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Daniel Galera: "So enden wir"
Krisensommer in Porto Alegre

Daniel Galera, der Shootingstar der brasilianischen Literatur, untersucht in seinem Roman "So enden wir" die Krisenjahre 2013/2014. In Porto Alegre wurde ein genialer Schriftsteller ermordet. Seine engen Freunde treffen sich bei seiner Beerdigung wieder und halten Rückschau auf ihr Leben.

von Margrit Klingler-Clavijo | 12.06.2018
    Buchcover "So enden wir" von Daniel Galera
    "So enden wir" heißt der neue Roman des brasilianischen Autors Daniel Galera (Buchcover: Suhrkamp / Hintergrund: Marcelo Sayao, EPA / picture-alliance / dpa)
    Porto Alegre Sommer 2014. Gluthitze, über 40 Grad im Schatten. Streik der Busfahrer. Überbordende Müllcontainer, in denen Obdachlose wühlen. Dann noch per Handy die Schreckensnachricht, die Aurora erschüttert: Duke wurde ermordet. Raubüberfall. Ausgerechnet Duke, alias André Dukelsy, der geniale Kultautor, zu dessen engem Freundeskreis sie neben Antero und Emiliano gehört hatte. Die drei Jugendfreunde treffen sich bei Dukes Beerdigung wieder. Für sie alle ist Dukes Ermordung ein Schock, ein schmerzhafter Einschnitt. Erinnerungen an die wilden Jugendjahre im provinziellen Porto Alegre kommen hoch, die Freundschaft mit dem charismatischen Duke, das gemeinsam betriebene Online - Literaturmagazin Orangotango. Damals kamen sie sich wie Auserwählte vor, hielten sich wie Daniel Galera schreibt für "die Speerspitze einer neuen Generation, die sich das Internet und die wirtschaftliche Stabilität zunutze machen würde, um mehr zu sein als Punker- Papa Söhnchen, suburbane Grunge-Kids, die sich die eigene E-Gitarre auf den Kopf hauten oder Nerds mit vollgewichster Jogginghose."
    Daniel Galera geht in diesem Roman von seiner eigenen Geschichte und der seiner Generation aus. Das Internet prägt ihren Alltag, erzeugt zunehmend Suchtverhalten. Anfang der 1990er-Jahre, als Duke und seine Freunde ihre Texte, Gedichte und Zeichnungen via Internet verbreiteten, war es noch ein Instrument der Befreiung zur Schaffung einer selbstbestimmten Gegenkultur. 2014, dem Sommer der Krisen und Katastrophen, klingt das wie ein Ammenmärchen.
    Daniel Galera:
    "Der Roman 'So enden wir' enthält in geballter Form meine Eindrücke, Emotionen und Überlegungen aus den Jahren 2013/2014. Die Struktur ist fragmentarisch, die Episoden werden nicht zu Ende erzählt. Ich versuche, die Romanfiguren für kurze Zeit zu begleiten. Sie werden ständig mit Informationen bombardiert, haben Angst und Furcht. Ich versuche, zu erfassen, was ihnen unter diesen Ausnahmebedingungen zustößt, erwähne ihre Konflikte, vertiefe sie aber nicht, zähle sie nur auf, das erzeugt am Ende des Romans eine gewisse Angst, weil viele Dinge nur angedeutet, doch nicht näher ausgeführt werden. Dieses Gefühl der Lähmung sollte bereits in der Romanstruktur erkennbar sein, diesem Übermaß an Informationen und Ereignissen, das keine Entwicklung zulässt, geschweige denn ein schlüssiges Ende."
    Internetsüchtig
    Dukes Freunde wissen nicht, wie sie auf die deutlich zutage tretenden Krisenphänomene reagieren sollen, zumal sie längst in virtuelle Welten abgedriftet sind und täglich viel zu viel Zeit mit Pornos, Chats und Werbung verplempern. Antero, der erfolgreiche Werbefachmann nimmt an den Massenprotesten in Porto Alegre teil, um vorzeitig Trendwenden im Konsumverhalten zu erkennen.
    Daniel Galera:
    "Antero, der erfolgreiche Werbefachmann, knüpft 2014 wieder an den rebellischen Geist seiner Jugend an, doch nur zu Werbezwecken. Antero merkt nicht, wie er das, was in seiner Jugend progressiv war, jetzt wie ein Konservativer nutzt, um das kapitalistische Räderwerk am Laufen zu halten. Ihm zufolge sind Avantgarden heute für den Kapitalismus. Ich teile diese leicht zynische und sarkastische Auffassung nicht, obwohl sie heute weitverbreitet ist."
    Beruf und Beziehung unvereinbar?
    Doch nicht nur er, sondern auch Emiliano und Aurora haben Abstriche und Kompromisse gemacht. Emiliano, der freie Journalist, schreibt widerwillig an einer Biographie über Duke, des Geldes wegen. Aurora, der einzigen Frau im Terzett von Dukes Freunden, gelingt es nicht, Beruf und Beziehung miteinander zu verbinden. Beruflich befürchtet die studierte Biochemikerin, ihr Doktorvater könnte ihre Dissertation abschmettern, weil sie sich kühn auf wissenschaftliches Neuland vorgewagt hatte.
    Daniel Galera:
    "Die Situation der Frauen ändert sich langsam in Brasilien. In dem Land gibt es den traditionellen Machismo, der die Entwicklung von Frauen behindert.Die Frauenbewegung, die es mittlerweile in vielen Ländern gibt, hat in Brasilien mehr Einfluss.
    Vieles, was früher tabu war, wird heute öffentlich diskutiert. Es gibt jedoch noch viel zu tun. Aurora kommt aus einer traditionellen Familie mit antiquierten Wertvorstellungen. Ich zeige das anhand der Abtreibung, die in Brasilien sehr umstritten ist. Aurora muss die Abtreibung heimlich vornehmen lassen."
    Der Millenium Bug
    Daniel Galeras Roman "So enden wir" ist kein reines Lesevergnügen. Man verliert sich stellenweise in der Fülle der Informationen. Beeindruckend ist dagegen die Virtuosität, mit der sich Daniel Galera zwischen realen und virtuellen Welten bewegt, die Katastrophenszenarien, an die er humorvoll erinnert wie den sog. "Millenium-Bug" die globale Computerpanne, die man zur Jahrtausendwende vorausgesagt hatte und auf die der portugiesische Romantitel "Meia Noite e Vinte" (Zwanzig nach zwölf) anspielt. Duke und seine Freunde hatten die Jahrtausendwende auf einem entlegenen Landgut verbracht, ohne Telefon, Internet oder Strom.
    Daniel Galera:
    "Sie sind total isoliert, feiern und trinken, merken nicht, dass das neue Jahrtausend bereits angefangen hat, bis einer auf die Uhr schaut und sagt: ’Leute, es ist schon zwanzig nach zwölf! Die Welt ist untergegangen, und wir haben es nicht mitgekriegt.’ Für mich war das eine der emblematischen Szenen des Romans, auf die der Titel Bezug nimmt. Sie verweist auf das Jahr 2014, in dem der Roman spielt. Wieder ist vom Ende der Welt die Rede, diesmal nicht von Kalenderänderungen, sondern von neuen politischen Krisen - Umweltzerstörung, Klimawandel, Wirtschaftskrise – all dies führt zu anhaltenden sozialen Spannungen, die Katastrophe scheint unabwendbar. Das Ende der Welt zu erleben, ohne dass die Welt tatsächlich untergeht, ist das große Thema des Romans."
    Die Krisen Brasiliens
    Eine zufriedenstellende Lösung der tiefen Krise, in der Brasilien schon länger steckt, ist Daniel Galera zufolge nicht in Sicht.
    Daniel Galera:
    "2013 kam es zu großen Massenprotesten in Brasilien, bei denen unterdrückte Energie frei gesetzt wurde, viele Brasilianer ihrer Frustration Luft machten, weil sie wie schon so oft in der Geschichte des Landes Rückschritte hinnehmen mussten. Linke Bewegungen gingen zuerst auf die Straße, später rechtsgerichtete. Mittlerweile sind die großen Protestbewegungen eher konservativ, mehr rechts als links. Das führt zu großen Tumulten und heftigen Polarisierungen. Man befürchtet, dass radikale Kandidaten, Faschisten oder Verfechter der Militärdiktatur bei den nächsten Präsidentschaftswahlen kandidieren und womöglich sogar gewinnen könnten, wie Trump in den USA. Brasilien befindet sich weiterhin in einer schwierigen Lage, die Frustration ist groß, die Zukunftsangst ebenfalls."

    In dem Roman "So enden wir" hat Daniel Galera die Momentaufnahmen der Krise hervorragend montiert, dicht am Zeitgeschehen, zwischen realen und virtuellen Welten angesiedelt, so dass man nie genau weiß, ob sich die Katastrophe nur im Kopf abspielt oder bereits Realität ist. Und genau das macht den Reiz dieses Romans aus.
    Daniel Galera: "So enden wir"
    Übersetzung aus dem Portugiesischen: Nicolai von Schweder-Schreiner
    Suhrkamp Verlag, Berlin, 232 Seiten, 22 EURO