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"Da gibt es einen Negativfilter" bei Erdogans Reden

Der türkische Ministerpräsident formuliere bisweilen missverständlich, aber es gebe eben "auch welche, die ihn ganz bewusst missverstehen wollen", sagt Cem Özdemir. Erdogan habe sich "mit Frau Merkel gut arrangiert". Eine rot-grüne Regierung würde "Druck machen auf Reformen in der Türkei", so der Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen.

Cem Özdemir im Gespräch mit Dirk Müller | 31.10.2012
    Dirk Müller: Blicken wir auf eine andere Seite: auf die türkische. Was steht dort auf der Negativliste, wenn der eigene Regierungschef nach Deutschland reist' Die Mordserie der Zwickauer Terrorzelle zum Beispiel, das Hin und Her in Sachen EU-Beitritt und eine Integrationspolitik, die gar keine ist – so die türkische Sicht. Und nun umgekehrt die deutsche Sicht auf die Türkei: Zunehmende Islamisierung der Politik, Unterdrückung der Minderheiten, zu wenig Rechtsstaat. Genügend Schwierigkeiten also, die zu beheben sind zwischen Angela Merkel und Recep Tayyip Erdogan heute in Berlin. – Am Telefon ist nun Grünen-Chef Cem Özdemir. Guten Morgen!

    Cem Özdemir: Guten Morgen, Herr Müller!

    Müller: Herr Özdemir, warum werden wir mit Erdogan nicht Freund?

    Özdemir: Das ist eine gute Frage. Ich habe so das Gefühl, dass mittlerweile die Erdogan-Reden in der Bundesrepublik Deutschland schon so nach einem gewissen Ritual ablaufen. Das heißt, er könnte eigentlich auch eine Rede von Franz-Josef Strauß auswendig vortragen, in bestem Bayrisch; die Textbausteine der CSU, aber auch von anderen Politikern wären trotzdem dieselben. Ich glaube, das ist für Teile der Union mittlerweile Identitätsbild. Nachdem andere Bestandteile der Identität, Schulpolitik, Atomausstieg, weggefallen sind, braucht man, glaube ich, so ein bisschen die Türkei, um noch mal zu zeigen, dass man auf der richtigen Seite im politischen Spektrum steht. Ich meine, der Mann hat diesmal sogar gefordert, dass man Kant und Goethe lesen soll, der Staatspräsident forderte, dass man akzentfrei Deutsch sprechen kann. Mein Eindruck ist, da gibt es einen Negativfilter für seine Reden. Das soll nicht alles rechtfertigen, was er sagt, auch an Missverständlichem. Da haben sich sicherlich auch zwei gefunden: einer, der missverständlich formuliert, aber eben auch welche, die ihn ganz bewusst missverstehen wollen.

    Müller: Aber wir haben doch schon immer richtig übersetzt, beziehungsweise die Medien haben das richtig übersetzt, was Erdogan in der Vergangenheit gesagt hat. Wir haben eben ja auch seine Rede in Auszügen gehört, vor vier Jahren in Köln. Das war harter Tobak!

    Özdemir: Ja ich kann mich aber auch daran erinnern, wie einige Journalisten zu mir kamen nach seiner letzten Rede, nach seinem letzten Auftritt in Berlin, und richtig enttäuscht waren, und ich dachte schon wieder, weil ich ja nun als Deutsch-Türke oder als anatolischer Schwabe so ein bisschen gewöhnt bin, nach seiner Rede immer in Deckung zu gehen, weil die Fetzen fliegen. Ihre Kollegen waren sehr enttäuscht und ich fragte, was ist denn los, was hat er für einen Bock abgeschossen. Und die Enttäuschung rührte daher: er hat ja nur über Integration gesprochen, er hat ja nur gesagt, die Leute sollen Deutsch lernen, er hat ja nur gesagt, man soll sich hier anpassen. Also Sie merken: das bestätigt schon meine These, dass es da ein gewisses Ritual gibt. Man wünscht sich auch einen Erdogan in Deutschland. Noch mal, um das klar zu sagen: Erdogan ist ein Machtpolitiker, Erdogan spielt auf der Klaviatur des Populismus wie kein anderer, und bedauerlicherweise wird auch der türkische Wahlkampf immer mehr nach Deutschland reingezogen. Aber auch das hängt eben damit zusammen, dass man den Deutsch-Türken hier die Staatsbürgerschaft über viele Jahre verweigert hat, und jetzt sind eben gerade Menschen der ersten Generation Staatsbürger in der Türkei und können damit auch in der Türkei wählen und sind damit natürlich auch eine Zielgruppe.

    Müller: Also ist das ja doch kein ernsthaftes Problem von Erdogan, habe ich Sie da falsch verstanden?

    Özdemir: Es ist ein Problem von beiden Seiten. Mittlerweile sind wir an dem Punkt angekommen, die Türkei tut so, als ob sie nach wie vor ernsthaft verhandeln würde mit dem Ziel der Mitgliedschaft und daran glauben würde, und Frau Merkel und andere in Berlin, aber auch in Brüssel tun so, als ob sie ernsthaft der Türkei die Mitgliedschaft anbieten würden. Diese So-ob-Verhandlungen, die schaden beiden Seiten. Sie schaden der Türkei, weil sie dort falsche Akzente setzen mit einer Wegorientierung von Europa, mit einem Selbstbewusstsein, das auch gefährlich ist für die Türkei selber, weil es die eigenen Karten falsch einschätzen lässt. Und hier schadet es uns auch, weil wir gerade jetzt im Zusammenhang mit dem Syrien-Konflikt, aber auch mit der ganzen arabischen Region, mit Nordafrika dringend eng zusammenarbeiten müssten mit der Türkei.

    Müller: Aber wenn Sie sagen, Herr Özdemir, die Türken wollen gar nicht mehr nach Europa, beziehungsweise Erdogan will im Grunde gar nicht in die EU, dann haben wir doch ein Problem weniger.

    Özdemir: Nein, das habe ich nicht gesagt. Ich glaube, die Mehrheit der Türken würde nach wie vor wollen, aber sie hat den Glauben daran verloren, und man weiß ja, dass das Wachstum in den letzten Jahren der Türkei natürlich auch das Selbstbewusstsein der Türkei massiv gestärkt hat und viele in der Türkei haben den Glauben verloren und antworten auf die entsprechenden Fragen bei Umfragen eben mit einem Nein, nach dem Motto: wenn die uns nicht wollen, dann wollen wir auch nicht.

    Bei Herrn Erdogan verhält sich es ein bisschen anders. Ich bin mir gar nicht so sicher, ob er wirklich glücklich wäre, wenn es in Deutschland andere Mehrheiten gäbe. Er hat sich meines Erachtens mit Frau Merkel gut arrangiert, denn eine rot-grüne Regierung wäre für ihn eher unangenehm. Wir würden Druck machen auf Reformen in der Türkei, weil wir sagen würden, wenn ihr da rein wollt in die Europäische Union, dann macht mal bitte gefälligst und beeilt euch in Sachen kurdisches Problem, in Sachen religiöse Minderheiten, in Sachen Rechtsstaatlichkeit, Demokratie. Frau Merkel redet da zwar auch davon, aber so ein bisschen mit einem Augenzwinkern, nach dem Motto: Das steht bei mir auf dem Textbaustein, ich muss das halt sagen, aber ihr kommt nicht rein und ihr wollt ja auch nicht rein und alle sind glücklich.

    Müller: Ist Erdogan ein lupenreiner Demokrat?

    Özdemir: Das hat sich schon mal nicht bewährt, das über Politiker anderer Staaten zu sagen; also werde ich es auch nicht sagen. Ich bin mir nicht sicher, ob Herr Schröder noch glücklich ist mit der Äußerung diesbezüglich über Putin. Erdogan ist ein klassischer Politiker, dem es nicht gut tut, zu lange allein zu regieren. Er regiert das dritte Mal alleine in der Türkei mit einer relativ schwachen Opposition. Das tut keinem Land gut, erst recht nicht einem Land, wo die Demokratie noch nicht gefestigt ist.

    Müller: Also er ist ein bisschen Demokrat?

    Özdemir: Herr Erdogan ist jemand, der versucht ist, die Macht nicht als geliehene Macht zu betrachten. Das merkt man immer wieder, das sieht man ja nun auch an den Auseinandersetzungen innerhalb der AKP. Ich glaube, der Türkei würde es gut tun, wenn es eine stärkere Opposition gäbe, und Herrn Erdogan würde es gut tun, wenn er wieder stärker auch Kritiker in der eigenen Partei hat und nicht die Türkei zu einer Art modernerem Russland macht. Die Türkei kann nicht nur auf Wirtschaftswachstum setzen, sie braucht zum Wirtschaftswachstum eben auch die parlamentarische Demokratie mit einem starken Rechtsstaat.

    Müller: Gut, dass wir uns immer über Russland und die Türkei jetzt unterhalten können. Gelenkte Demokratie fällt da einem ein, was Sie jetzt gerade gesagt haben. Ist die Türkei eine gelenkte Demokratie?

    Özdemir: Die Türkei ist eine parlamentarische Demokratie mit Wahlen, mit allem, was dazugehört, aber das Justizsystem war lange Zeit geprägt davon, dass Meinungsfreiheit ganz offensichtlich klein geschrieben wurde. Wir erinnern uns an die Rolle der Militärs früher. Das hat sich Gott sei Dank verändert. Aber das, was stattdessen jetzt da ist, statt dem Einfluss der Militärs, das darf eben nicht der Einfluss einer Partei künftig sein, und da hat die Türkei noch ein großes Defizit. Ich will da allerdings nicht nur die AKP und Herrn Erdogan dafür verantwortlich machen; auch wir haben nicht unbedingt geholfen, die richtigen Anreize zu setzen – denken Sie an den Zypern-Konflikt, wo die Türkei ja sich in die richtige Richtung entwickelt hatte, sich für die Wiedervereinigungslösung auf Zypern eingesetzt hat. Dann haben sich im Süden, im griechischen Teil Zyperns, die Nationalisten durchgesetzt. Wäre das anders ausgegangen, glaube ich, hätte man der Türkei auch die richtigen Anreize gesetzt. Die Reaktion der Türkei war, die Europäer meinen es nicht ernst, die halten ihr Wort nicht, wenn man mit denen eine Vereinbarung trifft. Und das hat sicherlich nicht unbedingt dazu beigetragen, dass die pro-europäischen Kräfte gestärkt worden sind.

    Müller: Herr Özdemir, wenn ich das noch mal zusammenfassen darf, die vielen Spiegelstriche, die ich mir während unseres Gesprächs notiert habe, dann kann man schon definitiv sagen, die Türkei ist noch nicht europatauglich?

    Özdemir: Also zum heutigen Tage ist die Türkei noch nicht reif, Mitglied zu werden. Aber sie hat sich erstaunlich verändert. Niemand hätte vor Jahren sich vorstellen können, dass man in der Türkei heute offen über die kurdische Frage reden kann, dass die Situation von Christen sich verbessert. Aber die Türkei hat noch einen langen Weg vor sich. Unser Ziel muss es sein, die Türkei auf diesem Weg zu halten, diesen Weg gar zu beschleunigen und alles dafür zu tun, dass die Türkei nicht andere Wege einschlägt.

    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Grünen-Chef Cem Özdemir. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Özdemir: Danke ebenfalls!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.