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COVID-19
Was aus den Infizierten bei Tönnies wurde

Als der Schlachthof von Tönnies in Rheda-Wiedenbrück im Juni Schlagzeilen machte, war schnell klar: Es geht um den bislang größten Corona-Infektionsherd in Deutschland. Über 2.000 Ansteckungen mit SARS-CoV-2 im Raum Gütersloh waren die Folge. Wie geht es den Infizierten heute? Eine Bilanz.

Von Magdalena Schmude | 01.09.2020
Das von der Firma Tönnies zur Verfügung gestellte Foto zeigt Mitarbeiter, die an ihren Arbeitsplätzen von Plexiglasscheiben voneinander getrennt von Tönnies geschlachtete Tiere im Stammwerk des Betriebes zerlegen.
Mitte Juli wurde die Fleischverarbeitung im Schlachthof der Firma Tönnies wieder aufgenommen - unter strengeren Auflagen zum Infektionsschutz (dpa-news / Tönnies)
Anne Bunte ist Leiterin der Abteilung Gesundheit der Kreisverwaltung Gütersloh. Sie kann sich noch genau an den Mittwoch im Juni erinnern, an dem aus nur wenigen Corona-Fällen unter den Arbeitern im Schlachthof Rheda-Wiedenbrück der bisher größte Ausbruch in Europa wurde: "Morgens, am 17. Juni, um 8.03 Uhr kam der Anruf von Professor Tiemann: Wir haben mehrere hundert positive Befunde. Das war irre, das können Sie mir glauben. Das war irre."
Vier von fünf Getesteten, die in der Schweinezerlegung im Schlachthof der Firma Tönnies arbeiten, sind zu diesem Zeitpunkt mit dem neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2 infiziert. Der Betrieb wird noch am selben Tag eingestellt und die gesamte Belegschaft untersucht. In den nächsten Tagen kommen weitere Fälle dazu. Anna Bunte: "Wir hatten exakt 1413 positive Befunde bei 6139 Laboreingängen."
"Die größte Sorge war: Geht das in die Bevölkerung?"
Später zeigen wissenschaftliche Untersuchungen: Die Umluft-Kühlanlage, die die Luft aus bestimmten Hallen kühlt und wieder zurückführt, hat die Verteilung der Viren begünstigt. Doch das wissen Anne Bunte und ihr Team zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Sie müssen schnell handeln: "Die große Sorge war ja: Geht das in die Bevölkerung? Reinigungspersonal: Arbeitet das vielleicht bei der Firma und dann auch in Pflegeeinrichtungen? Was ist mit Angehörigen?"
Deshalb wird für alle Angestellten der Firma Tönnies und ihre Haushaltsangehörigen eine Quarantäne angeordnet. Im Kreis Gütersloh sowie dem benachbarten Kreis Warendorf müssen wenig später erneut Kontaktbeschränkungen verhängt werden - wegen der stark angestiegen Zahl der Neuinfektionen.
Arbeiter verarbeiten Fleisch in einem Schlachtbetrieb. 
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Auf dem Höhepunkt des Ausbruchs wurden 34 Patienten stationär behandelt
Anne Bunte hofft währenddessen, dass die Maßnahmen Wirkung zeigen: "Was für mich immer der Indikator war, waren die Fälle in stationärer Behandlung. Da hatte sich einfach gezeigt, dass da die Zahlen angestiegen sind. Wir haben das Maximum gehabt am 28. Juni 2020. Da hatten wir 34 stationäre Fälle."
Laut NRW-Gesundheitsministerium lassen sich bis Ende Juli 2119 Corona-Fälle direkt dem Ausbruch bei Tönnies zuordnen. Die meisten Infizierten entwickeln milde Symptome oder können sich zu Hause erholen. Insgesamt 41 Personen erkranken in diesem Zeitraum aber so schwer, dass sie im Krankenhaus behandelt werden müssen. Zwei müssen sogar in eine Universitätsklinik verlegt werden.
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Keiner der Infizierten ist an COVID-19 gestorben
Heute gelten alle Infizierten als genesen und sind wieder zu Hause. Todesfälle, die direkt mit dem Ausbruch in Verbindung stehen, gibt es nicht, sagt Anne Bunte: "Wir hatten vor Tönnies 20 Fälle, wir haben heute noch 20 Fälle. Also wir haben keinen Todesfall gehabt. Aber man muss auch sehen: Es war eine bestimmte Gruppe Menschen betroffen - nämlich Menschen, die auch zum Teil schwer körperlich gearbeitet haben und damit natürlich auch eine andere gesundheitliche Voraussetzung mitbringen."
Die meisten Tönnies-Infizierten waren also in robuster körperlicher Verfassung. Dennoch erkrankten einige so schwer, dass sie ins Krankenhaus mussten.
Spätfolgen der Behandlung sind nicht ausgeschlossen
"Spannend wird ja auch sein, wie viele von denen, die stationär waren, im Endeffekt nachher bleibende Veränderungen haben werden. Sie sehen das ja überall: Es sind einerseits die Schäden, die sofort da sind, gerade nach langer Beatmung. Und andererseits die Frage: Was kommt an Spätfolgen, was wir heute noch überhaupt nicht absehen können?"
Im Kreis Gütersloh stabilisierte sich die Zahl der Neuinfektionen Mitte Juli wieder. Die Kontaktbeschränkungen wurden wieder aufgehoben und auch der Betrieb im Schlachthof wieder aufgenommen – unter strengeren Auflagen. Hochleistungsfilter sollen verhindern, dass sich das Virus über die Umluftkühlanlage verbreitet. Die Arbeiter werden jetzt zweimal wöchentlich auf eine Corona-Infektion getestet. Sie müssen stets einen chirurgischen Mund-Nasen-Schutz tragen und die Abstandregeln strikt einhalten, so Anna Bunte.
"Es sieht so aus, als ob die Maßnahmen gut greifen"
"In besonders sensiblen Bereichen, wo wir eine hohe Infizierungsrate gehabt haben, gibt es zusätzliche Maßnahmen wie zum Beispiel die HEPA-Filter. Und bisher sieht es ja so aus, als wenn die Maßnahmen gut greifen. Sie greifen, weil sie im Moment sehr konsequent umgesetzt werden."
Für eine Studie, die die Kreisverwaltung Gütersloh angeregt hat, werden derzeit die Erbgutsequenzen der Viren aus den positiven Tests untersucht. Damit soll der exakte Verlauf des Ausbruchs rekonstruiert werden. Die Wissenschaftler erhoffen sich davon Antworten auf die Frage, wie der Corona-Hotspot bei Tönnies entstand und wie sich ähnliche Ausbrüche künftig am besten verhindern lassen.
Mitarbeiterinnen verlassen das Gelände vom Schlachthof Geestland in Wildeshausen.
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Welche Lehren lassen sich aus dem Fall Tönnies ziehen?
"Das Allerwichtigtste ist, für die Zukunft zu lernen: Wie gestalte ich Betriebe pandemiefest? Wir haben ja nicht nur die Schlachthöfe. Auch viele andere Firmen, die im Kühlbereich arbeiten, die mit Werkvertragsarbeitnehmern arbeiten. Welche Konsequenzen ziehen wir daraus - das wird ja auch bundesweit diskutiert - um unsere Schulen, unsere Kitas und die anderen Einrichtungen einigermaßen sicher durch den Winter zu bringen?"
Die Laufzeit der sogenannten Gütersloh-Studie, an der neben dem Robert-Koch-Institut die Universitätskliniken Bonn und Düsseldorf beteiligt sind, beträgt sechs Monate. Erste Ergebnisse werden noch im September erwartet.
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