Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte nach Beratungen mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten in Berlin am 26. April angekündigt, dass sich ab Juni jeder um einen Impftermin bemühen kann - ohne Rücksicht auf die bislang geltende Reihenfolge bestimmter Impfgruppen. Die Termine würden dann "nach Maßgabe der Versorgung" gegeben.
Die Kanzlerin bekräftigte ihre Zusage, dass bis zum Ende des Sommers - bis 21. September - jedem Deutschen ein Impfangebot gemacht werden könne.
Allerdings wird es wohl den Sommer über dauern, bis für alle genug Impfstoff verfügbar ist. Eine feste Reihenfolge war wegen des anfangs absehbar knappen Impfstoffs eingeführt worden, um Menschen mit dem höchsten Risiko auf schwere und tödliche Covid-19-Verläufe zuerst zu schützen.
Der Beschluss zur Aufhebung der Impfreihenfolge war von einer kontroversen Debatte begleitet worden.
Die Debatte über die Aufhebung der Impfreihenfolge
Vor dem Impfgipfel hatten die niedergelassenen Ärzte in Deutschland gefordert, die Impfpriorisierung spätestens in zwei bis drei Wochen aufzuheben.
Auch Politiker wie Dietmar Bartsch, der Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, plädierten dafür, die Priorisierung schon im Mai fallen zu lassen. Wenn die Hochrisikogruppen geimpft seien, müsse die Impfung nach fester Reihenfolge beendet werden.
Der Vorsitzende der Bundesärztkammer, Klaus Reinhardt, sagte im Deutschlandfunk, dass er große Sympathien dafür habe, die Impfpriorisierung aufzugeben. Der organisatorische Aufwand sei groß - und man solle die Zeit lieber nutzen, um möglichst vielen Menschen eine Erstimpfung zukommen zu lassen. "Ich glaube, wenn wir jetzt mehr Impfdosen bekommen, dann würde die Impfpriorisierung aufhalten und dann würde die Zeit auch unter Umständen zu Lasten der Versorgung der anderen Erkrankten gehen", so Reinhardt. Insofern "täte man allen Beteiligten einen Gefallen und der Sache selbst auch, wenn man von dem Moment an, wo wir feststellen, dass die Impfdosen-Zahl in den Arztpraxen deutlich mehr wird, die Impfpriosierung aufgibt."
Argumente für die Priorisierung
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hatte sich für eine Aufhebung der Impfpriorisierung erst im Juni ausgesprochen. Knapp die Hälfte der Über-60-Jährigen sei aktuell schon mindestens einmal geimpft, im Mai könne bundesweit die letzte Priorisierungsgruppe 3 geimpft werden.
Dieser Meinung schloss sich auch der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission (STIKO), Thomas Mertens, an.
Er sagte im Deutschlandfunk
, solange der Impfstoff ein knappes Gut sei, müsse an der Impfpriorisierung festgehalten werden, um die Schwächsten zu schützen. Anfang Juni werde vermutlich genug Impfstoff vorhanden sein, um die Priorisierung aufheben zu können.
Abweichungen vom Impfreihenfolge
Die Impfpriorisierung war wegen der knappen Impfstoffmengen zum Schutz der am stärksten Gefährdeten von der STIKO ausgearbeitet worden. Im Beschluss der Bund-Länder-Runde vom 3. März 2021 heißt es jedoch: "Die tatsächliche Entscheidung der Priorisierung erfolgt nach jeweiliger ärztlicher Einschätzung vor Ort." Demnach kann von der Reihenfolge dann abgewichen werden, "wenn dies für eine effiziente Organisation der Schutzimpfungen oder eine zeitnahe Verwendung vorhandener Impfstoffe notwendig ist, insbesondere um den Verwurf von Impfstoffen zu vermeiden". Das gilt für Impfzentren und Hausärzte gleichermaßen.
"Hausärzte halten sich an die Vorschriften, aber sind pragmatisch", sagte der
Vorsitzende des Hausärzteverbandes, Ulrich Weigelt, im Deutschlandfunk.
Die Flexibilität werde sich im Rahmen der Vorgaben der Ethikkommission bewegen. Hausärzte hätten dabei die Möglichkeit, nicht nur nach dem kalendarischen Alter zu gehen. "Wir kennen die Menschen", sagte Weigelt. Individuelle Risiken könnten so berücksichtigt werden. Wenn die Impfstoffmenge ein bestimmtes Maß überschritten habe, müsse die Priorität sein, "den zugelassenen Impfstoff schnellstmöglich allen, die können und wollen, zu impfen", sagte Weigelt zudem Anfang April der "Rheinischen Post".
Strategiewechsel gefordert
Immer deutlicher wird in Deutschland zudem, dass sozial Benachteiligte in der Corona-Pandemie stärker gefährdet sind als der Rest der Gesellschaft. Daten belegen dies: So ist das Infektionsgeschehen in sozialen Brennpunkten sehr hoch, die Impfquote sehr niedrig. Das Thema Armut sei bei der Pandemie-Bekämpfung bislang weitestgehend ausgeblendet worden, sagte Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband im Dlf.
Der Verband der Intensivmediziner hatte berichtet, dass auf den Intensivstationen überdurchschnittlich viele Menschen aus ärmeren Bevölkerungsschichten, Menschen mit Migrationshintergrund und sozial Benachteiligte lägen. Der Verband forderte daher Länder und Kommunen dazu auf, verstärkt in sozialen Brennpunkten gegen das Coronavirus zu impfen, um die Krankenhäuser zu entlasten.
Arme Menschen und Migranten seien aber nicht deswegen so stark betroffen, weil sie die Regeln ignorierten oder kulturell anders handelten, sondern weil sie vor allem in prekären Verhältnissen arbeiten und leben,
sagte Aiman Mazyek, Präsident des Zentralrats der Muslime, im Deutschlandfunk
. Deshalb forderte Mazyek einen Strategiewechsel bei den Impfungen. "Wir müssen rein in die Ballungsgebiete", so Mayzek.
In Köln wurde dies im Mai mit einem Pilotprojekt umgesetzt: Mobile Impfteams suchten soziale Brennpunkte der Stadt auf und impften dort gegen Covid-19. In einigen Vierteln der Stadt lag die Sieben-Tage-Inzidenz im Frühling bei 600 und mehr.