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Dagmar Leupold: "Lavinia"
Hinab, in die Selbstergründung

Dagmar Leupold hat immer wieder über ihre eigenen Erfahrungen geschrieben - so auch im neuen Roman "Lavinia". Eine Frau lässt sich hier gleich in mehrfacher Hinsicht "fallen": In eine neue Liebe und zurück in ihre Vergangenheit, bis hinunter zu den Abgründen und Fundamenten ihres Lebens.

Von Julia Schröder | 21.10.2019
Die Schriftstellerin Dagmar Leupold
Die Schriftstellerin Dagmar Leupold (dpa / picture alliance / Inga Kjer)
Manchmal muss man ganz weit weg von der heimatlichen Enge, um endlich etwas über sich selbst zu erfahren. Deutsche Schriftsteller zieht es gern nach den USA. Vielleicht liegt es an Goethe und seiner Vermutung, Amerika habe es besser als das olle, geschichtssatte und kulturüberfrachtete Europa. Die Inspiration durch unerwartete Begegnungen mit den Bewohnern des "land of the free" und "home of the brave" haben so unterschiedliche Bücher wie Martin Walsers Campus Novel "Brandung", Thomas Hettches Roadmovie "Woraus wir gemacht sind" und Felicitas Hoppes abgedrehte Spurensuche "Prawda" gemeinsam. Jetzt nimmt auch Dagmar Leupold ihre New-York-Erfahrung zum literarischen Ausgangspunkt ihres neuen Romans "Lavinia". Von dort aus startet die Titelfigur eine innere Reise in die eigene Vergangenheit, zugleich eine Revue und vielleicht eine Revision wesentlicher Momente in der Lebensgeschichte dieser nicht mehr jungen Frau.
Sturz hinab in die Erinnerung, aus dem 25. Stock
Dagmar Leupold fasst diese Lebensrevue in das Bild des Sturzes aus dem 25. Stock eines Hochhauses, was in New York ja nahe liegt, eines Sturzes in die Erinnerung, aber auch des Sturzes in eine neue Liebe. Dass Leupolds Ich-Erzählerin in der ersten Erwähnung des Geliebten die gemeinsame Sprachempfindlichkeit thematisiert, ist gewiss kein Zufall:

"'Erinnerst du dich, wie wir uns einmal geschworen haben, nie aus Tassen zu trinken, auf denen "Lieblingsmensch" steht? Und niemals zu sagen, man sei Baujahr soundso? Ein schöneres Jawort hätte ich mir nicht wünschen können. Wären die Stunden, in denen wir einander im Blick hatten, Kilometer, wir hätten längst die Welt umrundet."'
Auch der Name dieser Ich-Erzählerin ist vielsagend: Lavinia nennt sie sich, nach der Frau des mythischen Helden Aeneas. In der mittelalterlichen "Eneit", dem frühhöfischen Eneasroman des Heinrich von Veldeke, ist sie das Gegenbild der unglücklichen Dido: von Minne überwältigt, aber darin glücklich.
Die Erzählerin sieht der Autorin sehr ähnlich
Mit der 1955 geborenen Autorin Dagmar Leupold teilt ihre Lavinia viele biografische Daten: eine Nachkriegskindheit an Rhein und Main, die Vertreibungsgeschichte der Großeltern, das Studium in Marburg und Tübingen, prägende italienische Jahre, das literaturwissenschaftliche Forschen und Lehren in New York, schließlich das Schreiben.
Ihrem "Omale", der Großmutter, die es aus Ostpreußen ins Hohenlohische verschlagen hatte, und den durchsonnten Kindertagen in Gerabronn setzt die Erzählerin ein Denkmal, reich an Details wie dem Haarnetz der Großmutter, ihrem Nasentröpferl, dem Kreuzworträtsel in der "Frau im Spiegel". Im Wohnzimmer fällt ein Lichtstrahl auf die Fotos im Krieg gefallener Onkel - von wo aus der Roman umstandslos auf die Begeisterung zumindest von Teilen der Familie für den Führer zu sprechen kommt, denn Dagmar Leupold geht es, kurz gesagt, ums Ganze: In Lavinias ganz persönlicher Lebenserzählung sollen zugleich die Traumata ihrer, unserer Zeit erkennbar werden. So, wenn Lavinia über ihr Verhältnis zum geliebten Omale räsoniert:
"Vielleicht ist die voraussetzungslose kindliche Liebe – man liebt den einen bestimmten Menschen, so als sei er für einen selbst erstanden, ohne geschichtliches Beiwerk, ohne Erfahrungen, die sich auf anderes als die gemeinsamen Momente geteilter Gegenwart beziehen – für die Kriegsverstörten auf beiden Seiten, Täter wie Opfer, ein Erholungsangebot: Scham und Verbrechen zunächst zu beschweigen. Das Erholungsangebot wird tückisch, sobald die Kindheit zu Ende ist."
Solche etwas vagen bewältigungspsychologischen Einsichten wären vielleicht besser im Vorwort eines der grassierenden "Enkel der Kriegskinder"-Bücher aufgehoben. Dabei scheint Dagmar Leupold, die als Autorin von Lyrik wie erzählender Prosa schon unterschiedlichste Genres und Tonfälle erprobt hat, in "Lavinia" entschlossen, bei der Wahl ihrer literarischen Mittel in die Vollen zu gehen. Schon die Überschriften der Kapitel, die von 25 abwärts zählen, signalisieren Ambition, indem sie ausnahmslos mit dem Wortfeld "Fall" und "fallen" spielen: "Überfall", "Zwischenfall", "Die Gefallenen". Sie umfassen die kleine dialogische Szene wie die abgeschlossene Kurzgeschichte, das Gedicht wie die Singspiel-Parodie. Im inneren Monolog wechseln Ellipsen à la Streeruwitz mit treibenden Perioden, Zeitsprünge im Erzählen fordern die Lesekompetenz, scheinleichter Plauderton wird durchschossen von Zeilen aus zahlreichen Referenztexten: Opernarien, Vergil, Minnesangs Frühling, Uwe Johnson und weiteren Markern des Liebesthemas in der Kulturgeschichte.
Buchcover: Dagmar Leupold: „Lavinia“
Buchcover: Dagmar Leupold: „Lavinia“ (Jung und Jung Verlag)
Hochgebildete Frau, aber von Männern verletzt
In bewährten Strategien zeitgenössischen weiblichen Erzählens von zeitgenössischen weiblichen Verletzungserfahrungen kommt ein früher Missbrauch durch den Mann der eigenen Kindertherapeutin ebenso zur Sprache wie die späte Fast-Vergewaltigung durch einen sizilianischen Dorftrottel. Dazwischen wechselnde Liebhaber, genannt "Erwerber", bei denen Lavinia die Erwartungsanpassung und das "Gefallen" – transitiv - lernt. Neben dem Omale treten als Retterfiguren die Sterns auf, genannt "die Sterne", ein jüdisches Paar, das die Schoah überlebt hat und sich liebevoll um die traumatisierte Jugendliche kümmert. Das ist mal kühl herzquetschend und unbarmherzig atemraubend geschrieben, mal ohne Angst vor zu viel Gefühl und mal bitterböse. Einen Erzählstoff lebendig machen, und stamme er aus dem eigenen Leben, das kann Dagmar Leupold zweifellos.

Zweifelhaft wirkt jedoch ihre Strategie, individuelle Erfahrungen mit der Zeitgeschichte zu untermalen, nicht nur, wenn sie den Schock der sizilianischen Attacke ausgerechnet in den Fernsehbildern von 9/11, den brennend fallenden Zwillingstürmen spiegelt. Weil es in "Lavinia" ums Ganze, um alles gehen soll, greift Leupold, das Leiden anderer betrachtend, gern zur Assoziationskette. Dieses Bindemittel erweist sich jedoch als untauglich, denn im Hin und Her zwischen eigenem Erleben und globalem Unheil verschwimmen die Impressionen ins Beliebige, wie in Lavinias Gedankenflucht vom Rhein zum Hudson River und zur Mittelmeerküste, bis zur Mündung im Katastrophenkitsch:
Biografie plus Weltgeschichte gleich Krisenkitsch
"Daneben die Auslage von Hempels Sanitärbedarf in der Adolfstraße, eine Unterschenkelprothese ist im Schaufenster ausgestellt. Auf den Stufen kauert ein Kunde, der Vietnam-Veteran von der Penn Station. (…) Es könnte auch ein Veteran des Irakkriegs sein. Oder Afghanistan. Oder oder. Wie die Versehrten einander gleichen. Wie einander gleicht, was fehlt. Alle rabiat gealtert. Auch das kleine, uralte syrische Kind an den Gestaden, im roten Fräcklein bäuchlings gestrandet. (…) Heiße Zähren im World Wide Web, sein kalorienreicher Treibstoff. Die echten Tränen verdorren auf hoher See im schneidigen Wind, mischen sich unter die Gischt, verkrusten."

Es ist nicht leicht zu begreifen, wie diese verdorrenden Tränen und andere schiefe Bilder ein Lektorat überleben konnten. Die bis zum Bersten und oft darüber hinaus aufgeladene Sprache, der Prunk der leitmotivischen Referenzen, die ausgestellte Virtuosität - sie wecken zudem ganz grundsätzliche Vorbehalte: Ist das nicht viel zu dick aufgetragen angesichts des Schmerzes - des eigenen wie des fremden -, der Schrecken, der Scham, die hier doch sichtbar und fühlbar werden sollen?
Dass die Versehrten einander gleichen, gilt für die Ich-Erzählerin nämlich nicht. Ihre Versehrungen sind ganz besondere, und da liegen eindeutig ihre Prioritäten. Im vorletzten Kapitel "Wutanfall", einer Abrechnung mit all den übergriffigen Kerlen in Lavinias Leben, wird das nochmals ganz deutlich. Der erste wie der der letzte Satz des Buchs nennen die Devise:
"Wer ergründen will, muss herab."

Sich selbst zu ergründen, ist nicht illegitim, schon gar nicht in autobiografisch grundiertem Erzählen. Aber in diesem Roman wird eigentlich nichts mehr ergründet. Vielmehr scheint Dagmar Leupolds Lavinia von Anfang an schon alles über sich zu wissen. Und das tut auch einem autobiografischen Roman nicht gut.
Dagmar Leupold: "Lavinia". Roman
Jung und Jung Verlag, Salzburg. 196 Seiten, 22 Euro.