Unter welchen Bedingungen tut der Mensch Böses?
    Es braucht solch Szenen, auch wenn sie schwer erträglich sind. Aber anders als in filmischen Machwerken wie "Django Unchained" geht es Colson Whitehead nicht um das Bedienen eines perversen, wenn auch moralisch verbrämten Voyeurismus beim Leser; es geht vielmehr um die Selbstverständlichkeit, mit der hier vorgegangen wird.
    Whitehead schreibt sich mit seinem Roman auch in den großen Diskurs ein, der um die Frage kreist, warum und unter welchen Bedingungen der Mensch Böses tut. Die Antwort gilt für die Randall-Plantage ebenso wie für die Vernichtungslager des "Dritten Reichs": Der Mensch handelt böse, wenn er es darf, weil es ihm erlaubt ist, weil dem anderen das Menschsein abgesprochen wird.
    Die "Underground Railroad": Bei Colson Whitehead ist sie tatsächlich eine Eisenbahn, die durch endlose Tunnels führt. Ihre Bahnhöfe sind unter der Erde angelegt, zugänglich nur durch Falltüren und verborgene Treppen unter abgelegenen Scheunen. Whitehead nimmt die Metapher wörtlich, kehrt also den poetischen Mechanismus um, ein Kunstgriff, der dem Roman eine Drehung ins Fantastische verleiht. Das Netzwerk erscheint dadurch so unglaublich, wie es ja tatsächlich war.
    Die Drehung ins Fantastische: Diesen "Spin" wendet Whitehead auch in den folgenden Kapiteln an. Darin betritt Cora jeweils neue Welten, fremd wie die, in die es einst Gulliver verschlug, nur viel schlimmer. Im aufgeklärten South Carolina, der ersten Station nach der Hölle von Georgia, scheint alles in hellem Licht. Hier bekommen die Flüchtlinge neue Namen und Papiere, gelten aber als "Eigentum der Vereinigten Staaten". Sie gehen zur Schule, bekommen Arbeit.
    Die Masken fallen
    Cora hütet erst die Kinder einer weißen Familie, dann wird sie ans Museum versetzt, wo in lebenden Bildern Stationen der Sklaverei dargestellt werden. Cora soll hier diejenige spielen, die sie war, in einem afrikanischen Dorf, auf einem Sklavenschiff, auf der Plantage. Die Museumsbesucher sollen sich gruseln, sich aber auch an ihrer eigenen Fortschrittlichkeit berauschen. Für Cora ist es anfangs ein leichter Job, dann durchschaut sie aber die Heuchelei der Inszenierung und macht sich einen Spaß daraus, die Besucher bedrohlich zu fixieren.
    Überhaupt fällt die Maske des guten Bundesstaats bald. Hinter der vermeintlichen Philanthropie South Carolinas verbirgt sich ein perfider Plan zur Reduktion des schwarzen Bevölkerungsanteils. Frauen werden zur "strategischen Sterilisation" gedrängt, Männer heimlichen medizinischen Experimenten mit Syphilis ausgesetzt. Cora begreift: "Nicht mehr reine Ware wie ehedem, sondern Vieh: gezüchtet, kastriert. Eingepfercht in Wohnheimen, die Hühner- oder Kaninchenställen glichen."
    Eine Syphilis-Studie an ahnungslosen Schwarzen hat es in den USA tatsächlich gegeben, aber im 20. Jahrhundert und in Alabama. Auch hier geht es Colson Whitehead nicht um akribische Abbildung der Historie, sondern ums Grundsätzliche: Wie das großspurig sich "Land der Freien" nennende Amerika mit seinen Unfreien oder auch nur Unterprivilegierten umgesprungen ist.
    In North Carolina, der nächsten Station, ist die Angst vor der "Rache der schwarzen Hand" in Paranoia und Mordlust umgeschlagen. Man hat dort die Sklaverei abgeschafft, indem man die Sklaven abgeschafft hat. Auf den Plantagen schuften jetzt weiße Kontraktarbeiter, Schwarze sind im Land verboten. Wird doch einmal jemand ertappt, hängt man ihn vor johlendem Publikum auf. Von der Stadt aus führt eine "Straße der Freiheit", wie die Bewohner sie nennen, aufs Land, an jedem Baum hängt eine Leiche.
    "Die Leichen hingen wie verrottender Schmuck in den Bäumen. Manche waren nackt, andere teilweise bekleidet, die Hosen schwarz, wo sich die Eingeweide entleert hatten, als das Genick gebrochen war. Schwere Wunden und Verletzungen entstellten die Körper derer, die ihr am nächsten waren, der beiden, die von der Laterne des Stationsvorstehers erfasst wurden. Einer war kastriert worden; wo seine Männlichkeit gewesen war, klaffte ein hässliches Loch. Der andere war eine Frau. Die hervorquellenden Augen schienen Coras Blick zu tadeln, doch was war das Augenmerk eines einzigen Mädchens, das ihre Ruhe störte, verglichen damit, wie die Welt ihnen seit dem Tag, an dem sie ihr Licht erblickt hatten, mitgespielt hatte?"
    Vom Schicksal der Anne Frank inspiriert
    Cora wird von ihren neuen Beschützern im Spitzboden ihres Hauses versteckt. Von dort aus hat sie direkten Blick auf die Lynch-Spektakel auf dem naheliegenden Platz, muss das Geheul des blutdürstenden Mobs hören. Sie sitzt in der Falle. Für dieses Kapitel hat sich Whitehead inspirieren lassen von den Erinnerungen der Sklavin Harriet Ann Jacobs, die sich sieben Jahre auf einem Dachboden versteckte, aber auch vom Schicksal der Anne Frank.
    Man begreift Whiteheads Methode: keine tatsachengetreue Nacherzählung der historischen Verhältnisse, sondern deren Verschiebung ins Fantastische - und zugleich ihre Transzendierung ins Universale. Das reinrassige North Carolina war eine Fantasie der American Colonization Society, einer Vereinigung, die plante, die Schwarzen nach Afrika zurückzuführen, damit die USA wieder rein und weiß werden könnten. Ein solches Reinheitsphantasma geistert durch die Hirne von Ku-Klux-Klan-Mitgliedern und entspricht im Übrigen exakt der NS-Vision einer "judenreinen" Welt.

    Zu den historischen Analogien treten literarische. Die Straße der Gehängten erinnert an die entlang der römischen Via Appia aufgestellten Kreuze, an die die Überlebenden des Spartakus-Aufstandes geschlagen wurden (Arthur Koestler hat diese grauenhafte Szene in seinem Roman "Die Gladiatoren" ausgemalt). Und der große Gegenspieler Coras, der furchtbare Sklavenjäger Ridgeway hat einen literarischen Vorgänger im gnadenlosen Inspektor Javert in Victor Hugos Roman "Les Misérables".
    So ist "Underground Railroad" eine Art Enzyklopädie der Dehumanisierung: der Entrechtung, Unterdrückung, Verfolgung und Vernichtung von Schwarzen durch Weiße - aber auch ganz allgemein von Menschen durch Menschen. Jede Station auf Coras Reise stellt eine Verhöhnung der Unabhängigkeitserklärung dar, die den Roman hindurch immer wieder auftaucht und auf deren Menschenrechtsartikel die Schwarzen vergeblich ihre Hoffnung setzen.
    Sklaven im Jahre 1895 vor ihrer Hütte auf einem Baumwollfeld.
    Die Geschichte der Diskriminierung ist 1865 nicht zu Ende gegangen, wie die folgenden Jahrhunderte gezeigt haben, bis heute nicht (Imago / UIG)
    Sie gilt ebenso wenig für sie, wie die Raubverträge, die die Weißen mit den Indianern schlossen, das Papier wert waren, auf dem sie standen. Die beiden Urverbrechen, auf denen die Vereinigten Staaten gründen, Landraub und Menschenraub, wirken bis heute nach. Und auch die Gegen-Ideologie zu den hehren Menschenrechten, die Whitehead dem Sklavenjäger Ridgeway in den Mund legt: der "amerikanische Imperativ". Nach dem hat der Stärkere recht, weil er der Stärkere ist. Ungleichheit und Herrschaft sind gottgewollt.
    "Wenn die Nigger frei sein sollten, dann lägen sie nicht in Ketten. Wenn der rote Mann sein Land behalten sollte, dann besäße er es immer noch. Wenn es dem weißen Mann nicht bestimmt wäre, diese neue Welt in Besitz zu nehmen, dann würde sie ihm jetzt nicht gehören. Hier lag der wahre große Geist, der göttliche Strang, der alles menschliche Streben miteinander verband - wenn du es halten kannst, gehört es dir. Dein Eigentum, ob Sklave oder Kontinent. Der amerikanische Imperativ." Die Ideologisierung des Faktischen: Donald Trumps "America first" ist ein aktuelles Echo auf solches Denken.
    Aussichtlosigkeit versus widersinniger Hoffnung
    Colson Whiteheads Roman hat nur wenig Schwächen. Ein paar Seiten, auf denen Cora allzu deutlich das artikuliert, was der Autor denkt, ein gewisses Absinken an Spannung und Dichte gegen Ende. Aber die Stärken überwiegen bei Weitem. Sie liegen zum einen in der Formulierungskraft, mit der Ungeheuerliches immer wieder in einzelnen Sätzen zusammenschießt. Sie liegen in der geschickten Organisation des Romans, der Porträt- mit Staatenkapitel wechselt, der Road Novel mit Verfolgungsjagd und Stationendrama kombiniert.
    Sie liegen weiter in der Perspektive. Whitehead erzählt aus Coras Sicht, hält aber respektvollen Abstand und beansprucht nicht, Bewusstsein und Gefühlswelt einer als Sklavin aufgewachsenen Frau um 1850 nachbilden zu können. Er betrachtet sie vielmehr als das Wunder, das sie ist: jemand, der die Chancen nutzt, die er gar nicht hat. Die Stärken liegen schließlich in der Lakonie, mit der das Schreckliche, und in der Üppigkeit, mit der das Schöne geschildert wird: Letzteres meist nur in der Vorstellung, im Traum.
    Zwei Pole bestimmen das Kraftfeld des Romans. Da ist zum einen die Aussichtslosigkeit: Es gibt nirgends Sicherheit, jede Zuflucht ist prekär, "es endet immer in Gewalt". Auch die Musterfarm in Indiana, auf der Freie und Geflohenen Ackerbau und Handwerk betreiben, geht schließlich in Flammen auf. Die Geschichte der Diskriminierung ist 1865 nicht zu Ende gegangen, wie die folgenden Jahrhunderte gezeigt haben, bis heute nicht.
    Für den schwarzen Journalisten in Colson Whiteheads Roman "John Henry Days" war Rasse vermeintlich kein Thema; aber nachts träumte er vom Lynchen. In "Underground Railroad" zeigt Colson Whitehead, wo solche Träume herkommen.

    Gegenpol zur Aussichtslosigkeit ist die Hoffnung. Eine fast widersinnige Hoffnung, weil die Chancen auf Erfüllung so gering sind. Sie regt sich in jenen Sklaven, die die Sklaverei nicht verinnerlicht haben. In denen Überzeugung noch nicht erstickt wurde, dass es auch für sie ein anderes Leben als die Sklaverei geben muss, eines, das diesen Namen überhaupt verdient.
    In einer frühen Schlüsselszene, noch auf der Plantage, sieht Cora, wie ein zehnjähriger Junge schwer misshandelt wird, weil er das Hemd seines Herrn mit einem Tropfen befleckt hat.
    "Ein einziger Tropfen. Ein Gefühl senkte sich über Cora. Sie hatte schon seit Jahren nicht mehr unter dessen Bann gestanden, seit sie das Beil auf Blakes Hundehütte hatte herabsausen lassen, dass die Splitter flogen. Sie hatte gesehen, wie man Männer an Bäumen aufhängte und den Geiern und Krähen überließ. Wie man Frauen mit der neunschwänzigen Katze bis auf die Knochen aufschlitzte. Wie man lebendige und tote Körper auf Scheiterhaufen röstete. Wie man Füße abhackte, um eine Flucht zu verhindern, und Hände, um Diebstählen ein Ende zu machen.
    US-Präsident Obama spricht vor dem US-Verteidigungsministerium in Washington, D.C.
    Donald Trumps "America first" - wie der amerikanische Imperativ, nach dem der Stärkere recht hat, weil er der Stärkere ist (picture alliance / dpa / Andrea Harrer)
    Sie hatte gesehen, wie man Jungen und Mädchen, die jünger waren als dieser hier, geprügelt hatte, und sie hatte nichts unternommen. In dieser Nacht senkte sich das Gefühl wieder über ihr Herz. Es packte sie, und ehe die Sklavin in ihr den Menschen in ihr einholte, war sie als Schild über den Körper des Jungen gebeugt.
    Sie hielt den Stock in ihrer Hand, wie ein Sumpfbewohner mit einer Schlange hantiert, und sah die Verzierung an seiner Spitze. Der Silberwolf bleckte die Silberzähne. Dann hatte sie den Stock nicht mehr in der Hand. Er sauste auf ihren Kopf herunter. Er krachte erneut herunter, und diesmal rissen die Silberzähne ihr die Augenbrauen auf, und ihr Blut spritzte auf den Boden."
    Coras Aktion ist nutzlos, sie schadet sich und dem Jungen, beide werden grausam ausgepeitscht. Aber die Szene zeigt, was in Cora steckt, dass die Sklavin in ihr den Menschen nicht ganz überwunden hat. Später wehrt sie sich aktiv gegen ihre Verfolger, leistet sogar dem Sklavenjäger Widerstand, bis hin zu einer tödlichen Umarmung. Die inneren Ketten hat sie schon früh gesprengt.
    Die Schlussszene zitiert das Gleichnis des barmherzigen Samariters. Cora ist aus dem rettenden Tunnel herausgestiegen, kommt an einen Weg, lässt zwei Wagen passieren, auf denen Weiße sitzen. "Der dritte Wagen wurde von einem älteren Neger gelenkt. Er war gedrungen und ergraut und trug einen schweren Ranchermantel, der schon einiges an Arbeit mitgemacht hatte. Sein Blick war freundlich, befand sie. Vertraut, obwohl sie nicht wusste, woher. Der Rauch seiner Pfeife roch nach Kartoffeln, und Coras Magen knurrte.
    'Hast Du Hunger?', fragt der Mann. Seiner Stimme nach zu urteilen kam er aus dem Süden. 'Ich habe großen Hunger', sagte Cora. 'Dann komm hier rauf und nimm dir was', sagte er."
    Und Cora klettert zu ihm auf den Kutschkasten. Fährt mit ihm in Richtung Kalifornien. Es ist aber kein Ritt in den Sonnenuntergang eines Western-Happy-Ends. Und wer den Roman gelesen hat, wird die "Underground Railroad" nicht als Beweis dafür nehmen, wie herrlich weit es das "Land of the free", von dem die Nationalhymne trügerisch spricht, seither gebracht hat. Jede Zeitungslektüre belegt das Gegenteil. Bis zum Endbahnhof der Gleichberechtigung ist es noch ein gutes Stück.
    Colson Whitehead: "Underground Railroad". Roman.
    Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl.
    Hanser, München 2017, 350 S., 24 Euro