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"Schreibheft. Zeitschrift für Literatur"
Dichte Bezüge zu Themen der Zeit

In der Ausgabe Nr. 83 der Literaturzeitschrift "Schreibheft" finden sich Anknüpfungspunkte zu aktuellen Themen: So erschienen darin Esther Kinskys Erzählung über eine Reise auf die Krim und neue Gedichte des ukrainischen Dichters Serhij Zhadan.

Von Uli Hufen | 23.01.2015
    Literaturzeitschriften wie das Schreibheft, das nur zwei mal im Jahr erscheint, können schwer aktuell, gar tagesaktuell sein. Das ist im Grunde in jeder Hinsicht ein Vorteil, außer vielleicht in kommerzieller. Manchmal aber gelingt es dem Schreibheft und seinem Herausgeber Norbert Wehr, auf schon beinahe unheimliche Weise, dichte Bezüge zu Themen der Zeit zu knüpfen. Die großartige aktuelle Nummer 83 des Schreibhefts ist so ein Fall. Esther Kinsky, Serhij Zhadan, Leonid Aronson, Oleg Grigorjew - schon die Namen der versammelten Autoren deuten an, dass die Reise nach Osten geht. Genauer: nach Russland, in die Ukraine und dahin, wo de jure auch Ukraine ist, de facto aber Russland: Auf die Krim. Aber der Reihe nach.
    Im Oktober 2013, ein paar Wochen bevor auf dem Kiewer Maidan die ersten Molotowcocktails flogen, reiste Esther Kinsky an die Südküste der Krim. Ihr Ziel: ein Örtchen namens Kurtortne am Fuß des Karadag-Nationalparks. Kurortne heißt soviel wie Kurort und es gibt allein auf der Krim schon zwei Orte, die diesen inspirierten Namen tragen. Aber das ist das kleinere Problem. Kurortne ist Ukrainisch. Auf Russisch heißt Esther Kinskys Kurortne Kurortnoje und wahrscheinlich hat Kinsky selbst vor Ort auch den russischen Namen benutzt, genau wie die mehrheitlich Russisch sprechenden Bewohner der Krim oder Google Maps. Kinskys Text heißt aber "Kurortne - Oktober 13". Das darf man getrost als dezentes politisches Statement gegen die russische Annexion der Krim betrachten. Ansonsten enthält Kinskys Text sich jeder Politik, wenn man davon absieht, dass niemand, der Kinskys Text gelesen hat, begreifen wird, warum in Gottes Namen Wladimir Putin sich unbedingt die Krim einverleiben musste. Kinskys Kurortne ist ein gottverlassenes Kaff am ungastlichsten Rande der Welt, ein Badeort in der sehr späten Nachsaison und eine feuchtkalte Heimstatt für tendenziell garstige Leute, streunende Hunde und halbwilde Pferde.
    "An den rauhreifigen Morgen sorgte die Kupferhaarige sich um die Hunde und mühte sich mit weiteren Verschlägen ab, zerrte Planen aus ruhenden Hausbaustellen und versuchte, sie zwischen Eisenträger eines rostenden Gerippes zu spannen, das in einer Betonplatte verankert war, vielleicht hatte es ein Laden werden sollen der ein Billiglokal, es sah nicht so aus, als hätte es noch eine andere Zukunft als die einer improvisierten Schutzhütte für Streunerhunde. Der ganze Hang stand im Zeichen gelungener und fehlgeschlagener Vorhaben. Das Gescheiterte, Aufgegebene überwog bei den Vorhaben und lag zum Teil schon der ebenfalls langsam wachsenden Wildnis überlassen da. Nichts hier wuchs schnell."
    Melancholische Meisterschaft
    Esther Kinsky isst kein Eis, sie tanzt und badet nicht, bekommt weder Sonnenbrand noch Kurschatten und erlebt auch sonst nichts, was mit dem Wort Kurort normalerweise in Verbindung gebracht wird. Das liegt zum einen daran, dass Kurortne eben ein Kurort auf der Krim ist und nicht an der Cote d'Azur. Zum anderen und vor allen Dingen aber liegt es an Esther Kinsky selbst. Ihrem kühlen Blick entgeht keine mürrische Miene, kein verfallendes Haus und keine räudige Katze. In der Beschreibung von Verfall, Hoffnungslosigkeit, Hässlichkeit und Armut hat Kinsky eine melancholische Meisterschaft erreicht, die gefangen nimmt und tief berührt.
    Dass man die Welt mit anderen, ja mit ganz, ganz, ganz anderen Augen sehen kann, beweist der Leningrader Schriftsteller Oleg Grigorjew mit seinem Text "Ein Sommertag. Erzählt von einem Knirps." Der namenlose Knirps bekommt gerade die ersten neuen Zähne, ist also etwa 6 Jahre alt, und verbringt den Sommer in einem sowjetischen Ferienlager. Das heißt: pappiges Essen, ruppige Erzieherinnen, aufgeschlagene Knie und herrliche Abenteuer mit Flora und Fauna:
    "Und Ljonka hat eine Libelle gefangen und sie lebendig gegessen, sagt, sie hätte gut geschmeckt. Bei Tisch isst er nie was, aber beim Spaziergang - das stopft er sich alles in den Mund. Auch das Kraut auf der Wiese hat er schon ganz gegessen, das Sauerklee heißt. Hat sich so voll gefressen daran, dass er einen Blähbauch kriegt, ganz dick, wie bei dem Frosch, den Räuber-Jurka mit einem Strohhalm aufblies. Er blies ihn auf, dann riss er ihn an den Hinterbeinen in zwei Hälften. Das heißt, heute gibts Platzregen."
    Oleg Grigorjew, geboren 1943, gestorben 1992, gehörte seit den 60er Jahren zum jungen literarischen Underground in Leningrad, zu jenem Underground also, der den Nobelpreisträger Iosif Brodsky hervorbrachte. Das in Deutschland lebende russische Dichterpaar Olga Martynowa und Oleg Jurjew hat für das Schreibheft jetzt Texte von Autoren wie Grigorjew, Wiktor Kriwulin, Jelena Schwarz oder Leonid Aronson zusammengestellt und einen klugen, einführenden Essay über diese erstaunliche Boheme-Szene geschrieben. Dabei fallen die Parallelen zu zeitgleichen Bewegungen in den USA, etwa zur Beat-Literatur ebenso ins Auge, wie die Unterschiede. Die Leningrader rauchten, tranken und feierten genauso wie ihre gleichaltrigen Kollegen in den USA. Sie gründeten Undergroundzeitschriften, veranstalteten private Lesungen, hörten Rock'n'Roll und Jazz und barsten vor Selbst- und Sendungsbewusstsein. Aber sie lebten in Leningrad. Das hieß zum einen: Zensur; zum anderen aber - und letztlich wichtiger: engste Beziehungen zu und gelehrte Hochachtung für die literarischen Klassiker ihrer Stadt von Puschkin bis Achmatowa.
    Geniale deutsche Übersetzungen
    Für Martynowa und Jurjew repräsentieren die auch in Russland eher wenig gelesenen Leningrader Meister der 60er und 70er Jahre eine zentrale, fruchtbare Epoche der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts; in Oleg Grigorjews Prosa-Text über den Sommertag eines tierlieben Knirpses sehen sie gar einen Schlüsseltext. Geschrieben ungefähr zur selben Zeit wie Solschenizyns Arbeitslager-Klassiker "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" markiert Grigorjews Ferienlager-Text eine Richtung, die nicht eingeschlagen wurde: Eine radikal unpolitische, experimentelle, verspielte Literatur, die der gängigen staatstragenden Ernsthaftigkeit der Erwachsenen die scheinbar absurde, vor allem an körperlichen Freuden und Leiden interessierte Perspektive eines Kindes entgegensetzt. Dass der harte Trinker und gelegentliche Gefängnisinsasse Grigorjew nicht stilbildend wirkte, mag richtig sein. Richtig ist aber auch, dass Grigorjew bis heute der neben Brodskij mit Abstand bekannteste Autor der Leningrader Boheme jener Jahre ist: Seine Kinderbücher sind Klassiker.
    Außerdem bringt das Schreibheft Nummer 83 brandneue Gedichte des Charkower Schriftstellers Serhij Zhadan aus dem Band "Schuss- und Stichwaffen", die zeigen, dass es im Osten der Ukraine auch vor der aktuellen Krise ziemlich gewalttätig zuging, und ein Dossier über den 1969 mit gerade 36 Jahren verstorbenen Ost-Berliner Dichter Uwe Gressmann. Das schönste Gedicht, ja überhaupt der schönste Text in diesem Schreibheft stammt allerdings von Leonid Aronson. Aronson war der abgesehen wieder von Iosif Brodsky vielleicht beste der Leningrader Dichter der späten 60er-Jahre, starb noch jünger als sein Zeitgenosse Griesmann und wird in Russland seit einigen Jahren wiederentdeckt. Die geniale deutsche Übersetzung von Aronsons Achtzeiler besorgte Jan Wagner. Seine bzw. Aronsons acht Zeilen allein sind es wert, die aktuelle Ausgabe des Schreibheftes zu kaufen:
    "Schön ist, Gott, was ich erblicke!, Jedes Mal wie zu Beginn, Und die Schönheit ohne Lücke. Wegzusehen - doch wohin? Weil vom Fluss die Zitterwinde Wehen, sind sie frisch gekühlt. Nichts, was hinter allem stünde. Alles zeigt sich, unverhüllt."
    Schreibheft. Zeitschrift für Literatur. Nr. 83, 184 Seiten, 13 Euro.