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"Da geht es darum, Leben zu retten"

"Die Situation ist verheerend", fasst Frank Dörner, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen, die Lage in Haiti zusammen. Große Teile der medizinischen Infrastruktur sei zusammengebrochen, was die Versorgung der Patienten schwierig mache. Deshalb müsse man sehr schnell neues Material und neues Personal ins Land bringen.

Frank Dörner im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 16.01.2010
    Jürgen Zurheide: 6 Uhr 52 ist für uns noch einmal die Zeit, uns mit der Lage in Haiti zu beschäftigen, nachdem wir es zu Beginn dieser Sendestunde schon getan haben. Wir wollen jetzt mit Ärzte ohne Grenzen sprechen, genauer mit dem Geschäftsführer Deutschland, Frank Dörner, der jetzt am Telefon ist. Guten Morgen, Herr Dörner!

    Frank Dörner: Guten Morgen, Herr Zurheide!

    Zurheide: Herr Dörner, Ihre Kollegen vor Ort – wir beide telefonieren aus Deutschland miteinander – Ihre Kollegen vor Ort haben in den ersten beiden Tagen schon mehr als 1500 Patienten behandelt. Was schildern Ihnen die Kollegen, die vor Ort versuchen, den Menschen zu helfen?

    Dörner: Die Situation ist verheerend. Man muss sich einfach vorstellen, dass die Infrastruktur wirklich innerhalb von einer Minuten zusammengebrochen ist, mit der wir eigentlich jahrelang gearbeitet haben. Die Krankenhäuser, in denen wir gearbeitet haben, sind nicht mehr funktionsfähig, eines der Krankenhäuser ist so schwer beschädigt, dass letztlich Personal und auch Patienten darunter verschüttet worden sind – also Situationen gerade zu Anfang der Zeit, wo wir auch mit einer Situation zu kämpfen hatten, die nicht nur die direkte Notwendigkeit der medizinischen Hilfe auf der einen Seite hatte, auf der anderen Seite aber auch die Sorge um die eigenen Mitarbeiter. Es ist auch nach wie vor so, dass von unseren 750 nationalen Mitarbeitern wir zum Teil nicht genau wissen, was mit ihnen passiert ist.

    Ja, und dann müssen Sie sich eine Situation vorstellen, in der wirklich keine medizinische Infrastruktur mehr funktioniert und wo die Notwendigkeiten zu helfen einfach so immens sind, dass eine Koordination sehr, sehr schwierig ist. Und es gibt natürlich Individualschicksale, die einfach ganz, ganz schrecklich sind.

    Zurheide: Nun hören wir gerade, Sie haben es angesprochen, bei der medizinischen Versorgung stellt es sich als außerordentlich schwierig dar, dass man ohne Krankenhäuser natürlich die Menschen nicht behandeln kann. Die Chirurgie wird da immer wieder genannt als eines der Hauptprobleme, weil gerade natürlich die Art von Verletzungen, die dort ist, chirurgische Eingriffe notwendig machen. Wie versuchen Sie damit umzugehen?

    Dörner: Ja, wir waren natürlich in der Lage, relativ schnell Notversorgung anbieten zu können, weil wie gesagt, wir sind seit 1991 im Land tätig, haben zu dem Zeitpunkt, als das Unglück geschah, drei Schwerpunktzentren, zwei Krankenhäuser, in denen wir gearbeitet haben, und ein Gesundheitszentrum, sodass wir Materialien vor Ort hatten, die natürlich zum Teil auch erst mal geborgen werden mussten. Wir hatten aber auch trainiertes Personal, was natürlich schnell zur Verfügung stand, sodass wir improvisieren mussten, aber auch schon nach wenigen Stunden in der Lage waren, Akutbehandlung anbieten zu können, das heißt aber in erster Linie Wundbehandlung.

    Die chirurgische Intervention bedarf natürlich einiger Vorbereitungen und bedarf auch Grundvoraussetzungen der Hygiene etcetera, die geschaffen werden müssen unter sehr primitiven Voraussetzungen. Dann müssen Sie sich zum jetzigen Zeitpunkt vorstellen, dass natürlich nur ein Teil des Personals überhaupt zur Verfügung steht in dem ganzen Land, und die wenigen, die dort arbeiten, sind natürlich extrem überarbeitet. Das heißt, was für uns ganz, ganz wichtig ist zum jetzigen Zeitpunkt, ist neues Material, neues Personal aber auch reinzubringen, um einfach die Leute zu ersetzen, die am Rande ihrer Belastungsfähigkeit schon seit Langem sind.

    Zurheide: Schildern Sie uns das mal ganz praktisch. Ich lese hier, dass die Kollegen bei einem Krankenhaus, das mehr oder weniger zusammengestürzt ist, die Patienten jetzt auf dem benachbarten Parkplatz behandeln. Wie muss ich mir das vorstellen?

    Dörner: Na, Sie müssen sich vorstellen, dass wir natürlich dann Zelte aufschlagen. Wir haben Notfallpräventionsmaßnahmen natürlich vorher auch schon getroffen, das heißt also einen sogenannten Notfallplan erstellt, der natürlich auch beinhaltet, dass bestimmte Materialien vorgehalten werden, Zelte vorgehalten werden, die dann eingesetzt werden, um mobile Kliniken aufzubauen. Aber das hat natürlich auch seine Limitation, das ist ganz klar. Das heißt, sie sehen erst mal zu, dass sie einen Platz schaffen, in dem eine sogenannte Triage durchgeführt werden kann, wo man einfach die Leute, die ankommen, die hingebracht werden, wirklich in verschiedene Gruppen einteilen kann – die Schwerstverletzten zuerst behandeln kann, die wirklich eine akute Lebensgefahr noch haben, diejenigen, die am leichtesten verletzt sind, können in der Regel am längsten noch warten. Und dann muss man zusehen, dass man halt wirklich das so gut organisiert, dass auch die Struktur, die man letztlich dann schafft, auch funktional sein kann.

    Zurheide: Jetzt haben Sie ein paar Mal gesagt, das muss man dann so gut organisieren, nur wie organisiert man, wenn natürlich Kommunikationswege schwierig sind, es wird nicht alles über Satellitentelefone laufen können, und die Hilfe, die auch unterschiedlich jetzt kommt, muss ja koordiniert werden. Wer tut das, sehen Sie da genügend Möglichkeiten?

    Dörner: In einer akuten Situation wie dieser, da muss man ganz klar sagen, sind das sehr eingeschränkte Möglichkeiten, die zur Verfügung stehen, das ist ganz klar. Da geht es darum, Leben zu retten. Und wie gesagt, also eine Organisation, die sich auf Notfallintervention spezialisiert so wie Ärzte ohne Grenzen hat natürlich ihre Pläne schon vorher gemacht. Wir sind wie gesagt lange in dem Land tätig, das heißt, wir sind indirekt auf so eine Situation natürlich vorbereitet. Auch wenn sie sich keiner wünscht, wissen wir, dass so etwas passieren kann. Das heißt, Sie haben ihre Ablaufpläne, das heißt, Sie haben ihre Materialien auch, die ganz klar strukturiert sind, medizinisches Material, Antibiotika, Infusionslösungen. Sie wissen, wer was zu tun hat, und dann müssen Sie halt zusehen, dass die entsprechenden Personen natürlich auch zur Verfügung stehen. Und dann fokussieren Sie im ersten Moment natürlich darauf, dass sie schnell funktional sein können, dass sie schnell den Leuten notfallmedizinische Hilfe leisten können. Und im Weiteren gucken sie dann natürlich, wie die Koordination ablaufen muss. Aber wie Sie auch aus den Bildern gesehen haben, es gibt wesentlich zu wenig Unterstützung in diesem Moment. Und auch wenn die Hilfsbereitschaft der internationalen Gemeinschaft sehr groß ist, ist es ja kaum möglich, alles zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt dort anzulanden und die Leute, die wirklich gebraucht werden, das Material auch ins Land überhaupt hineinzubringen. Das heißt, diejenigen, die dort arbeiten, sehen zu, dass sie ihre Arbeit halt möglichst schnell machen. Die Koordination ist dabei natürlich wichtig, aber ist gerade im medizinischen Bereich die sekundäre Priorität.

    Zurheide: Ich bedanke mich herzlich für das Gespräch. Das war Frank Dörner, der Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen aus Deutschland zur Lage in Haiti. Herzlichen Dank, Herr Dörner!

    Dörner: Vielen Dank, Herr Zurheide!