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Daniel-Pascal Zorn: "Vom Gebäude zum Gerüst"
Reflexionslogische Übung

Viele Philosophen haben sich mit dem Thema Reflexivität beschäftigt, von Platon bis hin zu Michel Foucault. Daniel-Pascal Zorn vergleicht die Ansichten in seinem Werk "Vom Gebäude zum Gerüst" miteinander. Er bietet dem Leser eine reflexionslogische Übung, die sich in vielen Bereichen des Alltags anwenden lässt.

Von Thomas Arnold | 05.12.2016
    Die Büste des griechischen Philosophen Platon, aufgenommen im bayerischen Landtag in München
    Auch der griechische Philosoph Platon beschäftigte sich mit der Reflexivität. (picture alliance / dpa / Sven Hoppe)
    Es gibt viele Hinsichten, unter denen wir Texte miteinander vergleichen können. Wir können z.B. ihren Stil vergleichen, ihre Rezeptionsgeschichte oder auch ihren argumentativen Gehalt. Dabei ergibt sich aber oft das Problem, dass wir unsere eigene Sichtweise zum Lektürestandard machen. Im schlimmsten Fall interpretieren wir dann nur das in den Text hinein, was wir ohnehin schon für wahr halten. Dieses Problem bildet den Ausgangspunkt für Daniel-Pascal Zorns zweibändiges Werk. Seine Lösung des Problems besteht darin, die Reflexivität von Texten in den Blick zu nehmen.
    Ein Text ist dann reflexiv, wenn er sich selbst betrifft, sei es ausdrücklich oder nicht. Dieser Rückbezug beruht darauf, dass ich an jeder beliebigen Rede einen Standpunkt ausmachen kann. Ich kann zum Beispiel jeden Satz, den ich sage, einleiten mit "Ich denke Folgendes" oder "Ich glaube, es verhält sich so". Diese Aussageposition, die man immer ergänzen kann, nennt Zorn "logische Position" oder das Woher des Sprechens. Ein Text, der etwas sagt, das seine eigene logische Position bestimmt, ist reflexiv. Diese Rückwendung kann sich auch in Widersprüchen äußern, z.B. in den Sätzen "Dieser Satz ist falsch" oder "Ich sage gerade nichts". Bei solchen einfachen Reflexionsstrukturen bleibt es jedoch nicht.
    "Auch die Reflexionsstruktur kann sich noch einmal verkomplizieren, etwa in der Wahrnahme, dass jede Auslegung des Worin der eigenen Rede eine bestimmte sein muss – und so immer eine weitere oder andere möglich ist. Der Versuch, so etwas wie die 'logische Position an sich' zu denken, scheitert erkennbar reflexiv – weil auch [der Begriff] 'logische Position an sich' wieder nur eine bestimmte Auslegung und nicht a priori die einzig mögliche ist."
    Stufen der Reflexivität
    Ausgangspunkte für diesen Zugriff bilden die vier folgenden Philosophen: Eugen Fink als Vertreter der Phänomenologie, Jacques Derrida als Begründer der Dekonstruktion, der schweizer Philosoph Jean-Pierre Schobinger, der das Konzept einer "operativ aufmerksamen Lektüre" entwickelt hat, sowie der Schweizer Reflexionstheoretiker Urs Schällibaum.
    Die Beschäftigung mit den Stufen der Reflexivität führt Zorn zu klassischen Problemen der Philosophie; unter anderem liefert er dabei eine reflexionslogische Begründung des Satzes vom ausgeschlossenen Widerspruch. Diese Begründung basiert darauf, dass jeder, der eine Behauptung aufstellt, etwas Bestimmtes sagt – und eben nicht zugleich etwas anderes. So hat jeder, der überhaupt etwas behauptet, den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch immer schon anerkannt.
    Im Zentrum der Arbeit steht aber der von Zorn sogenannte "dogmatische Exzess". Dabei ist Dogmatismus nichts anderes als Mangel an Reflexion, d.h. die Verdrängung der Tatsache, dass man selbst immer nur eine bestimmte Stimme unter vielen darstellt.
    "Und genau darin gewinnt der dogmatische Exzess den Charakter von Gewalt gegenüber allen anderen Teilnehmern am [Gespräch]: Er ist Bezeugung statt Überzeugung, Bekenntnis statt Erkenntnis, Verkündung statt Begründung, Mission statt Ausbildung. Die reflexive Struktur des dogmatischen Exzesses entspricht also einer Selbstermächtigung, die zugleich vor sich selbst verborgen wird"
    Kennzeichen des Dogmatikers
    Der Dogmatiker glaubt also, dass er für alle sprechen darf; er glaubt, er habe alles über alles gesagt; er leugnet, dass man die Dinge auch anders sehen kann; und er erklärt diejenigen zum Feind, die es trotzdem tun. Der Widerspruch liegt einerseits darin, dass natürlich auch der Dogmatiker immer nur von einer bestimmten logischen Position aus spricht, deren Existenz er aber leugnet. Andererseits leugnet er auch die Möglichkeit, die Welt anders zu sehen, hat aber zugleich panische Angst vor Kritik. So macht er sich selbst immer zu Täter und Opfer zugleich.
    Reflexiv konsistent ist eine andere Haltung: Wer möchte, dass andere Gesprächsteilnehmer der eigenen Position zustimmen, muss sie ernst nehmen und ihnen Gründe liefern, statt ihnen Selbstbestimmung und Freiheit von vorneherein zu nehmen. Denn erst die Anerkennung von Anerkannten hat echten Wert. So begründet Zorn mithilfe des Renaissance-Denkers Pico della Mirandola schließlich auch die Würde des Menschen reflexionslogisch. Ausgehend vom Postulat, dass die Würde des Menschen in seiner freien Selbstauslegung liege, hält Zorn fest:
    "Jeder, der vom Rahmen dieses Postulats aus frei und ungehindert spricht, wird das Recht darauf in Anspruch genommen haben, frei und ungehindert sprechen zu können und sich dadurch und darin als jemand auslegen zu können, der frei und ungehindert sprechen kann. Indem er spricht, nimmt er in Anspruch, was für ihn gilt, weil es für alle anderen auch gilt – einfach dadurch, dass sie Menschen sind. - Die sich daraus ergebende Beschränkung ist dann ebenso ersichtlich: Wer sich selbst so frei auslegt, dass ein Anderer daran gehindert wird, sich frei auszulegen, der nimmt ein Recht – das er nur hat, weil alle anderen es auch haben – in Anspruch, um es den Anderen abzusprechen […] Er widerspricht sich selbst – seine Behauptung und sein Anspruch müssen für niemanden gelten."
    Zorn exerziert die vielen reflexionslogischen Verwicklungen anhand philosophischer Texte von Anaximander bis (Slavoj) Zizek durch; der zweite Band liefert dann eine vertiefte Anwendung dieser Lektürehinsicht auf Michel Foucault und Martin Heidegger. Beide erweisen sich unter Zorns Blick als ernst zu nehmende Denker der Reflexivität.
    Reflexionslogische Übung für den Leser
    Dass es sich dabei um ein Exerzitium handelt, ist wichtig. Denn Zorn simuliert mit diesem Durchgang nicht bloß Gelehrsamkeit; vielmehr bietet er dem Leser damit eine reflexionslogische Übung an. Er gibt dem Leser logisches Werkzeug an die Hand und zeigt, wie es zu verwenden ist. Und gerade darin besteht der Reiz der vorgestellten Lektürehinsicht: Reflexionslogik ist nämlich anwendbar, wann immer jemand einen Geltungsanspruch erhebt. Wir können jederzeit die Voraussetzungen einer Behauptung prüfen; wir können jederzeit beobachten, ob eine Position reflexiv konsistent oder dogmatisch ist; ob jemand sich einfach ins Recht setzt oder ob Gründe vorgebracht werden. Der Anwendungsbereich der Reflexionslogik reicht daher von der Philosophie über die Wissenschaft, die Politik und die Wirtschaft bis zum alltäglichen Umgang miteinander.
    Zorns Buch mündet auf diese Weise in eine reflexive Ethik, die einfach jeden Gesprächsteilnehmer darauf hinweist, dass es einen logischen Widerspruch ergibt, den anderen etwas abzusprechen, das man selbst in Anspruch nimmt. Die Reflexionslogik sichert so den logischen Primat der Begründung, der Möglichkeit und der Freiheit vor Geschrei, Unterdrückung und Zwang.
    Daniel-Pascal Zorn: "Vom Gebäude zum Gerüst"
    Band I und Band II. Logos Verlag, Berlin 2016, 564 Seiten, 56 Euro/313 Seiten, 44 Euro.