Archiv


"Da ist keine innere Glaubwürdigkeit mehr"

Das auf drei Monate begrenzte AKW-Moratorium sei ein "mehr als fragwürdiger Schritt", der "im Kontext von Wahlkämpfen" zu sehen sei, sagt Utz Classen, Ex-Vorstandschef der Energie Baden-Württemberg AG (ENBW). Die Fragen, mit denen sich die Reaktorsicherheitskommission befassen will, seien in drei Monaten nicht lösbar.

Utz Classen im Gespräch mit Jasper Barenberg |
    Jasper Barenberg: Noch nichts ist entschieden, heißt es dieser Tage in der Koalition aus Union und FDP – einerseits. Andererseits fordert FDP-Generalsekretär Christian Lindner mittlerweile, alle vorläufig vom Netz genommenen Atomkraftwerke dauerhaft abzuschalten, kann sich das inzwischen selbst Unions-Fraktionschef Volker Kauder vorstellen, gesteht Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, dass ihre CDU die Dringlichkeit der notwendigen Energiewende verschlafen hat. Für einen möglichst raschen Ausstieg aus der Atomenergie werben im Übrigen auch einige der Mitglieder der Ethikkommission, die heute ihre Beratungen aufnimmt. Kommt Deutschland also gut aus, ohne Atomkraftwerke, ohne Atomenergie? – Am Telefon begrüße ich Utz Claassen, lange Jahre Vorstandschef der ENBW, Energie Baden-Württemberg AG, heute unter anderem Honorarprofessor an der Universität von Hannover. Einen schönen guten Morgen, Herr Claassen.

    Utz Claassen: Guten Morgen, Herr Barenberg.

    Barenberg: Herr Claassen, reiben Sie sich angesichts der rasanten Kehrtwende der Regierung immer noch die Augen?

    Claassen: Ja es ist teilweise schon kaum zu glauben, was sich dort vollzieht. Es sei vorab gesagt: Dass die Ereignisse in Fukushima keinen Menschen auf dieser Welt unberührt lassen, ist vollkommen klar. Was dort passiert ist, lag für die allermeisten von uns, wahrscheinlich für alle von uns außerhalb der Vorstellungskraft. Aber ich will ausdrücklich sagen: Alle bisherigen Kernkraftgegner können sich völlig legitim, wenngleich natürlich auf tragische Weise, durch diese Ereignisse bestätigt fühlen. Sie haben alles Recht der Welt, jetzt ihre langjährigen Forderungen noch deutlicher, noch lauter vorzutragen. Wie schnell indes der eine oder andere bisherige Kernkraftbefürworter über Nacht seine Meinung ins Gegenteil verkehrt hat, das ist schon erstaunlich, vor allem, wenn man dann die Argumente sieht. Wenn man sieht, dass jetzt Meiler abgeschaltet werden sollen wegen des Risikos beispielsweise von Flugzeugabsturz – das wird ja stark thematisiert -, das Risiko war vor einem Jahr genauso gegeben wie heute. Also wie jemand vor einem Jahr eine Laufzeitverlängerung beschließen konnte, in Kenntnis derselben Risikolage Flugzeugabsturz, um jetzt zu argumentieren, vor dem Hintergrund Flugzeugabsturz müsse man Meiler möglicherweise sofort vom Netz nehmen, da ist keine innere Glaubwürdigkeit mehr, keine logische Konsistenz, da kann man sich eigentlich nur noch wundern.

    Barenberg: Sie haben selbst vor einigen Tagen, Herr Claassen, eingeräumt, an der Spitze damals eines Betreibers von Atomkraftwerken das Thema Restrisiko tabuisiert zu haben. So haben Sie sich ausgedrückt. Hat die Atomwirtschaft auch insgesamt die Gefahren ausgeblendet?

    Claassen: Ja, ich persönlich habe das Thema nie tabuisiert. Ich habe es offen angesprochen und bin dafür auch aus Kollegenkreisen und Kernkraftbefürworterkreisen massiv kritisiert worden. Ich habe beispielsweise vor vier Jahren schon gefordert oder vorgeschlagen, den Kernenergieausstieg sogar als strategisches Ziel in die Verfassung, ins Grundgesetz aufzunehmen und die Ausstiegsmodalitäten dann je nach Erkenntnisfortschritt über Ausbaumöglichkeit der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz zu handhaben, und bin damals massiv nicht nur vom Deutschen Atomforum, sondern auch von Teilen der Politik, insbesondere aus Teilen der CDU, kritisiert worden für diesen Vorstoß, mit dem man ja die langfristige Option Kernkraft aufgäbe. Und ich sage Ihnen ganz offen: Man wundert sich dann schon zu sehen, dass der eine oder andere, der einen damals massiv kritisiert hat, heute öffentlich feststellt, er sei eigentlich schon immer gegen die Kernenergie gewesen, es sei immer klar gewesen, dass das nur Brückentechnologie sei, und sich jetzt in einen Wettlauf um den schnellsten Ausstieg begibt.
    Also noch mal: Alle Kernkraftgegner haben volles Recht, sich jetzt bestätigt zu fühlen und ihre Forderungen zu forcieren. Aber wie ehemalige Kernkraftbefürworter über Nacht ihre Argumente aufgegeben haben, das verwundert. Und auch dazu noch einen Satz: Dass man nach Fukushima jetzt Dinge noch mal neu bewertet, die Frage, ob Naturgewalten auch bei uns eine stärkere Dimension annehmen können, als das erwartet war, die Frage der Ableitung radioaktiven Dampfes im Falle einer Überhitzung, die Frage Notstrom-Aggregate und Ähnliches, also all die Fragen, mit denen sich jetzt die Reaktorsicherheitskommission befassen will, das ist vollkommen richtig, das ist vollkommen vernünftig, aber das ist in drei Monaten nach Einschätzung aller Fachleute, mit denen ich gesprochen habe, gar nicht lösbar, und insofern ist auch ein auf drei Monate begrenztes Moratorium ein mehr als fragwürdiger Schritt, der ganz offenkundig ja auch im Kontext von Wahlkämpfen und Ähnlichem zu sehen ist. Das ist ja völlig außer Frage.

    Barenberg: Auf der anderen Seite, Herr Claassen, liegen die Pläne für eine andere Energieversorgung, nämlich mit erneuerbaren, ja längst in den Schubladen von wissenschaftlichen Instituten und anderen Einrichtungen. Also wann kommt Deutschland ohne Atomkraft aus?

    Claassen: Sie werden von mir nicht erwarten, dass ich mich da heute auf ein konkretes Jahr festlege, denn das hängt unter anderem ja auch davon ab, wie schnell der Netzausbau gelingen kann, wie schnell die Netzflexibilisierung gelingen kann. Es hängt davon ab, wie schnell auch die Fortschritte bei der Energieeffizienzerhöhung gelingen können. Aber eines ist völlig klar: Wir müssen langfristig – übrigens nicht nur in Deutschland, sondern in der Welt – in eine rein regenerative globale Energiewirtschaft kommen, die Solar-, Windenergie getrieben, Wasserenergie getrieben, Geothermie getrieben sein kann und muss. Das ist auch möglich. Das ist aber nicht über Nacht möglich und das ist auch nicht über Nacht möglich in einem Land, was bisher auch substanziell von der Kernenergie abhängt wie Deutschland, und es ist schon gar nicht zum Nulltarif möglich. Das heißt, man muss den Menschen ganz ehrlich sagen, wir werden alle Anstrengungen jetzt noch deutlich weiter verschärfen, und das können wir auch, das müssen wir auch, die erneuerbaren noch schneller auszubauen, die Energieeffizienz noch weiter zu erhöhen, aber man muss auch sagen, wenn ihr schneller aus der Kernenergie raus wollt, das wird Geld kosten, das wird auch Strompreise erhöhen und es wird auch temporär zu einer höheren Emission von CO2-Emissionen führen und damit temporär auch den Klimawandel etwas forcieren.

    Barenberg: heute Morgen im Deutschlandfunk, Utz Claassen. Danke für das Gespräch!

    Claassen: Bitte, Herr Barenberg.


    Link:
    Atomkraft (dradio.de-Sammelportal)