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Das Buch der Woche
Die überlebenswichtige Todesangst

Marisha Pessls neuer Roman "Die amerikanische Nacht" handelt von der Suche nach dem Horrorfilm-Regisseur Stanlislas Cordova. Filmische Illusion und Realität vermischen sich dabei.

Von Sascha Verna | 24.11.2013
    Was auch immer Sie von Cordova halten, egal, wie besessen Sie von seinem Werk sind oder wie gleichgültig es Ihnen ist. Man muss sich gegen ihn zur Wehr setzen. Er ist ein Abgrund, ein schwarzes Loch, eine unbestimmte Gefahr, der erbarmungslose Ausbruch des Unbekannten in unserer überbelichteten Welt. Er lebt im Untergrund und nähert sich ungesehen aus den dunkelsten Ecken. Er wartet unter der Eisenbahnbrücke am Fluss, wo die verschwundenen Beweisstücke liegen und die Antworten, die niemals ans Licht kommen werden.
    Willkommen im Universum von Stanlislas Cordova, dem oscargekrönten Regisseur von Horrorfilmen, die nach dem Prinzip funktionieren:
    Todesangst ist so überlebenswichtig wie die Liebe. Sie berührt den Kern unseres Daseins und lässt uns erkennen, wer wir wirklich sind.
    Willkommen in Marisha Pessls Roman "Die amerikanische Nacht", der ähnlich funktioniert wie Cordovas Filme, nämlich mit dem Ziel, größtmögliche Authentizität zu suggerieren. Wie Cordova, was manche vermuten, echtes Blut fließen lässt, so hat Marisha Pessl die Seiten ihres 800-seitigen Buches mit zahlreichen Dokumenten durchsetzt, mit Zeitungsartikeln, Bildschirmfotos von Websites, Kritzeleien auf Notizzetteln und ärztlichen Befunden. Das ist wahr, das ist wirklich geschehen. So lautet die Botschaft. Und die begreift man recht schnell.
    Auch die Anlage des Romans ist einfach: Cordovas schöne Tochter Ashley wird tot in einem leer stehenden Lagerhaus in Manhattans Chinatown aufgefunden. Scott McGrath, ein Journalist mit Pechsträhne, will mehr über den angeblichen Selbstmord erfahren - nicht zuletzt, weil es eine Geschichte über Cordova war, die ihn Karriere, Familie und den Seelenfrieden gekostet hat. Gerüchte um okkulte Praktiken locken McGrath auf das riesige Anwesen, auf dem der Regisseur lebt – oder auch nicht. Ashleys Spuren führen ihn in ein Klavierhaus, einen Sado-Maso-Club in Montauk und in eine Irrenanstalt, wo die junge Frau einige Wochen vor ihrem Tod verbrachte – oder auch nicht.
    McGrath fungiert als Ich-Erzähler. Die Sprache ist ein Plotvehikel, schnörkellos, aber anschaulich, wie sie zu einem gewesenen investigativen Starreporter und zu einem Thriller passt. McGrath und Marisha Pessl neigen außerdem dazu, Worte oder Satzteile aus nicht immer einleuchtenden Gründen mittels Schrägschreibung hervorzuheben:
    Ich kippte den Scotch hinunter – sofort fühlt ich mich ein bisschen lebendiger.
    Hier mag die Emphase am Scotch liegen, McGraths Lieblingsgetränk.
    Meine erste Reaktion war Abscheu, gefolgt von dem Drang, wegzurennen wie der Teufel.
    Naja, wer würde das nicht, beim Anblick eines Kleinkindes, das mitten in der Nacht in einem Planschbecken mit einer vergammelten Puppe unterm Arm auftaucht.
    Es war merkwürdig still.
    In diesem Fall macht das "still" eindeutig zu viel Lärm.
    Dashiell Hammett, Raymond Chandler, hard-boiled, Noir: Marisha Pessl weiß, dass die Leser wissen, wer und was für "Die amerikanische Nacht" Modell gestanden hat. Deshalb serviert sie die Malteser Falken gleich selber auf dem Silbertablett:
    Irgendwo drehte sich Sam Spade gerade in seinem Grab um.
    Denkt McGrath an einer Stelle schräg gedruckt. Anderswo liest jemand "The Big Sleep", und immer wetteifert McGrath mit Philip Marlowes zynischem Witz.
    Auch, dass es sich bei der Jagd nach Phantomen um ein Lieblingsmotiv der Postmoderne handelt, wird Marisha Pessel wohl wissen. Und sicher ist sich dessen der Leser bewusst. Diese Postmoderne beginnt spätestens auf Kapitän Ahabs Walfänger in Herman Melvilles "Moby Dick" und hört mit den Irrläufern eines Paul Auster oder Roberto Bolaño noch lange nicht auf.
    Das Phantom in "Die amerikanische Nacht" ist Stanislas Cordova. Denn obgleich Scott McGrath den Tod von Cordovas Tochter Ashley erforscht, bleibt das eigentliche Mysterium der Regisseur selber. Cordova, der sich sich vor langer Zeit à la J. D. Salinger und Thomas Pynchon aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hat.
    Verglichen mit den filmischen halten sich die literarischen Referenzen in "Die amerikanische Nacht" freilich in Grenzen. Die Literatur war das Territorium, auf dem sich Marisha Pessels gefeiertes Debüt bewegte. In "Die alltägliche Physik des Unglücks" von 2006 bestanden sogar die Kapitelüberschriften aus Romantiteln. Während in jenem Campus-Krimi-Vater-Tochter-Roman Ovid und Shakespeare hinter jeder Zeile hervorwinkten, sind es nun das Who-is-Who Hollywoods sowie François Truffaut, auf dessen Film "La nuit américaine" der deutsche Titel anspielt. Stanislas Cordova selber ist ein Verschnitt aus Alfred Hitchcock, Dario Argento und David Lynch. Über allem schwebt Stanley Kubrick.
    Stanisilas Cordova existiert nicht
    Stanisilas Cordova existiert nicht, um das klarzustellen. Marisha Pessl hat die Biografie und die Filmografie des legendären Regisseurs so minutiös aufbereitet, dass man durchaus in Versuchung geraten könnte, wie Scott McGrath im Internet nach den Black Tapes zu suchen, jenen Filmen, die Cordova bald nach seinem Oscar-Gewinn 1980 auf seinem abgeschotteten Landsitz zu drehen begann. "Klein und böse" zum Beispiel. Darin werden Alexandra und ihr Verlobter Mitchell für ein Wochenende in das Strandhaus einer Bekannten eingeladen:
    In den ersten Minuten des Films kommen Alex und Mitch kurz nach Mitternacht bei dem Haus an, nachdem sie sich den Großteil der Fahrt über gestritten haben. Sie finden das Haus komplett dunkel und verlassen vor. Ihre Bekannte ist nirgendwo zu finden. Als sie das Haus durchsuchen, stellt sich heraus, dass wenige Augenblicke vor ihrem Eintreffen ein schreckliches Verbrechen stattgefunden hat, und die Täter – maskiert und von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet – sind noch immer da.
    Oder "Warte hier auf mich". Darin entführt ein Serienmörder seine elf jugendlichen Opfer, jagt sie durch eine Papiermühle und sticht ihnen eine Heckenschere, deren Schneiden genau 24 Zentimeter lang sind, durch die linke Herzkammer. Derweil pflegt ein Gärtner namens Popcorn liebevoll die Amazonas-Seerosen in seinem Teich. Berichten zufolge kam es auf dem Set von "Warte hier auf mich" zu einem Unfall, bei dem Cordovas Sohn Theo drei Finger verlor. Statt ihn ins Krankenhaus zu schicken, soll Cordova Theo zum mitspielen gezwungen haben. Scott McGrath sieht sich die betreffende Szene in Zeitlupe an und zoomt auf den Jungen:
    Nervös, halb nackt, glasige Augen und die nackte Brust voller Blut und Spuren, die nach Menschenbissen aussahen. Als er ans Autofenster klopfte, die Tür zu öffnen versuchte und seinen einzigen Satz sagte – "Bitte helfen Sie mir" -, lief seine Stimme wie ein seltsamer Saft aus ihm heraus. (Das Bild) war unscharf, aber es sah blutig aus. Und an der Stelle, wo sein Daumen, sein Zeige- und Mittelfinger sein sollten, waren nur Hautfetzen und durchtrennte Knochen zu erkennen.
    Kein Wunder, dass den Studios Stanislas Cordovas Ideen bald zu bestialisch wurden. Was Cordova bis 1996 selber produzierte, ist Schwarzmarktware, heiß begehrt von Cordova-Fanatikern, die es überall auf der Welt gibt, und die sich auf sogenannten Blackboards austauschen, Foren im Netz, zu denen nur die Gemeinde der Cordoviten Zugang haben. Und McGrath, nachdem er sich einmal eingeschwindelt hat:
    Diese (Website) ist eine schreckliche Realität. Ein heiliger Arbeitsplatz. Ein gefährlicher Wald. Ein Ort, an dem du alles diskutieren und in Frage stellen kannst, was deine Familie und Freunde, deine Religion und deine Gesellschaft bedroht und in Angst versetzt. Ein Ort, der dreckig und unheimlich und erschreckend ist, chaotisch und hässlich und faszinierend. Ein bodenloser, schrankenloser Raum. Die Furcht ist der erste Schritt.
    Es wird einem in "Die amerikanische Nacht" auffällig häufig versichert, wie schrecklich und fürchterlich alles ist, was mit Stanislas Cordova zusammenhängt. Das wäre peinlich, würde der Roman nicht wenigstens einen Teil der Spannung einlösen, die er verspricht. Und das tut er. Marisha Pessl beschließt, die meisten der über hundert kurzen Kapitel mit Cliffhangern, an denen sogar ein Meister der dosierten Dramatik wie Charles Dickens seine Freude hätte, und Quentin Tarantinos Schnittmeister sowieso. Sie steuert die Handlung so sicher auf den unvermeidlichen Höhepunkt hin, wie ein schweizer Lokomotivführer seinen Zug Richtung Endstation, wenn auch das Timing bei Marisha Pessl nicht ganz so perfekt ist wie bei der helvetischen Bahn. Bis dahin gibt es jede Menge Komplikationen, denn immerhin gilt es, einen möglichen Mord aufzuklären.
    Dafür stellt die Autorin ihrem Protagonisten zwei Helfer zur Seite. Nora ist Garderobenmädchen eines Nobelrestaurants in Manhattan, wo Ashely Cordova kurz vor ihrem Tod einen roten Mantel abgegeben und nicht mehr abgeholt hat. Hopper stöbert Scott McGrath auf, als er den Tatort in Chinatown inspiziert. Den kleinen Dealer verbindet mehr mit Ashley, als er zunächst zu verraten bereit ist. Drei Ermittler sind besser als einer. Sie pfeffern die Seiten mit messerscharfen Dialogen und versammeln sich, wann immer nötig, zu Situationssitzungen, die sich im Lauf der zunehmend verwirrenden Recherchen als äußerst hilfreich erweisen.
    Marisha Pessl macht Prosa zum Angucken. Es ist, als hätte sie selber Filmsets im Kopf gehabt, so genau beschreibt sie die einzelnen Kulissen ihres Romans und die Requisiten.
    Wir führen kein Zubehör für schwarze Magie, also fragen sie gar nicht erst.
    Verkündet ein handgeschriebenes Schild in "Enchantments", dem laut Annonce ältesten und größten Geschäft für Hexerei- und Göttinnenbedarf in New York City. McGrath, Nora und Hopper besuchen den Laden, nachdem sie in Ashleys letzter Absteige Hinweise auf Abakadabra entdeckt haben.
    Das Geschäft roch penetrant nach Weihrauch, die Decke war niedrig, die unverputzten Wände neigten sich nach innen, wie ein Gang in einem Bild von M.C. Escher. Sie waren mit Holzregalen gesäumt, die mit mystischen Nippes vollgepackt waren. Bei Enchantments schienen alle heiligen Gegenstände gleichberechtigt zu sein. (Es) sah aus, als würden Jesus, Buddha, Mohammed, Vishnu und ein paar heidnische Götter gemeinsam einen Flohmarkt veranstalten. Mini-Hexenkessel in Tall, Grande und Venti waren frech neben Franziskus, Maria und einen katholischen Heiligen gestapelt. Offenbar hatten viele New Yorker den Glauben an Psychiater und Yoga verloren und sich gesagt, verdammt, probieren wir's halt mit Magie, denn das Geschäft war voll.
    Die Auskünfte der geschäftsführenden Hexe bringen McGrath und die Seinen zwar nicht weiter, tragen jedoch zur Spuk-Atmosphäre des Romans bei. War Ashley vom Teufel besessen? Ist ihr Vater der Teufel? Oder hat Stanislas Cordova vielmehr versucht, seine Tochter vom Fluch zu befreien und dabei aus purer Verzweiflung selber zu teuflischen Mitteln gegriffen? Und was hat es mit dem Priester auf sich, der direkt aus "Der Exorzist" zu stammen scheint und der sich bei den Cordovas einnistete, um dann fluchtartig zu verschwinden?
    Wir wissen nicht, wo der Glaube endet und die Realität beginnt.
    Sagt Hopper in einem lichten Moment.
    Gibt es da überhaupt einen Unterschied?
    Nein, nicht in der Literatur und auch nicht im Film. Neben allem Horror und Hokuspokus handelt "Die amerikanische Nacht" nämlich von den irdischen Maschinerien der Illusion. In der Literatur – und im Film – endet der Glaube nicht, wo die Realität beginnt. Der Glaube ist die Realität.
    Geschichten sind gespielte Wirklichkeit
    Geschichten sind gespielte Wirklichkeit – ob auf der Leinwand oder auf dem Papier. Es gibt Autoren und Regisseure, die sich um mehr Wirklichkeitsnähe bemühen als andere. Aber auch solche, die im Reich der Fantastik operieren, müssen ihr Publikum in Gläubige verwandeln. Stanislas Cordova opfert die Finger seines Sohnes, um wahres Leben in seine Filme zu bringen. Marisha Pessl präsentiert ihren Roman als Dokumentation.
    "Die amerikanische Nacht" ist insofern bemerkenswert, als das Aufgebot an künstlichen und künstlerischen Instrumenten zur Erzeugung falscher Wirklichkeit dieser falschen Wirklichkeit fast die Schau stehlen. Marisha Pessl sägt und hämmert an ihrer makellosen Bühne und lässt dann das Handtuch liegen, mit dem sie sich den Schweiß von der Stirn gewischt hat. Noch bemerkenswerter wird "Die amerikanische Nacht" dadurch, dass das Handtuch nicht stört. Im Gegenteil. Die schiere Künstlichkeit verleiht der Wirklichkeit dieses Romans ihren Reiz.
    Scott McGrath fragt sich an einem Punkt, ob er nicht selber zu einem Akteur in einem von Stanislas Cordovas Filmen geworden ist. Der Jäger wird zum Gejagten. Auch das ist ein Topos der Meta-Generation. Marisha Pessl packt derlei in Action. So artet McGraths Einbruch auf Cordovas Festung in einen Spießrutenlauf durch verlassene Filmsets aus:
    Ich war schon einmal hier gewesen. Genau in diesem Zimmer. An der gegenüberliegenden Wand hingen drei gerahmte Bilder neben einer winzigen Kochnische. Eine Stehleuchte mit einem cremefarbenen Lampenschirm ragte über das Sofa. Ich streckte den Arm aus und legte den Schalter um. Ich befand mich in Brad und Emily Jacksons Wohnzimmer aus "Daumenschraube".
    McGrath hastet buchstäblich durch Cordovas Schaffen, aber nichts bereitet ihn auf das vor, was ihn noch erwartet:
    Ich steckte in etwas drin, in einer Art Kapsel, die auf dem Kopf hing und sich drehte und durch die Geschwindigkeit vibrierte. Ein Sarg. Ich liege in meinem Sarg.
    Den ersten Sarg gelingt es McGrath, aufzubrechen. Aber der steckt in einem zweiten. Und dieser in einem dritten und weiter und weiter, bis sich McGrath an die Worte eines Cordova-Spezialisten erinnert:
    Das ist sie. Die mysteriöse Schwelle zwischen Wirklichkeit und Illusion. Jeder von uns hat eine Kiste, eine dunkle Kammer, in der er das verwahrt, was sein Herz durchbohrt hat. Sie enthält das, wofür wir alles tun würden, das, nach dem wir trachten, für das wir alles um uns herum verletzen würden. Und wenn wir sie öffnen könnten, würde uns das befreien? Nein. Denn das wirklich ausbruchsichere Gefängnis mit dem nicht zu öffnenden Schloss ist unser eigener Kopf.
    Da sind sie wieder, die Wirklichkeit und die Illusion, und der Kopf, der damit fertig werden muss.
    "Die amerikanische Nacht" ist kein besonders subtiler Roman. Was bloß angedeutet werden könnte, wird ausgeführt. Wo ein panischer Schrei reicht, bricht Massenpanik aus. Und statt im richtigen Moment zügig zum Abschluss zu kommen, stottert der Handlungskarren noch 300 Seiten weiter. Der Roman gleicht dem Lieblingssandwich von Elvis Presley mit Erdnussbutter, Bananen und Speck. Bei so viel des Guten droht einem, schlecht zu werden. Aber wer würde nicht trotzdem hineinbeißen wollen?
    Man tut es mit Genuss. Man liest bis zuletzt, weil davor zu viele Rätsel ungelöst bleiben, die man unbedingt gelöst haben will. Man liest bis zuletzt, weil es Spaß macht, das eigene Kinowissen zu testen und ebensolchen Spaß, von nichts eine Ahnung zu haben und dafür eine üppige Einführung ins Universum der laufenden Bilder zu erhalten. Vor allem aber legt man diesen Schmöker nicht aus der Hand, weil er ein Plädoyer für das Erzählen darstellt. Die zwei Figuren, um die sich der ganze Roman dreht, treten darin nie auf. Ashley und Stanislav Cordova existieren nur in den Geschichten anderer und in denen, die Scott McGrath und seine Gehilfen zu rekonstruieren versuchen. Um es mit Cordova zu sagen:
    Geschichten, das ist alles, was wir haben. Die Geschichten, die wir anderen erzählen, und die, die wir uns selbst erzählen. Wenn man sich mit älteren Menschen unterhält, die am Ende ihres Leben angekommen sind, sieht man, was bleibt, wenn der Körper verfällt. Unsere Geschichten. Unsere Kinder müssen entscheiden, ob man sie weitererzählt oder nicht.
    Auch dies ist nur das Zitat eines Zitates, nicht Cordova life. Es ist ein Auszug aus einem Interview mit dem Regisseur aus der Dezemberausgabe des Magazins Rolling Stone von 1977. Überschrift:
    Stanislas Cordova: Zum Abgrund und zurück.
    Als Faksimile reproduziert am Ende von "Die amerikanische Nacht". Und es ist gerade nicht die täuschende Echtheit der Reproduktion, die beeindruckt, sondern die Tatsache, dass alles erfunden ist. Nicht die Glaubwürdigkeit von Geschichten macht ihren Zauber aus, sondern ihre Fiktivität. Die Literatur braucht die Welt nicht, um ihr Dasein zu rechtfertigen. Vielmehr würde die Welt ohne Literatur nicht überleben.
    "Die amerikanische Nacht" ist ein Schauerroman, der zum Versinken einlädt. Marisha Pessl spielt mit den klassischen Elementen der Spannungsliteratur, flirtet mit dem Übersinnlichen, und im Hintergrund erklingt Filmmusik. Dabei trägt die Autorin so dick auf, wie die Maskenbildner beim schminken. Denn wie Schauspieler im Rampenlicht würden, was sie geschaffen hat und ihre Geschöpfe, ohne übertriebenes Make-up blass wirken – eben wie das wahre Leben.
    Die letzte Szene soll nun aber Stanislas Cordova gehören, dem Mythos, dem Monster, dem menschlichen Wesen, vor dem der Leser schon zu Beginn des Romans gewarnt wird:
    - Was bedauern Sie?
    - Dass wir diejenigen zerstören, die wir lieben.
    Das sind die letzten Abschnitte des Interviews im Rolling Stone.
    - Wieso sind Ihre Filme so verstörend?
    - Man muss eine Weile auf der Schattenseite der Straße gegangen sein, um die Sonne zu spüren, wenn sie einem auf die Schultern fällt.
    - Was kommt als Nächstes für Sie – in Ihrem Leben, Ihrer Arbeit, in der Liebe?
    - Wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich mich kurz entschuldigen.
    - Natürlich.
    Ich schaltete das Aufnahmegerät ab und sah im Augenwinkel, wie Cordova aus der Tür verschwand – dann war Stille. Nach 15 Minuten fuhr ich mit dem Aufzug hinunter in die Lobby. Ich suchte im Restaurant nach ihm und in der Menschenmenge vor dem Hotel, doch er war verschwunden, wie ein Schatten, der sich im Tageslicht aufgelöst hat.