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Coronakrise
"Unsere Gefühlswelt ist differenzierter geworden"

Das Coronavirus und die Maßnahmen zu seiner Bekämpfung hinterlassen auch in der Gefühlswelt der Menschen Spuren. Social Distancing sei dabei weniger problematisch als Social Shaming, sagte die Historikerin Ute Frevert im Dlf.

Ute Frevert im Gespräch mit Anja Reinhardt | 24.05.2020
Ute Frevert lehnt an eine Wand und lächelt in die Kamera.
Ute Frevert erforscht als Wissenschaftlerin unsere Gefühlswelt in Zeiten von Corona (imago/Hans Scherhaufer)
Das Misstrauen gegenüber anderen Menschen wächst. Das beobachtet die Historikern Ute Frevert in der Bevölkerung als Reaktion auf die zahlreichen Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus. Frevert arbeitet am Forschungsbereich "Geschichte der Gefühle" am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.
Die Fragen, die die Menschen sich momentan oft stellen würden, sind laut Frevert: Tragen die anderen auch immer eine Maske? Waschen sich alle regelmäßig die Hände? Hält sich mein Nachbar an den Mindestabstand? Genau das könne dazu führen, dass man den anderen viel misstrauischer anschaue. Die Folge sei aber nicht zwangsläufig soziale Kälte. Denn ein weiterer Effekt sei, dass wir unsere Gefühlswelt aufmerksamer betrachten würden und sie differenzierter geworden sei. Zum Beispiel müsse man sich auf andere Kommunikationsformen zurückbesinnen, wie etwa das Ablesen von Gefühlen an den Augen.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Disziplinierung nicht gut für "bürgerschaftliche Kommunikation"
Das "Social Shaming" dagegen finde in der Coronakrise durchaus eine Fortsetzung und gehöre "zu den eher unangenehmen Begleiterscheinungen", so Ute Frevert. Wenn der andere als potenzielle Bedrohung empfunden werde, dann neige man dazu, ihn erziehen zu wollen. "Das führt zu sehr hässlichen und konflikthaften Kommunikationsformen." Vereinzelt gebe es auch Menschen, die sich nicht an Regeln hielten und sich dabei als "Inkarnation von Bürgerwiderstand" verstünden. Dass diese "Free Rider" gemaßregelt würden, sei natürlich nachvollziehbar, geschehe aber manchmal auf eine Weise, die der bürgerschaftlichen Kommunikation nicht gut tue.
Vertrauen in eine Politik, die auf der Suche ist
Gedanken macht sich Frevert auch darüber, ob es vielleicht sogar eine kollektive Gefühlslage gibt. Anders als in anderen Krisen oder vor der Pandemie sei in Corona-Zeiten das Vertrauen in die Regierung sehr groß gewesen, so Frevert im Dlf. Das Vertrauen habe sich bei einer großen Mehrheit bis jetzt gehalten, trotz der Demonstrationen, die es gegen die Maßnahmen zur Bekämpfung der Krise gebe. Die Politik habe es geschafft, dass der Bürger bei der Suche nach Entscheidungen "gewissermaßen zugeschaut habe", bei einer "um Wahrheit und Wissen ringenden Regierung".