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"Da führt überhaupt kein Weg daran vorbei"

Die Lebensarbeitszeit der Menschen muss und wird verlängert werden, sagt Rentenexperte Meinhard Miegel. Jetzt müsse daran gearbeitet werden, dass eine Verlängerung der Erwerbstätigkeit auch umgesetzt werde.

Meinhard Miegel im Gespräch mit Dirk Müller | 10.08.2010
    Dirk Müller: Jetzt kommt die SPD erstmals seit Langem wieder in den Umfragen ganz gut weg, da weiß sie schon wieder nicht so recht was sie will, bei der Rente mit 67 zum Beispiel. Parteichef Sigmar Gabriel will von der längeren Lebensarbeitszeit abrücken, Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier hingegen will bei der 67er-Regelung grundsätzlich jedenfalls bleiben. Dabei hatte die SPD in Zeiten der Großen Koalition der Rente mit 67 nicht nur zugestimmt, sondern dieses Konzept unter Franz Müntefering maßgeblich miterarbeitet. Das Argument von Sigmar Gabriel, heute arbeiteten 65 Prozent der Deutschen nicht einmal länger als bis 60. Folglich geht es nach dem SPD-Vorsitzenden lediglich um eine Rentenkürzung. – Darüber sprechen wollen wir nun mit Rentenexperte Professor Meinhard Miegel. Guten Morgen!

    Meinhard Miegel: Schönen guten Morgen!

    Müller: Herr Miegel, ist die SPD wieder einmal dabei, die Realität zu verlassen?

    Miegel: Ja, in diesem Punkt schon. Was Steinmeier gesagt hat, ist ja vollkommen zutreffend. Er hat darauf hingewiesen, wie sich der Anteil älterer Menschen in Deutschland entwickeln wird und wie sich gleichzeitig der Anteil von erwerbsfähigen Menschen entwickeln wird, und die Ergebnisse sind vollkommen eindeutig. Die Lebensarbeitszeit der Menschen muss verlängert werden, sie wird verlängert werden und da führt überhaupt kein Weg daran vorbei.

    Müller: Die Lebensarbeitszeit einerseits formal oder formell auch zu verlängern auf 67 ist die eine Seite. Die andere Seite ist die Frage, wie lange arbeiten die Menschen, und auch da ist noch einiges im Argen.

    Miegel: Ja. Die Realität weicht von dieser Zielgröße ab, wobei man sich ja immer vor Augen führen muss, dass diese 67 nicht morgen oder übermorgen eingeführt werden sollen, sondern schrittweise bis zum Jahre 2029. Das sind also 19 Jahre, das ist ein sehr, sehr langer Zeitraum, wo eben jährlich der Renteneintritt um einen und dann in einer späteren Phase um zwei Monate verschoben werden soll.

    Wir sind weit davon entfernt, auch die Zahl haben Sie eben schon genannt. Ein großer Teil der Bevölkerung erreicht noch nicht einmal das 60. Lebensjahr und relativ wenige arbeiten heute bis zum 65. Lebensjahr, und insofern ist das Argument von Gabriel ja nicht falsch, wenn er sagt, dass eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit, wenn sie denn nicht realisiert wird, de facto zu einer Rentenkürzung führt. Aber diese Rentenkürzung ist auch durchaus gewollt, ganz einfach, weil das Volumen, was aufgebracht werden muss, um eine sehr stark wachsende Zahl von alten Menschen so zu versorgen wie bisher, gar nicht erbracht werden kann.

    Müller: Sie sagen das, Herr Miegel, klar und deutlich. Es geht de facto um eine Rentenkürzung bei der Rente mit 67?

    Miegel: Richtig.

    Müller: Weiß das die Bevölkerung?

    Miegel: Na ja, sie spürt es zumindest. Sie kann ja rechnen und wenn die Menschen sich sagen, ich werde nicht bis zum 67. Lebensjahr arbeiten, sondern nur bis zum 63. oder 65. Lebensjahr, dann bedeutet das, dass sie für jeden Monat, der ihnen bis zum 67. Lebensjahr fehlt, einen Rentenabzug von 0,3 Prozent hinnehmen müssen. Die meisten werden das schon mitbekommen, und so wird das ja auch diskutiert.

    Nur muss da der Bevölkerung reiner Wein eingeschenkt werden, wie ich eben schon sagte. Die Zahl der zu versorgenden nimmt rapide zu, die Zahl derer, die da versorgen sollen, nimmt rapide ab, und infolgedessen kann das bisherige Niveau nicht über Jahre und Jahrzehnte hinweg gehalten werden. Die Renten werden zurückgeführt werden, sie werden geringer werden, und das ist im Grunde schon beschlossene Gesetzeslage, nur hat das die Bevölkerung noch nicht so recht mitbekommen.

    Müller: Sie sagen, Herr Miegel, Steinmeier hat Recht; Sie sagen aber auch, Gabriel hat Recht, zumindest mit seiner Analyse. Hat er denn nicht auch politisch damit Recht, dass man erst einmal versuchen muss, viele Menschen möglichst lange in Arbeit zu halten?

    Miegel: Das ist vollkommen richtig. Man muss den Versuch unternehmen, dass das, was da von der Politik angestrebt wird, auch Realität werden kann, dass die Menschen also bis zum 65. und dann später bis zum 67. Lebensjahr arbeiten können. Aber selbst wenn sie nicht arbeiten können, wenn das Ziel nicht erreicht werden könnte, müsste immer noch festgehalten werden an diesem Konzept, Renteneintritt mit 67, mit den damit einhergehenden Rentenkürzungen, denn ich sage es zum dritten Mal: Das Volumen, was heute aufgebracht wird, kann bei einer stark steigenden Zahl von zu Versorgenden nicht aufgebracht werden.

    Müller: Und höhere Beiträge kommen auch nicht in Frage?

    Miegel: Na ja, gut, ich meine, man kann sagen, höhere Beiträge, aber der Widerstand der Bevölkerung gegen höhere Beiträge, der aktiven Bevölkerung, ist mindestens so groß wie der Widerstand der alten Bevölkerung gegen eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Das heißt also, wir bekämen dann einen richtigen großen gesellschaftlichen Konflikt.

    Müller: Ohne private Vorsorge geht nichts mehr?

    Miegel: Es muss parallel zur gesetzlichen Alterssicherung privat vorgesorgt werden. Die Bevölkerung muss sich darauf einrichten, dass wir auf mittlere Sicht (und zwar in allen Teilen der Bevölkerung; das betrifft ja nicht nur die Rentner, das betrifft ja auch die Pensionäre, das betrifft Hochschullehrer, das betrifft die Politiker, alle Bevölkerungsgruppen), sie müssen sich darauf einstellen, dass sie auf mittlere Sicht eine vom Staat organisierte Grundsicherung bekommen, und diese Grundsicherung, wie hoch die ist, ich sage mal, die liegt vielleicht bei 750 oder 800 Euro und was darüber hinausgeht, das muss privat vorgesorgt werden.

    Müller: Reden wir, Herr Miegel, noch einmal über die 60-Jährigen. Machen Unternehmer und Unternehmen große Fehler, wenn sie besonders die älteren nach Hause schicken?

    Miegel: Ja, das ist ganz offensichtlich, denn sie denken immer noch in Kategorien der Vergangenheit, wo genügend junge Menschen vorhanden waren, um die Arbeitsplätze besetzen zu können. Das war eine verhältnismäßig einfache Sache. Unternehmer haben gesagt, die über 60-Jährigen, die sind vielleicht nicht mehr so leistungsfähig, wir nehmen lieber 25- und 30-Jährige dafür. Das ging ja auch alles, das funktionierte ja. Nur künftig wird das nicht mehr funktionieren, das ist vollkommen ausgeschlossen.

    Es scheiden jedes Jahr ungefähr 40 Prozent mehr aus dem Arbeitsleben aus, als in das Erwerbsleben eintreten, und schon aufgrund dieser Verschiebung kann man sagen, es wird künftig nicht mehr möglich sein, die Arbeitsplätze älterer durch jüngere zu besetzen. Man muss also die Alten halten.

    Müller: Nun kommt in dieser Diskussion, Herr Miegel, von Kurt Beck, dem rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten, immer wieder das Dachdecker-Argument. Soll ein Dachdecker, der über 40 Jahre lang hart gearbeitet hat, tatsächlich bis 67 arbeiten?

    Miegel: Er wird es in vielen Fällen gar nicht können. Es gibt auch andere Berufsgruppen, ich denke an den Lastkraftwagenfahrer, der nachts über die Autobahn brettert. Die Vorstellung, dass der da mit 65, 67 Jahren noch so ein Pensum absolviert, ist aus meiner Sicht geradezu erschreckend. Nein, das kann und soll nicht sein.

    Nur müssen wir künftig ein anderes Arbeitsleben organisiert haben. Es muss also klar sein, der Dachdecker, der muss auch andere Optionen haben. Der kann auch noch anderen Tätigkeiten nachgehen. Der kann sich beispielsweise darum kümmern, dass Jungs in der Nachbarschaft Fußball spielen lernen oder so etwas. Das bedeutet, dass wir weg müssen von dieser starren Anbindung an irgendwelche Berufe, wie wir sie in der Vergangenheit entwickelt haben, sondern dass wir sagen, Erwerbstätigkeit ist auch noch mehr als jetzt die Ausübung eines ganz bestimmten Berufes.

    Müller: Und wer soll den Fußballtrainer-Job dann bezahlen?

    Miegel: Na ja, gut, das ist ja heute schon eine Regelung, dass wir sagen, es gibt diese gemeinnützigen Tätigkeiten. Diese gemeinnützigen Tätigkeiten werden auch von den Gemeinden mitgetragen, mit unterstützt. Das ist dann nicht mehr das Einkommen, das man während der eigentlichen Erwerbstätigkeit erzielt hat, aber es ist ein Einkommen.

    Müller: Herr Miegel, wenn ich Sie richtig verstanden habe: Klares Plädoyer von Ihrer Seite für die Rente mit 67, aber längst nicht für alle?

    Miegel: So ist es.

    Müller: Meinhard Miegel bei uns im Deutschlandfunk. Wir haben über das Thema Rente mit 67 gesprochen. Vielen Dank und auf Wiederhören.

    Miegel: Auf Wiederhören.