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"Dann müsste man mit Mindestlöhnen arbeiten"

Das Verfassungsgericht hat entschieden, dass in jedem konkreten Einzelfall das Existenzminimum gesichert sein muss, stellt Anne Lenze, Sozialexpertin von der Universität Darmstadt und ehemalige Richterin, fest. Dies könnte dazu führen, dass mit "Mindestlöhnen gearbeitet werden müsste.

Anne Lenze im Gespräch mit Jürgen Liminski | 03.03.2010
    O-Ton Guido Westerwelle: Es ist geradezu eine zynische Debatte, wenn diejenigen, die in Deutschland arbeiten, die aufstehen, die fleißig sind, sich mittlerweile dafür entschuldigen müssen, dass sie von ihrer Arbeit auch etwas behalten möchten. Ich finde es geradezu skandalös, dass eine Kellnerin, wenn sie zwei Kinder hat und wenn sie verheiratet ist, im Schnitt 109 Euro weniger zur Verfügung hat, als wenn sie beispielsweise Hartz IV beziehen würde. So kann es ja nicht weitergehen.

    Jürgen Liminski: Der FDP-Vorsitzende Westerwelle mit seinem bekannten Satz, und diesem Satz widerspricht eine Studie des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, deren Ergebnis der Hauptgeschäftsführer des Verbandes, Ulrich Schneider, so zusammenfasst:

    O-Ton Ulrich Schneider: Wer arbeitet, hat mehr als derjenige, der nicht arbeitet. Dies ist der zentrale Befund. Selbst bei niedrigsten Löhnen sind für die Menschen im Hartz-IV-Bezug finanzielle Anreize zur Arbeitsaufnahme ganz objektiv gegeben.

    Liminski: Was nun? Lohnt sich Arbeit doch? Können oder müssen die Hartz-IV-Sätze erhöht werden? Ist die Forderung nach einem Mindestlohn obsolet geworden? Zu diesen Fragen begrüße ich nun am Telefon Professorin Anne Lenze. Sie lehrt an der Hochschule Darmstadt Familien- und Sozialrecht im Bereich Gesellschaftswissenschaften und war davor Sozialrichterin. Guten Morgen, Frau Lenze.

    Anne Lenze: Guten Morgen, Herr Liminski.

    Liminski: Frau Lenze, zum Urteil und seiner Diskussion. Lässt sich das Urteil irgendwie quantifizieren?

    Lenze: Wir können es nicht quantifizieren in dem Sinne, dass wir sagen können, ab dem 1.1. 2011 wird es für die erwachsenen Hilfeempfänger so und so viel Euro mehr geben. Das können wir nicht machen. Das können wir erst dann tun, wenn der Gesetzgeber hier ein transparentes Verfahren vorgelegt hat und die einzelnen Abschläge, die er vorgenommen hat, auch begründet hat. Erst dann können wir überhaupt weitere Aussagen machen.

    Liminski: Besteht überhaupt Handlungsbedarf, nicht nur juristisch, sondern real wegen der Lebensverhältnisse? Gibt es eine ausreichende Datenbasis über Existenzminima und Verbrauch?

    Lenze: Ja. Es gibt die Einkommens- und Verbrauchsausgabenstatistik, die alle fünf Jahre erhoben wird. Da kann man ganz genau erkennen, welche Bedarfe Erwachsene haben. Das ist bislang auch immer gemacht worden. Und das Versprechen lautet ja, dass man die Hilfeempfänger so stellen will wie das unterste Viertel der Gesellschaft. Dann wurden davon aber noch mal einzelne Abschläge, die zum Teil sehr willkürlich waren, gemacht, die auch sehr stark vom Verfassungsgericht kritisiert worden sind, und wenn der Gesetzgeber nun diese Abschläge begründen kann, oder diese Abschläge sein lässt und an anderer Stelle neue Abschläge begründen kann und durchführt, dann würde sich nichts verändern. Wenn er aber sagen muss, die drei Posten, die kritisiert worden sind - das war ja vor allen Dingen die Wohnnebenkosten, Bildung und Verkehr -, wenn er die nun anheben muss, dann müsste er auch die Regelleistung anheben, aber das kann man jetzt noch nicht sagen.

    Liminski: Konkret: wie kann es dann mit Hartz IV weitergehen? Bis wann muss eine Reform stehen und lassen sich dafür irgendwie Parameter nennen?

    Lenze: Im Herbst liegen die neuen Statistiken vor und es ist ja ganz klar gesagt worden, zum 1.1. 2011 muss sozusagen hier eine Neuordnung sein, je nachdem mit einer Erhöhung oder auch nicht. Da ist der Gesetzgeber ja unter Zugzwang. Wenn er das später macht, müsste er, wenn er erhöht, auch die Leistungen rückwirkend zum 1.1. 2011 erhöhen. Ich will nur noch mal vielleicht darauf hinweisen: es kann natürlich auch sein, dass die Regelleistung sinkt, denn zum Beispiel - so ist es passiert zwischen 1998 und 2003 - hat sich das Verbrauchsverhalten der untersten 20 Prozent negativ entwickelt. Und nur weil man damals von einigen sehr willkürlichen Abschlägen abgelassen hat, musste die Regelleistung nicht gesenkt werden. Das kann also auch in die andere Richtung gehen, das muss einem klar sein.

    Liminski: Wer legt denn die neuen Kriterien für die Regelsätze fest?

    Lenze: Das muss die Regierung machen in einem transparenten Verfahren, und zwar muss das auch ins Parlament. Das ist auch eine große Verbesserung gegenüber dem alten Zustand. Da hatten das sozusagen Arbeitsgruppen in Hinterzimmern gemacht, die dann Stillschweigen vereinbart haben. Man wusste also nicht, wie sie zu bestimmten Sätzen gekommen sind.

    Liminski: Man kann also nicht mauscheln?

    Lenze: Nein, jetzt nicht mehr.

    Liminski: Ist das mit Gutscheinen zu machen, so wie die Arbeitsministerin es will, oder muss der Staat nicht doch in die Kasse greifen?

    Lenze: Das Gericht hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber selber entscheiden kann, ob er sozusagen Geldleistungen oder Sachleistungen gibt. Also er könnte das auch durch Sachleistungen machen.

    Liminski: Die Studie, die vom Paritätischen Wohlfahrtsverband in Auftrag gegeben worden war, hat ergeben, dass das Lohnabstandsgebot erhalten bleibt. Wir haben es eben gehört. Es lohnt sich, zu arbeiten. Eröffnet das eine Option für eine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze auch für Erwachsene?

    Lenze: Theoretisch schon. Es ist so - das muss man sich auch ganz deutlich machen -, es ist also auch eine wirkliche Klärung durch das Verfassungsgericht jetzt erfolgt. Das Lohnabstandsgebot, so wie wir es in der Öffentlichkeit diskutieren, ist eigentlich obsolet geworden, tot geworden. Das gilt nicht mehr, denn das Gericht hat gesagt, in jedem konkreten Einzelfall muss das Existenzminimum gesichert sein. Das heißt also, auch für die Familie, die fünf Kinder und mehr hat, muss es gesichert sein, und wir haben ja heute einen Niedriglohnbereich, wo es also auch den Beschäftigten in diesem Bereich nicht gelingt, eine vierköpfige Familie von ihrem Einkommen zu ernähren, und das kann jetzt nicht mehr dazu führen, dass man sagt, dann müssen aber die Hilfeempfänger noch weniger bekommen. Das ist wirklich eindeutig festgestellt. Wenn man das Lohnabstandsgebot jetzt weiterhin realisieren will, dann müsste man hier mit Mindestlöhnen arbeiten, um sozusagen die Situation für die Beschäftigten zu verbessern, aber man kann nicht mehr drücken das Einkommen der Sozialleistungsbezieher.

    Liminski: Nach der Studie wird das Lohnabstandsgebot eingehalten. Macht dieses Ergebnis der Studie die Diskussion um einen Mindestlohn überflüssig?

    Lenze: Nein, das glaube ich nicht. Auch vorher war schon klar, dass das Lohnabstandsgebot bei Alleinstehenden immer eingehalten wird und auch noch bei Paaren. Das wird immer dann ein Problem, wenn in einem Haushalt auch Kinder sind, und das hängt damit zusammen, dass die Kinderkosten in Deutschland ja privatisiert sind, sie sind von den Eltern zu tragen. Auch die Friseuse, die vorhin Herr Westerwelle angesprochen hat, wenn die jetzt alleinstehend wäre und ihre beiden Kinder alleine ernähren müsste, dann würde das auch mit ihrem Friseurin-Gehalt nicht gehen. Dafür hat der Gesetzgeber ja unter anderem auch den Kinderzuschlag vorgesehen, den Eltern bekommen, die sich selber unterhalten können, aber nicht noch die Kosten für die Kinder aufbringen können. Da hat der Gesetzgeber selber schon zugestanden, dass das ja in dem Mindestlohnbereich nicht mehr möglich ist, von einem Einkommen auch noch seine Kinder zu unterhalten.

    Liminski: Frau Lenze, Familienministerin Schröder hat sich heute in der "FAZ" für ein neues Modell einer zweijährigen Familienpflegezeit erklärt. Ein Arbeitnehmer, der während der Pflegezeit 50 Prozent Teilzeit arbeitet, soll 75 Prozent Gehalt bekommen und anschließend, wenn er wieder voll arbeitstätig ist, ebenfalls 75 Prozent Gehalt für die Zeit, die er zuvor in Pflegezeit war. Der Steuerzahler trägt dabei fast keine Kosten, die Wirtschaft allerdings ein kleines Risiko. Sind solche Modelle sinnvoll?

    Lenze: Ich glaube schon. Damit könnte man sozusagen die Pflege für einen begrenzten Zeitraum - hier wird ja von einem Jahr gesprochen -, die sich dann ergibt, wenn es aufs Lebensende zugeht, bei alten Menschen vorwiegend natürlich, natürlich besser abfedern. Die Beschäftigten wüssten, sie bekommen hinterher ihren alten Arbeitsplatz wieder und die finanziellen Einschränkungen halten sich ja auch in Maßen. Das ist, finde ich, ein interessanter Vorschlag zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, hier in Bezug auf die Pflege von alten Menschen.

    Liminski: Hartz IV wird teuerer und der Mindestlohn bleibt ein politisches Thema. Das war aus Darmstadt Professorin Anne Lenze, Expertin im Bereich soziale Arbeit. Besten Dank für das Gespräch, Frau Lenze.

    Lenze: Ja. Auf Wiederhören!