Reichel: Wie beeinflusst das denn die Entwicklung Europas?
Dahrendorf: Diese drei Ereignisse zeigen, dass die Sonntagsreden zu weit greifen. Europa ist nicht da, wo manche, die von den Vereinigten Staaten von Europa träumen, denken, dass es ist. Es ist ein Versuch der Zusammenarbeit zwischen Staaten. Es ist auch nicht reif für eine Verfassung, überhaupt nicht. Daher ist es auch tatsächlich ein Verfassungsvertrag. Am negativsten beeinflusst nach meiner Meinung die Entwicklung Europas die Schwierigkeit, die Währungsunion durch einen wirklich eingehaltenen Stabilitätspakt zu stützen. Aber auch die Irak-Differenz ist nicht zu unterschätzen.
Reichel: Es ist immer die Rede vom Europa der zwei Geschwindigkeiten und dem Kerneuropa, was ja auch ein Randeuropa impliziert. Ist vielleicht diese Aufspaltung und Differenzierung schon jetzt da und zeigt sich an bestimmten Entscheidungen?
Dahrendorf: Es ist leichter, über Kerneuropa zu reden, als zu sagen, was das eigentlich bedeuten soll. Im Grunde sind Deutschland und Frankreich Länder gewesen, die am wenigsten vorangeschritten sind. Sie haben den Streit mit den USA vom Zaun gebrochen, den Stabilitätspakt in ihrem eigenen Interesse gebrochen und versucht, den neuen Mitgliedern über den Verfassungsvertrag Mehrheitsverhältnisse abzuzwingen, die nicht in ihrem Interesse lagen und nicht in dem der anderen. Ich sehe also keinen besonderen Fortschritt, im Gegenteil, eher Rückschritt in dem, was man Kerneuropa nennt, aber da ist meine Perspektive wahrscheinlich die eines Menschen, der in Großbritannien und nicht in Deutschland lebt.
Reichel: Die Länder, die sonst als Motor bezeichnet wurden, sind jetzt eher die Bremser Europas?
Dahrendorf: Das ist meine Meinung, ja. Es ist durchaus offen, ob nicht die neuen Mitglieder in mancher Hinsicht rascher vorangehen wollen. Aber im Ganzen ist das eher Gerede mit dem Kerneuropa, ich sehe die politischen Projekte nicht, die eine kleine Zahl veranlassen, wesentlich weiter zu gehen. Ich weiß gar nicht, wovon da die Rede ist und bin sehr dafür, dass man Europa realistisch betrachtet und nicht im Lichte irgendwelcher vagen Hoffnungen.
Reichel: Wo werden die vagen Hoffnungen zu sehr gepflegt?
Dahrendorf: In den Reden, die von einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik sprechen, die glauben, dass die Währungsunion mit Notwendigkeit zu einer Wirtschaftsunion führt und in den Reden, die immerfort darauf bestehen, dass ein Vertrag, der sich nicht wesentlich von dem unterscheidet, was wir heute haben, als Verfassung bezeichnet wird, ohne dass das Volk dabei irgendetwas zu sagen hat. Und Verfassungen, die nicht vom Volke ausgehen, sind eher vormodern.
Reichel: Sie haben Ihre Hoffung ausgedrückt, dass die künftigen neuen EU-Staaten dazu beitragen können, dass vielleicht doch wieder mehr Europäisches in der EU drinsteckt. Warum hegen Sie diese Hoffnung, wo ja nun gerade Polen immer als der Staat ausgemacht wurde, der jetzt bei der Verfassungsdebatte als nicht besonders positiv dastand?
Dahrendorf: Das gilt nur in Deutschland. In den meisten Ländern sagt man, dass es an Deutschland und Frankreich gescheitert ist. Sicher hat auch Spanien eine Rolle gespielt. Da darf man sich nicht zu sehr auf die Sprachregelung von Berlin verlassen, sondern muss sich ein bisschen in Europa umsehen. Polen hat natürlich, wie alle nachkommunistischen Länder, ein Interesse daran, dass es kein zweites Mal abhängig wird von großen Nachbarn, das heißt aber nicht, dass sich Polen nicht als aktives Mitglied an der EU betrachtet. Ich glaube, wenn wir uns nächstes Jahr um diese Zeit unterhalten, wird man das noch deutlicher sehen als heute.
Reichel: Wie kommt es zustande, dass etwa Deutschland und Frankreich Bremser sind? Spielt eine Rolle, dass die nationalen Interessen noch immer mehr im Vordergrund stehen, als die der EU?
Dahrendorf: Es gibt viele im übrigen Europa, die sagen, dass Deutschland zum ersten mal wieder eine betont nationale Politik betreibt. Ich will das nicht bewerten, ich will nur sagen, dass es viele gibt, die das bemerken und glauben, dass diese deutsch-französische Allianz von daher gesehen eher eine unheilige ist. Es wäre ganz wichtig, dass wenigstens in den verschiedenen europäischen Ländern das, was geschieht, ähnlich wahrgenommen wird. Im Augenblick ist das noch nicht der Fall, aber ich sehe in dem größeren, erweiterten Europa eine wirkliche Chance, dass mehr Stimmen gehört werden und dass am Ende dann realistische Fortschritte gemacht werden. Das Wort realistisch kann man gar nicht oft genug betonen.
Reichel: Nun kommt die EU so langsam in die Jahre, ein bisschen etwas sollten wir gelernt haben. Warum ist es immer noch so, dass in den einzelnen Ländern immer auch die sehr von dem Land geprägten Standpunkte wahrgenommen werden? Wir nehmen hier wahr, dass Polen hauptsächlich daran beteiligt war, dass die Verfassungsdebatte erst mal gescheitert ist. In anderen Ländern ist Deutschland der Staat, der auf diesen neuen Mehrheitsverhältnissen im Ministerrat bestanden hat. Woran liegt das, dass das immer noch so ist?
Dahrendorf: Die eigentliche Realität unseres Lebens sind nun mal die Nationalstaaten. Die europäische Realität überlagert das in bestimmten Gebieten, aber in einer begrenzten Zahl von Gebieten. Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass die Sonntagsreden, nur weil sie schön klingen, die Wirklichkeit beschreiben. Ich finde das auch nicht schlimm, schließlich werden 90 Prozent aller wichtigen Entscheidungen in den Nationalstaaten getroffen. Die EU verwaltet ein Prozent des Bruttosozialproduktes, die meisten Staaten in Europa verwalten 40 Prozent des Bruttosozialproduktes. Das ist ein ungefährer Hinweis auf die relative Bedeutung der beiden und wenn man das so einschätzt, kommt man zu dem Schluss, dass der gemeinsame Markt, viel unterschätzt in Deutschland, der Binnenmarkt, eine ungeheure Errungenschaft ist, dass die Gewohnheit der Zusammenarbeit zwischen Regierungen, Parlamenten, eigentlich in allem im öffentlichen Leben in Europa beträchtlich fortgeschritten ist und dass jedenfalls hier ein Raum entstanden ist, in dem dort, wo es machbar ist, gemeinsam Fortschritte gemacht werden. Ich finde das mehr als die meisten zugeben oder öffentlich sagen, auch wenn es natürlich nur ein begrenzter Teil des politischen Lebens ist. Die Begrenzungen sind im Jahr 2003 deutlich sichtbar geworden und werden auch nicht in drei Monaten oder drei Jahren verschwinden.
Reichel: War das Jahr 2003 ein besonderes für die EU?
Dahrendorf: Mit Sicherheit und zwar aus den Gründen auf beiden Seiten der Bilanz, das heißt wegen der Erweiterung, aber auch wegen der Probleme Irak, Stabilitätspakt und Verfassungsvertrag.
Reichel: Die eigentliche Erweiterung liegt noch vor uns, am 1. Mai 2004 werden dann zehn weitere europäische Staaten der Union angehören, dazu kommt auch die Fortsetzung der Verfassungsdebatte. Kann das Jahr 2004 zu einem Schicksalsjahr oder zu einem bedeutenden Jahr in der Union werden?
Dahrendorf: Schicksalsjahr ist mir zu hoch gegriffen. 2004 wird zweifellos aus den angedeuteten Gründen und auch den anderen erwähnten auch wieder ein wichtiges Jahr. So würde ich es formulieren und nicht höher greifen.
Reichel: Der Soziologe Ralf Dahrendorf ist Mitglied des britischen Oberhauses. Mit ihm blickten wir zurück auf die Politik der Europäischen Union.