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Computerspiel „Disco Elysium“
Das wohl beste Game des Jahres

Ungewöhnlich, bizarr, intelligent: Das Rollenspiel „Disco Elysium“ ist ein wahnwitziger Trip. Ein Spiel, dass sich auf die Fahne geschrieben hat, dem Spieler wirklich interessante Entscheidungen abzuverlangen. „Disco Elysium“ kommt von einem kleinen estnischen Studio - und ist ein großer Wurf.

Von Christian Schiffer | 22.10.2019
Eine Szene aus dem Computerspiel "Disco Elysium" zeigt den Protagonisten inmitten einer dunklen Straße
Eine Szene aus dem Computerspiel "Disco Elysium" (Disco Elysium)
Einspieler: "The stench of liquor rises from your mouth. And with it an ungodly headache. A fiere streak penetrates your skull, trying to force your eyes open. It’s a sound. A clarion call from hell."
Ein übler Geschmack im Mund, Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen und gewaltige Kopfschmerzen: kein Zweifel - der kaputte Polizist, in dessen müde Haut man in "Disco Elysium" schlüpft, hat einen ganz üblen Monster-Kater. Er weiß nicht mehr, wo er ist, er weiß nicht mehr wer er ist. Und wo sein rechter Schuh hin ist, das weiß er auch nicht. Was der derangierte Gesetzeshüter ebenso nicht weiß: Er befindet sich gerade im irrwitzigsten, bizarrsten, fiebrigsten, intelligentesten und besten Computerrollenspiele der letzten Jahre.
"Pen & Paper"-Rollenspiele als Vorbild
Die Computerrollenspiele haben sich aus den sogenannten "Pen & Paper"-Rollenspielen entwickelt. Generationen von Teenagern haben ihre Sonntagnachmittage damit verbracht, mit Stift und Papier bewaffnet auf dem Dachboden Charakterbögen auszufüllen, Stufenaufstiege zu berechnen und Talentproben zu würfen. Hinter dem biederen und komplexen Äußeren der Spiele stand die Idee, eine Welt zu simulieren, die auf die Rolle reagiert, die man gerade spielt, etwa einen schnittigen Kämpfer oder eine geschickte Elfe. Meistens drehten sich solche Spiele um urige Fantasy-Welten. "Disco Elysium" nimmt dieses System und zimmert daraus etwas völlig Neues.
Das beginnt schon bei der Erstellung des eigenen Charakters. Wo man sonst oft nur entscheiden kann, ob das digitale Alter Ego ein kräftiger Haudrauf sein soll oder eher ein schmal-schultriger Intelligenzbolzen, warten bei "Disco Elysium" 24 Fähigkeiten darauf, weiterentwickelt zu werden, etwa Empathie zu zeigen oder enzyklopädisches Wissen. Und je nachdem, wie man seinen Charakter ausgestaltet hat, reagiert das Spiel anders: Hat man seinen alkoholkranken Cop mit besonders viel Klugheit und Wissen ausgestattet, wird sich dieser schnell zusammenreimen können, in welcher Stadt er aufgewacht ist, nämlich in Revachol, einer heruntergekommenen Hafenmetropole mit ranzigem Film-noir-Flair, die in wunderschön handgemalter und detaillierter Grafik erstrahlt. Und wer rhetorisch geschickt ist, hat vielleicht eine Chance mehr von der gelangweilt vor sich hin rauchenden Femme fatal im Treppenhaus zu erfahren:
"Hello officer, you have been here for three days… mostly drinking."
Liebe zum Medium Computerspiel
Denn eigentlich geht es in dieser bizarren Detektivgeschichte darum, einen Mord aufzuklären. Eigentlich. Denn in "Disco Elysium" kann man stattdessen auch Flaschen sammeln, Karaoke singen, Millionär, Kommunist oder ein libertärer Marktradikaler werden. Man trifft Gewerkschaftsbosse, knallt gegen Rollstühle, spricht mit Briefkästen. "Disco Elysium" reagiert auf alles, was man tut mit exzellent geschriebenen englischsprachigen Texten, nimmt jede Entscheidung des Spielers ernst, atmet aus jedem Pixel Ambition und Liebe zum Medium Computerspiel.
Das Spiel wird zurzeit mit hymnischen Kritiken geradezu überhäuft - und das völlig zurecht. Das Debüt des estnischen Indie-Studios ZA/UM ist eine Sensation. Wenn nicht schon so viele Computerspiele zum Citizen Kane der Computerspiele erklärt worden wären, sodass man sich mittlerweile zum Deppen macht, wenn man ein Computerspiel zum Citizen Kane der Computerspiele erklärt, man müsste Disco Elysium zum Citizen Kane der Computerspiele erklären. Und ein größeres Kompliment kann man dem besten Spiel des Jahres wohl kaum machen.