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Dankesrede gleicht Besinnungsaufsatz

In ihrer Dankesrede hat die diesjährige Adorno-Preisträgerin Judith Butler keinen Bezug auf die massive Kritik ihrer Person genommen. Man könne "keineswegs direkt politische Äußerungen" aus dem Vortrag der Philosophin ableiten, meint Hubert Winkels von der Literaturredaktion des Deutschlandfunks. Butler fordere vielmehr zur Besinnung auf.

Hubert Winkels im Gespräch mit Doris Schäfer-Noske |
    Doris Schäfer-Noske: Heute ist der 11. September – ein Datum, das vor elf Jahren zu einem Schicksalstag für die Vereinigten Staaten und die ganze westliche Welt wurde. Am 11. September 1903 kam in Frankfurt der Philosoph Theodor W. Adorno zur Welt, und deshalb wird heute seit 17 Uhr in der Frankfurter Paulskirche der Adorno-Preis verliehen. Um die Preisträgerin hatte es diesmal einen heftigen Streit gegeben. Der Zentralrat der Juden in Deutschland kritisierte, mit der amerikanischen Philosophin Judith Butler werde jemand ausgezeichnet, der Israel bekämpfe und Terrororganisationen wie Hamas und Hisbollah legitimiere. Judith Butler, die Jüdin ist, wies diese Vorwürfe zurück. - Hubert Winkels aus unserer Buchredaktion hat die Dankesrede schon gelesen, die Judith Butler gerade zur Stunde in Frankfurt hält. Frage an ihn: Herr Winkels, nimmt denn Judith Butler darin Bezug auf den aktuellen Streit?

    Hubert Winkels: Er tut es, der Vortrag mit dem Titel "Kann man ein gutes Leben im schlechten führen?", gar nicht – prima vista gar nicht und auf den zweiten Blick auch gar nicht. Es ist der Adorno-Preis, und sie hat einmal die Adorno Lectures gehalten, ein Buch daraus gemacht, sie ist eine große Kennerin und auch, wenn man das im wissenschaftlichen Bereich sagen darf, Anhängerin von Adorno. Sie bezieht sich ganz auf diesen berühmten, vielleicht den berühmtesten, auch viel verhunzten Adorno-Satz, "es gibt kein richtiges Leben im falschen" aus dem "Minima Moralia" und formuliert den um und fragt nach dem Verhältnis von Individualität und performativer Politik, von Kollektivgesellschaft und dem einzelnen. Und man kann in einem sehr, sehr weiten Sinn Ableitungen auf politisches Handeln unterdrückter Individuen oder auch Gruppen daraus ableiten, aber keineswegs direkt politische Äußerungen.

    Was sie tatsächlich sagt, ist: Das allgemeine, das politische ist auch in dem Individuum vollkommen vorhanden, das quasi privatisiert und abgeschnitten sich fühlt, und das Individuum ist immer in Interdependenz mit den allgemeinen Kräften, in jeder Phase auch in seinem Körper, es gibt nichts vorpolitisches, und es gilt, diese mögliche Form von Repression dieser, aus dem politischen ausgeschlossenen Anteile – man kann sich jetzt Arbeitslose darunter vorstellen, Sklaven darunter vorstellen, aber auch einfach sozusagen Opfer eines liberalen Kapitalismus, die im Wohlleben bestimmte Fragen nicht mehr stellen oder Zweifel nicht mehr haben -, all diese Kräfte gilt es, im Grunde permanent gegen die Prekarität (das ist ihr Fachausdruck, den sie dafür gewählt hat) zu mobilisieren. Also ein Widerstand auf mikroskopischer Ebene ist ihr Thema.

    Schäfer-Noske: Aber Gewalt kommt da nicht vor als Mittel zur Durchsetzung des richtigen Lebens?

    Winkels: Ich habe, glaube ich, selber schon zweimal den Ausdruck Performativität benutzt. Damit meint sie ausdrücklich ein über das diskursive, das Reden hinausgehende Handeln, und dieses Handeln auch des einzelnen ist durchaus für sie ein enorm wichtiges politisches Mittel. Sie führt auch einige Formen an, die meisten Gedanken würde man in Deutschland juristisch wahrscheinlich unter passivem Widerstand zusammenfassen. Aber Gewalt, erst recht brachiale Gewalt, Waffengewalt kommt ausdrücklich nicht vor, aber der Text schließt sie aus, und im übrigen weiß man von ihr – und das ist eine Idiotie der deutschen Wahrnehmung in der Beschimpfung von Judith Butler -, dass sie die immer ausgeschlossen hat.

    Schäfer-Noske: Worum ging es dann genau in dem Streit?

    Winkels: Na ja, dieser Streit war ein typisch deutscher Streit bis zu einem gewissen Grat. Sie hat, finde ich, mit viel Recht in einem wissenschaftlichen Bereich gearbeitet, sodass sie den Adorno-Preis bekommen hat. Nur hat sie als bekennende Linke 2006 auf die Frage, ob Hisbollah und Hamas antiimperialistisch seien, gesagt, dass der Antiimperialismus die globale Linke und Hamas und Hisbollah verbinde. Man kann das ja sagen oder nicht, sie sagt heute, es war eigentlich ein Fehler, das gesagt zu haben, aber darin steckt eigentlich gar kein Problem.

    Das Problem steckt darin, dass die, die das hören, jetzt sagen, damit ist erstens die Hisbollah und Hamas eine linke Bewegung, und zweitens: links sein ist gut. Diesen Schluss macht sie aber in keiner Weise und jetzt distanziert sie sich. Sie hat ja gestern sich ausführlich dazu geäußert, mündlich und schriftlich – davon, dass sie sowohl Antiimperialismus mit links sein im Sinne von politisch gut sein identifizieren würde, sie streitet auch ab, dass es überhaupt eine Einheit wie globale Linke gibt -, geschweige denn, dass sie der Hisbollah und der Hamas diesen Punkt als wesentlichen Zug zubilligt, und distanziert sich ganz klar natürlich von deren Auslöschungsfantasien gegenüber Israel.

    Schäfer-Noske: Wie wird denn diese Rede wirken? Hat sie versöhnende Kraft?

    Winkels: Na ja, ich glaube, dass die, wenn man es will, zeigen kann, dass die Kluft zwischen schnellem, politisch öffentlichem journalistischen und sonst wie Gebrüll und wirklicher Überlegung, was politische Zusammenhänge angeht, die Kluft so groß ist, dass man sich besinnen muss. Dieser Text ist in dem Sinne, könnte man sagen, ein Besinnungsaufsatz: tretet zurück, nehmt etwas Abstand zur Sache, vergewissert euch historisch – sie macht es bei Adorno und darüber hinaus geht sie natürlich bis zu Hegel zurück -, und auf einmal gewinnen die Dinge wieder ein Maß, das man leicht verliert, wenn man in den Aufgeregtheiten des Tages gleich mal irgendwelche Wissenschaftler mit einbezieht, als ob sie Fraktionsvorsitzende von kleinen Parteien seien.

    Schäfer-Noske: Das war Hubert Winkels aus unserer Buchredaktion über die Rede, die die Philosophin Judith Butler gerade in der Frankfurter Paulskirche hält. Ihr wird dort der diesjährige Adorno-Preis verliehen. Mehrere Dutzend Demonstranten protestierten vor der Paulskirche und warfen Butler Israel-Hass vor.


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