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Corona-Literatur
Die Pandemie-Tagebücher französischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller

Die Auswirkungen der Corona-Pandemie betreffen so gut wie alle Lebensbereiche. Dennoch haben bisher nur wenige deutschsprachige Schriftstellerinnen und Schriftsteller Corona zum literarischen Thema erhoben. In Frankreich ist das anders, wie der Pariser Literaturwissenschaftler Jürgen Ritte erläutert.

Jürgen Ritte im Gespräch mit Dina Netz |
Der französische Regierungsbeamte, Schriftsteller und Literaturkritiker Marc Lambron, ist seit 2014 Mitglied der Académie française.
Marc Lambron schreibt im "Journal du Dimanche" ein Corona-Tagebuch (imago stock&people/Coupannec/Leemage)
Corona hat unser aller Leben gehörig verändert. Und so könnte man erwarten, dass auch Schriftstellerinnen und Schriftsteller sich intensiv mit der Pandemie befassen. Doch im deutschsprachigen Raum ist die literarische Auseinandersetzung mit Corona bisher eher eine Randerscheinung. Thomas Glavinic schreibt in der Tageszeitung "Die Welt" einen Fortsetzungsroman, Marlene Streeruwitz schreibt im Netz einen "Covid19 Roman". Arno Widmann hat "Szenen aus der frühen Corona-Periode" veröffentlicht.
Mitte Juni bringt der Schweizer Martin Meyer einen Corona-Roman heraus. Ansonsten sind bisher aber keine größeren Schwemmen an Corona-Literatur angekündigt. In Frankreich hingegen sind die Schriftsteller ziemlich präsent mit Texten zur Pandemie, sagt der Pariser Literaturwissenschaftler Jürgen Ritte.
Französische Autorinnen und Autoren legen verschiedene Textformen vor, die überwiegend in den Wochenzeitungen und in den Wochenendbeilagen der großen Tageszeitungen veröffentlicht werden: individuelle und kollektive Tagebücher, Graphic Novels, in denen sie die Coronakrise von Tag zu Tag begleiten, dokumentieren, über sie reflektieren. "Das, was man normalerweise in Internetblogs findet, hat damit in die Druckmedien ausgegriffen", beobachtet Jürgen Ritte.
Pandemie aus der Alltagsperspektive
Der Pariser Literaturwissenschaftler vermutet, dass es den Zeitungsverlagen und den Autoren mit diesen Corona-Tagebüchern darum geht, Nähe zu schaffen, "Intimität, eine enge Beziehung zur Zeitung und auch zum Autor". Im Gegensatz zu den großen Gesellschaftsmodellen, über die die Intellektuellen auf den Debatten-Seiten der französischen Zeitungen diskutierten, betrachteten die Schriftstellerinnen und Schriftsteller die Pandemie aus der Alltagsperspektive. Auch seitens der Autorinnen und Autoren gebe es das Bedürfnis, mit ihren Lesern ins Gespräch zu kommen, denn ihnen fehlt derzeit der Kontakt zum Publikum, "Lesungen sind abgesagt, viele Bücher nicht ausgeliefert".
Besonders überzeugend findet Jürgen Ritte die Texte des Romanautors Marc Lambron, der seit Beginn der Coronakrise im "Journal du Dimanche" jeden Sonntag sehr persönlich reflektiert und der die Pandemie als "Erinnerung daran, dass wir das Leben zu wenig genießen" deutet. Die Autorin Teresa Cremisi beobachtet von Italien aus den Alltag und flankiert ihr Tagebuch mit Fotos. Diesen klassischen Tagebuchbeiträgen steht zum Beispiel der "Canard enchaîné" gegenüber, das satirische Wochenblatt, das Zitate aus der tagesaktuellen Berichterstattung unkommentiert nebeneinanderstellt. In der Tageszeitung "Libération" illustrieren zwei Zeichner abwechselnd Szenen aus dem Corona-Alltag. Das Magazin "Le Nouvel Observateur" hat französische Autorinnen und Autoren gebeten, im Stil eines klassischen großen Autors über Corona zu schreiben - Pierre Michon zum Beispiel hat aus der Sicht von Gustave Flaubert erzählt. "Dieses Pastiche ist ein literarisches Amüsement, zum Teil sehr treffend gelungen", urteilt Jürgen Ritte.
"Fotoalbum" der Corona-Krise
Ob diese Texte für spätere Leser mehr als ein historisches Interesse haben werden und in ein Buch münden könnten, vermag Jürgen Ritte nicht zu sagen. Nicht alle Texte seinen so "ausgeschrieben" wie die Tagebucheinträge von Marc Lambron. Aber die Texte seien derzeit so etwas wie das "Fotoalbum" dessen, was wir alle erleben.
Als Grund dafür, dass sich in Frankreich so viel mehr Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu Corona äußern, vermutet Jürgen Ritte: "Französische Autoren sind schneller bereit, das zu schreiben, was man in Deutschland etwas abschätzig Gebrauchsliteratur, Boulevardliteratur nennt, Fingerübungen öffentlich vorzuführen." Sie griffen auch außerhalb der Corona-Pandemie schneller mit kleinen Texten in den öffentlichen Diskurs ein und träten nicht unbedingt mit dem Anspruch an sich selbst auf, ganz große Kunst vorzulegen.