Freitag, 29. März 2024

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Daniel Siemens
„Sturmabteilung“

Der Historiker Daniel Siemens hat eine Gesamtdarstellung der Sturmabteilung in der NS-Zeit vorgelegt. Er zeigt, dass die SA auch nach dem Mord an dem ehrgeizigen Chef Ernst Röhm 1934 durchaus bedeutsam blieb – besonders beim Aufbau der deutschen „Volksgemeinschaft“ im Osten.

Von Melanie Longerich | 01.07.2019
Hintergrundbild: Ernst Röhm (m.), Stabschef der SA (Sturmabteilung), in einer zeitgenössischen Aufnahme Vordergrundbild: Buchcover
Gegründet als Ordnertruppe der NSDAP wurde die SA zur schlagkräftigen Massenorganisation (picture-alliance / dpa & Siedler Verlag)
"Die SA ist zu einem Felsblock geworden, den nichts in der Welt mehr erschüttern kann. Wer glaubt, sie aus dem politischen Leben ausscheiden zu können, beweist damit, dass er von dem Geist, von dem Wesen und von der Wucht und der Kraft dieses braunen Heeres keine Ahnung hat!"
Ernst Röhm, SA-Stabschef und einer der wenigen Duz-Freunde aus der Führungsriege Adolf Hitlers. Zwei Jahre nach dieser Rede, also Ende Juni 1934, wurde er wegen angeblicher Putschpläne verhaftet. Einen Tag später mit der gesamten SA-Führungsriege erschossen. Zu diesem Zeitpunkt war aus der Sturmabteilung – die 1921 als Ordnertruppe und Saalschutz der NSDAP gegründet worden war, längst eine Massenorganisation mit mehr als drei Millionen Mitgliedern geworden. Und sie hatte eine zentrale – und vor allem gewaltvolle - Rolle dabei gespielt, das NS-Regime in der Frühphase des sogenannten "Dritten Reiches" zu etablieren.

Mit der blutigen Abrechnung wurden der innerparteiliche Machtkampf zwischen der SA und der Reichswehr und andere Richtungsstreitigkeiten beendet – und dem Aufstieg der SS der Weg bereitet. Das Ende der Sturmabteilung aber war das nicht, zeigt der in Newcastle lehrende Historiker Daniel Siemens. Er hat nicht nur die bisher veröffentlichten Arbeiten zur Geschichte der SA ausgewertet, sondern auch durch eigenes Archivmaterial vertieft und Ergebnisse aktueller Forschungsprojekte in sein Buch einfließen lassen:
"Das ist einfach die Zeit nach 1934, also die kommenden elf Jahre solange das ‚Dritte Reich‘ noch existiert hat und auch die unmittelbare Nachkriegszeit, die in der bisherigen Forschung kaum eine Rolle gespielt hat und interessanterweise damit einer Legende aufsitzt, die die SA und ihre Vertreter selbst in die Welt gesetzt haben aus politischen und pragmatischen Gründen."
Umdeutung von Narrativen
Dieser Legende zufolge schrumpfte die Sturmabteilung nach der "Nacht der langen Messer" zu einer politisch irrelevanten Stammtischtruppe:
"Es gibt in der Nachkriegszeit Millionen von deutschen Männern, die – Mal kürzer, Mal länger – Mitglied der SA gewesen sind, und die alle Angst haben, dafür von den Alliierten oder von der deutschen Nachkriegsjustiz zur Rechenschaft gezogen zu werden und die müssen jetzt versuchen, ihre Mitgliedschaft in der SA als harmlos darzustellen. Und da kommt ihnen Zu Gute, dass die SA tatsächlich nach dem Sommer 1934, nach dem sogenannten 'Röhm-Putsch' in großer Not ist und von ihrer formalen Stärke tatsächlich auch einbüßt. "
Die SA als "gewaltbereite, aber politisch randständige Organisation": Dieses Bild setzte sich in Deutschland nach 1945 durch. Daniel Siemens sieht das auch im Urteil des Internationalen Militärgerichtshofes in Nürnberg bestätigt, der 1946 die SA - im Gegensatz zur SS, dem Sicherheitsdienst oder der Gestapo - nicht als verbrecherische Organisation einstufte.
"Ich würde nicht in Abrede stellen, dass es eben nach dem Sommer 1934 ein, zwei Jahre eine Krise für die SA als Organisation gibt, und die versucht dann sehr fieberhaft und manchmal auch etwas kreativ, sich neue Aufgabenfelder im ‚Dritten Reich‘ zu erschließen."
Das habe die SA geschafft, als ab 1936/37 das NS-Regime aufs Expandieren setzte:
"Entscheidenden Auftrieb erhielt die Organisation durch die Erfolge ihrer wiederbelebten paramilitärischen Aktivitäten in den Grenzregionen des Reiches und später in den ins Reich eingegliederten Gebieten. Sowohl im Sudetenland als auch im Memelgebiet gelang es der SA, paramilitärische Organisationen aufzustellen und nationalistisch gesinnte Volksdeutsche an sich zu binden. […] Anders als in den deutschen Kernlanden […] erwiesen sich die neuen SA-Einheiten in den annektierten Gebieten als überaus attraktiv. Damit eröffneten sie vor allem jungen Männern einen relativ bequemen Weg, ihre Loyalität zum nationalsozialistischen Staat unter Beweis zu stellen."
SA wollte den Osten "germanisieren"
Darüber hinaus schmiedete die SA-Führungsspitze auch Pläne für die Zeit nach dem sogenannten "Endsieg". Siemens beschreibt, wie sich die SA seit 1936 mit Germanisierungs- und Siedlungsplänen in Richtung Osteuropa beschäftigte und einen Teil ihrer Mitglieder als "Wehrbauern" und Träger wertvollen Erbguts in den Ostgebieten ansiedeln wollte. Diese ambitionierten Pläne wurden 1943 begraben – und wohl daher von der Forschung kaum thematisiert:
"Ich finde es aber schon spannend, wie früh diese Akzentverschiebungen von den Kerngebieten des Deutschen Reiches hin zu einem zu germanisierenden Osten, wie früh das eine Rolle spielt und wie die SA dann versucht, auch über den Reichsnährstand, also die Bauernlobby und die Bauerninteressenvertretung, ganz neue Anhängerschaften zu mobilisieren."
Beunruhigende Parallelen zur Gegenwart
Doch auch im Zweiten Weltkrieg spielte die SA eine wesentliche Rolle im Nationalsozialismus. Sie schickte nicht nur nach Kriegsbeginn SA-Generäle als Diplomaten nach Südosteuropa, um die Ermordung der Juden auch außerhalb des unmittelbaren Herrschaftsbereiches vorzubereiten, sie war u.a. auch für die verpflichtende vormilitärische Ausbildung zuständig und machte die angehenden Soldaten in ihren "Wehrmannschaften" fit für den Krieg.
Daniel Siemens schreibt im Vorwort seines Buches, er wolle mit seiner Geschichte der SA zeigen, welche Sprengkraft eine Politik der Straße entfalten kann, wenn sie tiefsitzende Emotionen schürt. Und auch, welche Gefahren sich daraus für eine Demokratie ergeben, wenn sich gesellschaftliche Debatten in abgeriegelten Teilöffentlichkeiten abspielen und missliebige Argumente und Positionen als Fake News abgetan werden. Zwar gab es damals noch keine Filterblasen – beunruhigende Parallelen zu heute tun sich bei der Lektüre dennoch auf. Damit ist Siemens Werk auch ein wichtiger Beitrag, um die Jetztzeit zu verstehen, in der Rechtsextreme wieder versuchen, sich laut und gewaltvoll Gehör zu verschaffen. Ein unaufgeregtes Buch, das nüchtern zeigt, wie alles begann.
Daniel Siemens: "Sturmabteilung. Die Geschichte der SA",
Siedler Verlag, 592 Seiten, 36 Euro.