Archiv


Das Bundesverfassungsgericht gehört zur politischen Kultur Deutschlands

Im Vergleich zu anderen Staaten hat Deutschland mit dem Bundesverfassungsgericht ein sehr mächtiges Gericht, das seine Kompetenzen auch selbstbewusst ausübt, sagt der Berliner Staatsrechtsprofessor Christoph Möllers.

Christoph Möllers im Gespräch mit Mario Dobovisek |
    Mario Dobovisek: Rund 186.000 Entscheidungen haben die Richter des Bundesverfassungsgerichtes in den vergangenen 60 Jahren getroffen. Manche betreffen den innersten Bereich von Familie und Partnerschaft. In den 70er-Jahren etwa erklärten sie die Regelungen zum straffreien Schwangerschaftsabbruch für verfassungswidrig, weil der Schutz des Lebens nicht gewährleistet sei. Kruzifix-Urteil, Kopftuch-Zensus, Lauschangriff, Parteiverbote, immer wieder haben die Richter in den roten Roben mit ihren Entscheidungen auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland reagiert und den Diskurs im Gegenzug wieder angeregt, auch dort, wo die deutsche Verfassung von europäischem Recht berührt wird, etwa das Urteil zum Maastricht-Vertrag, zu Lissabon oder jüngst dem Euro-Rettungsschirm.

    Heute vor 60 Jahren nahm das Bundesverfassungsgericht seine Arbeit auf, Grund zu feiern für etwa tausend geladene Gäste, darunter auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Christian Wulff. Der Festakt in Karlsruhe, er dauert zur Stunde noch an. Hören wir, wie der Bundespräsident das Bundesverfassungsgericht in seiner Rede würdigte:

    "Neben der Behauptung eines eigenen Platzes in der Familie der Verfassungsorgane stand das Bundesverfassungsgericht von Jugend an aber auch vor großen inhaltlichen Herausforderungen. Soll nämlich eine Verfassung keine Herrschaft der Toten über die Lebenden sein, wie es Thomas Jefferson im Jahre 1789 in einem Brief an James Madison befürchtete, so ist sie immer wieder mit neuem Leben zu füllen. Den richtigen Mittelweg zu finden zwischen Statik und Dynamik, muss immer wieder aufs Neue gefunden werden. Ich finde, am heutigen Tage, exakt dem 60. Jahrestag, darf man sagen, dass das Bundesverfassungsgericht diese Herausforderung seit diesen 60 Jahren überzeugend bewältigt. Es wusste seine Möglichkeiten zur Modellierung des Rechts- und Verfassungsstaates zu nutzen."

    Dobovisek: So weit ein Ausschnitt aus der Rede von Bundespräsident Christian Wulff während des in Karlsruhe noch andauernden Festaktes zum 60-jährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts.

    Über 60 Jahre Bundesverfassungsgericht wollen wir nun sprechen mit dem Berliner Staatsrechtler Christoph Möllers. Guten Tag, Herr Möllers!

    Christoph Möllers: Guten Morgen!

    Dobovisek: "Hüter der Verfassung, Wahrer des Naturrechts, verkörpertes Gewissen der Volksgesamtheit" – wird das Bundesverfassungsgericht seiner angedachten Rolle tatsächlich gerecht, so wie es Bundespräsident Wulff attestiert?

    Möllers: Ja. Ich meine, der Jargon, den Sie gerade zitiert haben, ist natürlich der Jargon der 50er-Jahre, und das, was man damals unter Naturrecht verstand, war eigentlich nichts, was das Bundesverfassungsgericht so geteilt hat. Es war ein sehr modernes Gericht, das sich durchaus auch mit überlieferten Moralvorstellungen auseinandergesetzt und sie kritisch beurteilt hat im Sinne eines freiheitlichen Verständnisses, und von da an kann man, glaube ich, schon sagen, dass es diesem Auftrag im Großen und Ganzen gerecht geworden ist. Es gibt immer was zu meckern, aber wenn man mal die Makroperspektive nimmt, denke ich, ist das ganz klar.

    Dobovisek: Ist das Bundesverfassungsgericht denn auch heute noch ein modernes Gericht?

    Möllers: Ja, das denke ich schon. Es ist ein sehr spezielles Gericht. Ich denke, es gibt kaum Gerichte auf der Welt, auch in anderen demokratischen Verfassungsstaaten, die so mächtig sind, die so viel prüfen, die ihre Kompetenzen so selbstbewusst wahrnehmen, aber auch so viele Kompetenzen haben.

    Dobovisek: Zu mächtig?

    Möllers: Mächtig, auf jeden Fall, aber in jedem Fall doch auch modern in dem Sinne, dass das Gericht auch permanent darüber nachdenkt, Verfassungsrecht weiter zu entwickeln und neu zu verstehen.

    Dobovisek: Aber eben auch zu mächtig? Das ist ja die entscheidende Frage.

    Möllers: Na ja, ich meine, es ist immer auch ein bisschen eine Frage der politischen Kultur. Ich denke, nicht jedes Gericht passt in jeden politischen Kontext. Es ist ein Gericht, das vielleicht für angelsächsische Verfassungstraditionen nicht wirklich erträglich wäre in der Art und Weise, wie es seine Kompetenzen wahrnimmt. Ich glaube, für einen Briten, auch für einen Amerikaner wäre das alles ein bisschen viel, auch für Franzosen. Wir haben nun mal eine sehr starke, sozusagen zentrierte, rechtsstaatlich geprägte Tradition, die ich persönlich vielleicht nicht immer für die optimale halte, aber ich denke schon, dass das Gericht da gut hineinpasst.

    Dobovisek: Die Bundesregierungen verlassen sich ja zunehmend auf die Richter in Karlsruhe. Die wiederum kassieren Gesetze, setzen Fristen und geben der Politik zum Teil ja auch klare Leitplanken für die Neufassungen der Gesetze mit auf den Weg. Beginnt damit das Bundesverfassungsgericht allmählich als Gesetzgeber zu handeln?

    Möllers: Das Gericht hat schon seit Langem immer so ein bisschen die Tendenz gehabt, tatsächlich sehr genau vorzugeben, was der Gesetzgeber machen muss. Es hat auch verfahrenstechnisch durchaus erstaunliche Schritte genommen. Sie haben die Fristen gesetzt, die so eigentlich nicht vorgesehen waren, sie haben zum Teil auch Anordnungen gesetzt, die gesetzesähnlich waren, etwa im Bereich des Schwangerschaftsabbruchs. Das ist ungewöhnlich. Man muss auf der anderen Seite auch sagen, dass es in vielen Fällen natürlich auch Einladungen des Gesetzgebers gibt, so zu handeln. In dem Augenblick, wo der Gesetzgeber die Fristen nicht einhält, in dem Augenblick, wo der Gesetzgeber vielleicht auch mit Urteilen konfrontiert ist, die er nicht in der Art und Weise umsetzt, wie es vielleicht geboten wäre, ist das Gericht wiederum irgendwie am Zuge, damit umzugehen. Insofern gibt es auch so ein bisschen ein wechselseitiges Sich-Hochschaukeln, denke ich, für das das Gericht nicht alleine verantwortlich ist.

    Dobovisek: Aber ist das bloß ungewöhnlich, wie Sie sagen, oder sogar erstrebenswert?

    Möllers: Erstrebenswert finde ich es persönlich nicht. Ich persönlich – aber ich würde sagen, das ist nur eine demokratietheoretische Sicht, die man haben kann, aber nicht teilen muss – würde mir wahrscheinlich eine etwas schlankere Rechtsprechung und andererseits aber auch eine etwas selbstbewusstere Gesetzgebung wünschen. Aber man hat etwa mit Blick auf die Frage der Kontrolle der europäischen Integration durch den Bundestag auch gesehen, dass das Parlament sich manchmal natürlich auch schwer tut, seine Kompetenzen wahrzunehmen, tatsächlich die Entscheidungen auch zu fällen, die es eigentlich fällen müsste.

    Dobovisek: Sie selbst, Herr Möllers, waren ja Prozessbevollmächtigter der Bundesregierung, unter anderem im Verfahren um die Vorratsdatenspeicherung. Dabei machte die Bundesregierung keine sonderlich gute Figur, wie auch der Vorsitzende Richter Papier damals festhielt. Ich zitiere: "Der Senat ist verwundert, dass er für das angegriffene Gesetz heute keinen politischen Verantwortlichen hat finden können, der es verteidigt." Missbraucht die Politik das Bundesverfassungsgericht, um das eigene Unvermögen zu kaschieren?

    Möllers: Na ja, ich meine, ich bin natürlich nicht der Richtige, um das zu beurteilen, weil ich möglicherweise Partei war in dem Verfahren. Es war eine Sondersituation, muss man sagen, in der ein Regierungswechsel dafür gesorgt hat, dass die Ministerin, die eigentlich zuständig war, nicht mehr im Amt war, und die neue war dann wiederum Beschwerdeführerin.

    Grundsätzlich, glaube ich, ist es auch nicht im Sinne des Gerichtes – und so lese ich auch gerade die Äußerungen des neuen Präsidenten, Herrn Voßkuhle -, in dem Augenblick, in dem eine Entscheidung des Gesetzgebers kassiert wird, das gleich als Politikversagen oder gar als etwas moralisch Vorwerfbares zu bezeichnen. Es geht doch eher um eine Arbeitsteilung, in der das Verfassungsrecht neu entwickelt wird, auch oft in einer Art und Weise, die der Gesetzgeber vielleicht nicht vorhersehen kann, und wenn dann dieses neu entwickelte Verfassungsrecht angewendet wird, dann der Gesetzgeber dadurch auch dazulernt. Also von Pannen, Versagen und so weiter zu sprechen, nur weil ein Gesetz aufgehoben wird, ist, glaube ich, falsch. Wir haben das Gericht ja gerade dazu, dass es kontrolliert. Dann kann nicht jeder erfolgte Kontrollvorgang gleich wieder sozusagen eine Pleite für die Politik bedeuten.

    Dobovisek: Aber lernt der Gesetzgeber tatsächlich dazu?

    Möllers: Ja, das denke ich schon. Natürlich! Man muss auch sagen, dass wir, wenn wir gerade im Bereich der Sicherheitsgesetzgebung unsere Gesetzgebung vergleichen mit der auch vieler europäischer Nachbarstaaten, von den Amerikanern gar nicht zu reden, doch sicherlich immer noch eine sehr liberale und grundrechtsfreundliche Sicherheitsgesetzgebung haben. Das gilt auch für sehr viele andere Bereiche. Ich denke schon, dass wir den Lerneffekt einfach beobachten können.

    Dobovisek: Die Verfassungsrichter selbst, sie sind überlastet, mit über 6000 Verfassungsbeschwerden werden sie in jedem Jahr konfrontiert, deshalb wird derzeit eine Gebühr erwogen. Wäre das sinnvoll?

    Möllers: Ich persönlich halte das für keine so gute Idee. Ich glaube, es würde auch so ein bisschen die Legitimation des Gerichts schmälern, denn das Gericht hat natürlich seine ungeheuere Beliebtheit auch der Tatsache zu verdanken, dass es für jeden offensteht. Und wenn man dann auch für Querulanten oder für Leute, die das ein bisschen zu oft machen, Gebühren einführt, dann führt man von vornherein wieder so eine Schranke ein, die im Prinzip das Gericht als Bürgergericht nicht mehr so überzeugend darstellen lässt.

    Mir scheint, dass das Gericht selbst nicht ganz unschuldig ist an dem Aufkommen, an dem hohen Verfahrensaufkommen, und dass es auch durchaus Mittel hätte, dagegen vorzugehen. Das Gericht hat die Schleusen der Verfassungsbeschwerden natürlich auch sehr weit geöffnet, jetzt muss es mit den Fällen umgehen.

    Dobovisek: Brauchen wir eine Art grundlegende Reform für das Bundesverfassungsgericht, eine Verjüngungskur nach 60 Jahren?

    Möllers: Eine Verjüngungskur brauchen wir sicherlich nicht. Das Gericht ist ja auch, was die Richterinnen und Richter angeht, sehr jung und mit sehr vielen sehr innovativen und auch intellektuellen beeindruckenden Persönlichkeiten ausgestattet. Die Frage, wie man die Überbelastung mit Fällen löst, ist in der Tat eine problematische Frage. Ich persönlich würde denken, das Gericht sollte sich doch noch mal überlegen, ob es nicht lieber ein Verfahren haben will, in dem es selber darüber entscheidet, ob es Fälle annimmt oder nicht. Dagegen hat sich das Gericht immer gewehrt, es hat immer gesagt, wir müssen eine allgemeine Regel haben, aber das führt irgendwie offensichtlich im Moment an Grenzen.

    Dobovisek: Das Bundesverfassungsgericht wird heute 60. Dazu Christoph Möllers, Staatsrechtsprofessor an der Humboldt-Universität in Berlin. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Möllers.

    Möllers: Ich danke Ihnen.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.