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Dämmerreich

Ein Buch wie ein Traum. Ein Buch, dass ins Vergessen strebt und sich nur durch offensive Gegenwehr des Lesers im Gedächtnis halten lässt. Träume versinken gewöhnlich mit der Dämmerung wieder im Reich des Unbewussten. Wer Wert auf seine Träume legt, weiß, er muss sie vorher packen. Aufschreiben. Jemandem erzählen. Sonst sind sie verloren. Kurioserweise verhält es sich genauso mit Stefan Beuses neuem Roman Meeresstille .

Brigitte Neumann | 10.02.2004
    Man liest ihn, verbringt mit der kleinen Geschichte eines gespenstischen Familienurlaubs im Périgord höchstens zwei Stunden und wenn man nicht Acht gibt, hat man anderntags nicht viel mehr in Erinnerung als ein paar Bilder, Traumsymbole wie das leere Karussell, den Absturz ins Bodenlose oder Märchenmotive wie das Haus im dunklen Wald, den schwarzen Mann im Keller. Aber was auch unbedingt in Erinnerung bleibt, ist eine über der ganzen Geschichte liegende anschwellende bedrohliche Stimmung. Namen, Handlung, kausale Verknüpfungen – alles das ist weg. Ganz so, als sei diese Lektüre ein Traum gewesen. Was sich nun anhört wie ein vernichtendes Urteil über Beuses neue Arbeit "Meeresstille", sieht dieser eher als Kompliment :

    Ich freue mich darüber sehr, weil das eine Wirkung beschreibt, die das übersteigt, was ich dem Buch zugetraut hätte. Das hängt mit dem Ansatz meines Schreibens zusammen. Also ich bin kein Moralist und ich will auch nicht sagen: So ist das, so geht das. Sondern es geht mir eher darum, Bilder ins Unterbewusstsein zu senden und eine Irritation oder Verstörung hervorzurufen. Wenn es sich als Bodensatz über irgendetwas legt oder als ungreifbares Element in die Seele senkt.

    Und zweifellos hat der 36-jährige Stefan Beuse dieses Ziel mit seinem dritten Roman erreicht. Wenn auch durch einige Kürzungen des Lektorats an ein paar Stellen die Verständlichkeit gelitten hat und der Plot dadurch ein wenig zu verrätselt daherkommt.

    Die Geschichte: Vor der großen Beförderung will der designierte Feuilletonchef einer Tageszeitung Victor Callner noch einmal mit der ganzen Familie entspannt Urlaub im Périgord machen. Die Tochter Frances bastelt dort am Skript ihrer ersten Geschichte; der 17-jährige David probt das Mann-Werden; und Ehefrau Helen, eine Ex-Pianistin, hängt melancholisch ihren verpassten Chancen nach. Aber schon bald nach der Ankunft passieren rätselhafte Dinge im Urlaubsdomizil der Callners. Ein junger Mann schleicht auf dem Grundstück herum, gibt vor der Hausmeister zu sein und bringt es fertig, den von den Callners mit viel Energie aufrechterhaltenen Schein familiärer Normalität jeden Tag ein wenig mehr zerstören.
    Zu jedem Biedermann gehört ein Brandstifter, muss Beuse beim Erfinden dieser Geschichte gedacht haben. Und gab seinem den auch schon bei Hitchcock beliebten Namen Sam. Sam ist der Sohn eines Stalkers - des Mannes, der die Pianistin Helen vor Jahren an der Hand verletzte, weil er besessen war von der Idee, sie besitzen zu müssen. Mit der Zielstrebigkeit eines rachelüsternen Psychopathen, hat Sam Helens Familie nun aufgespürt, und scheint verrückt danach, diese Familie zu zerstören. Und sie lässt sich auch auf Sams Spiel ein, gilt es doch das Geheimnis einer alten Schuld zu wahren: Victor Callner ist damals beim Messerangriff auf Helen geflohen, obwohl er genau neben ihr stand. Er hat ihr nicht geholfen. Die tabuisierte Schuld- und Opfergeschichte der Eltern lähmt die ganze Familie und macht sie wehrlos gegenüber den Angriffen Sams. Beuse konstruiert seine Geschichte als Kammerspiel auf engstem Raum in einer Ausnahmesituation.

    Bei dem Wort konstruiert muss ich fast lachen. Denn es gibt genügend Schriftsteller, die sich Spannungskurven an die Tapete malen und alles akribisch auf Karteikärtchen notieren und immer wieder ordnen, bis sie das ganze Buch Satz für Satz im Kopf haben. Bei mir ist es gerade umgekehrt. Ich habe irgendwann einen ersten Satz, daraus kommt der zweite und darauf entwickelt sich die Handlung. Ich weiß nichts vorher. Diese Bücher sind so unzähligen Metamorphosen unterworfen, dass ich am Schluss extrem überrascht bin, was dabei herauskommt.

    Meeresstille, die Geschichte mit dem Titel eines von Schubert vertonten Goethe-Gedichts, erzählt Beuse abwechselnd aus zwei Perspektiven: Einmal lesen wir die chronologische Version des Erzählers. Und von der anderen Seite liefert Sam seine - kursiv abgedruckten – Tagebuchaufzeichungen.

    Ähnlich wie Hitchcock bediente sich Stefan Beuse sowohl in seinem aktuellen Roman "Meeresstille" als auch im vorherigen "Die Nacht der Könige" geschickt atmosphärischer Effekte, die einen ständigen Schwebezustand des Argwohns und Zweifels erzeugen. Genau wie jener, reißt er seine Figuren aus der Ordnung ihres alltäglichen Lebens, konfrontiert sie mit Verbrechen, Schuld und Wahnsinn. Und während sie verzweifelt versuchen, ihre Identität wiederzuerlangen, müssen sie mit ansehen, wie sie Fremde in der eigenen Welt werden. Stefan Beuse interessiert eben das Trügerische an der menschlichen Identität.

    Was ich persönlich am unerträglichsten finde, ist diese unheimliche Verlogenheit, die alle Bereiche durchdringt. Ich bin so dankbar für nur eine Sekunde irgendeiner Wahrhaftigkeit, die mir begegnet. Egal ob bei Menschen im Gespräch oder bei irgendeinem Gesicht, was ich auf der Straße angucke. Mir kommt es vor, als ob jeder etwas vorspiegelt, was nicht da ist. Das klingt plump, aber das Gefühl habe ich sehr stark.

    Beuse, der meint, jeder Schriftsteller schreibe sein Leben lang sowieso nur an einem Buch, dem er sich mit jedem Werk dann immer weiter annähere, sitzt an einem Roman, der ganz anders werden soll. Anders als sein Erstling Kometen , wo es um einen Mann geht, der sein Leben an die Alzheimer Krankheit verliert, anders als Das Buch der Könige , in dem ein asthmatischer Werbetexter zum Grenzgänger zwischen Wahn und Wirklichkeit wird, anders auch als das gespenstische Familienpsychogramm Meeresstille . Erstmals schreibe er an einer Geschichte, die überhaupt nichts Dunkles habe, sagt Beuse. Im Gegenteil: Lustig und leicht wird sie werden. Schon beim Schreiben gäbe es für ihn eine Menge zu lachen, sagt er. Um dann grinsend abzuwiegeln: er wissen auch nicht wie ausgerechnet ihm so etwas unterlaufen könne. Diese Geschichte wird anders sein und doch eine weitere Annäherung an sein eines großes Buch, das er noch nicht kennt, und auch noch nicht kennen lernen will, denn wenn es soweit sei, meint Beuse, dann sei seine Arbeit als Schriftsteller ein für alle Mal beendet.

    Stefan Beuse
    Meeresstille
    Piper, 240 S., EUR 17.90