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Das CDU-Präsidium tritt heute in Bonn zusammen - Fragen nach Personen und Programmen der zukünftigen Oppositionspartei

Heinemann: Kein Tag ohne Rücktritt in der Union, nun will auch Klaus Escher nicht mehr. Der Vorsitzende der CDU Jugendorganisation wird nicht mehr für die Leitung kandidieren, wohl aber fürs Präsidium der Bundes-CDU. In gut einem Monat, am 7. November, sollen die Weichen neu gestellt werden beim CDU-Parteitag. Bis dahin, so scheint es, entdeckt die Partei etwas ,was es lange nicht mehr gab: die Lust an der Diskussion und am Streit. Den Bruch mit der Ära Kohl fordert Kajo Schommer, der sächsische Wirtschaftsminister, die jüngeren Unionspolitiker verlangen den Generationswechsel, Schäuble, Rühe, Wulff werden als Parteivorsitzende und Vizechefs gehandelt, die CDU müsse sich als Volkspartei neu erfinden, schreibt Warnfried Dettling in der "Zeit". Leichter gesagt als getan, heute Abend trifft sich das CDU-Präsidium in Bonn. Am Telefon ist jetzt Jürgen Rüttgers, CDU, der amtierende Bundesbildungsminister, Guten Morgen.

    Rüttgers: Guten Morgen, Herr Heinemann.

    Heinemann: Herr Rüttgers, wie wird die CDU wieder zur Volkspartei?

    Rüttgers: Die CDU ist Volkspartei. Dadurch daß man einmal Wahlen verliert, verliert man nicht den Charakter, den man hat. Allerdings ist natürlich die Tatsache, daß wir bei 35 Prozent gelandet sind, ein Warnsignal. CDU ist ja traditionell die Partei, die in der Bundesrepublik strukturell mehrheitsfähig ist. Das heißt: wir waren in allen früheren Wahlen über 40 Prozent. Das ist der Punkt um den wir uns jetzt kümmern müssen. Das heißt: es kommt darauf an, daß wir die große integrierende Volkspartei auch in Zukunft sind, und da ist es überhaupt nicht hilfreich, wenn wir jetzt in den Debatten, die sein müssen, Alternativen aufbauen, die - wenn man sie zu Ende denkt - diese strukturelle Mehrheitsfähigkeit gefährden.

    Heinemann: Braucht die Union - machen wir die Probe aufs Exempel - mehr oder weniger Sozialpolitik, oder sagen wir soziales Profil?

    Rüttgers: Das ist genau der Punkt, den ich gemeint habe. Da gibt's jetzt Parteifreunde, die sagen: "Wir müssen das Reformtempo in unserer Politik forcieren". Andere sagen: "Wir müssen das soziale Gesicht der Union stärker herausarbeiten". Das ist die falsche Alternative. Beides ist notwendig, beides gehört dazu, wenn man Volkspartei sein will und sein bleiben will.

    Heinemann: Das habe ich nicht verstanden: jetzt mehr oder weniger?

    Rüttgers: Nein, nein, das ist beides nebeneinander. Das Problem liegt daran, daß es so gegeneinander gesetzt wird. Es ist zwar, wir haben den Menschen in den letzten vier Jahren angesichts der beiden großen historischen Entscheidungen innere Einheit und europäische Einigung, konkret Einführung Euro, wir haben den Menschen schon was zugemutet, aber das kann nicht heißen, daß man jetzt Alternativen gegeneinander setzt, die, wenn sie zu Ende gedacht sind, den Charakter der Volkspartei gefährden.

    Heinemann: Herr Rüttgers, kann es der CDU gleichgültig sein, wenn DIE GRÜNEN Familien mit Kindern finanziell besser stellen wollen als die Union?

    Rüttgers: Das war der Punkt, den ich gerade gemeint habe. Schauen Sie, wir haben eine ungeheure Anstrengung unternommen, um den Transfer von West nach Ost zu finanzieren: 140 Milliarden DM. Wir haben die Staatsquote zurückgeführt auf jetzt schon 48 Prozent, um den Euro auch zu finanzieren. Das hat uns in finanzieller Hinsicht ein Stück weit handlungsunfähig gemacht. Wir konnten eben keine sozialen Wohltaten verteilen, und insofern ist jetzt der Eindruck entstanden, als ob bei den GRÜNEN mehr für die Familie getan worden ist. Das ist in der Sache nicht richtig, aber es darf vor allen Dingen auch der Eindruck nicht auf Dauer bestehen bleiben.

    Heinemann: Aber wenn die Sonntagsredner der Union immer die Familie als Keimzelle der Gesellschaft bezeichnen, wieso ist es dann möglich, daß in einem unionsgeführten Deutschland so viele Kinder in Armut aufwachsen?

    Rüttgers: Das ist ja die Debatte, die haben wir ja mitten im Wahlkampf geführt. Ich glaube das ist nicht richtig, das liegt an der Definition von Armut, den da einige Wissenschaftler zugrunde legen. Ich halte nichts von dieser Definition, das hat auch mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Schauen Sie, ich glaube, daß das Problem eher woanders liegt. Ich glaube auch nicht, daß wir in Zukunft auch klug beraten sind, jetzt etwa einen Wettlauf mit Rot-Grün zu beginnen, wer die höheren Forderungen in finanzieller Hinsicht stellt. Das Problem der Familien ist nicht in erster Linie ein finanzielles, sondern da gibt's in der Zeitenwende, in der wir leben, Widersprüche; auch in unserer Programmatik, die die Menschen spüren, und die wir nicht deutlich aufgearbeitet haben. Ein ganz konkretes Beispiel aus meinem eigenen Leben: Wir sagen als Union, daß Frauen selber entscheiden sollen, ob sie, wie sie Beruf und Familie miteinander vereinbaren. Meine Frau weiß aber morgens um halb acht noch nicht, wann unser Sohn aus der Schule kommt. Das heißt, sie hat gar nicht die Chance, so etwas zu tun. Das sind Sachen, die die Menschen wissen, die die Menschen auch an im Hinblick auf die Glaubwürdigkeit anfragen.

    Heinemann: Politik muß verhindern, daß diejenigen aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden, die als Arbeiter nicht mehr gebraucht und in ihrer Bedeutung und Würde als Menschen ignoriert werden. Das schreibt auch Warnfried Dettling in der "Zeit". Da sie dies nicht geschafft hat, daran ist die Koalition wohl auch gescheitert. Wie ist das zu schaffen?

    Rüttgers: Ja das ist ja mit anderen Worten der Satz, daß Arbeit mehr ist als Broterwerb. Ich glaube, daß wir zuerst mal in der Programmatisch da richtig liegen, im Unterschied zur jetzigen Regierung. Die jetzige Regierung glaubt ja, das kann man ja schon an den ersten Debatten der Koalitionsverhandlungen sehen, daß man das Problem der Arbeit dadurch lösen könne, indem Arbeit umwertet wird: diejenigen, die Arbeit haben, geben Arbeit ab an diejenigen, die keine Arbeit haben. Das wird nicht funktionieren, das hat noch nie funktioniert. Das hat übrigens auch an der Stelle, wo wir's in unserer Regierungszeit einmal gemacht haben, nämlich bei der Frühpensionierung, auch nicht funktioniert. Es ist auch gut, daß wir das wieder abgeschafft haben. Arbeit ist prinzipiell für alle da. Es ist eine Frage der Kosten, eine Frage der Produkte, die man auf den internationalen Märkten anbieten kann. An der Stelle, das ist sicherlich eine Sache, wo wir auch unser wirtschaftspolitisches Profil noch mal schärfen müssen, daß die Menschen verstehen, daß das die richtige Strategie ist und dann gleichzeitig dafür sorgen, daß diejenigen, die jetzt nicht gut ausgebildet sind, diejenigen, die nicht so flexibel sind, daß die trotzdem eine Chance auf Arbeit bekommen.

    Heinemann: Herr Rüttgers, was Sie bisher programmatisch gesagt haben, klingt ein bißchen nach: "Weiter so, CDU!"

    Rüttgers: Ich hab überhaupt keine Probleme, das was ich vor der Wahl gesagt habe, jetzt auch noch für richtig zu halten. Schauen Sie, bloß weil wir die Wahlen verloren haben, muß ich doch nicht davon Abschied nehmen, was ich noch vor wenigen Tagen in 160 Veranstaltungen erklärt habe.

    Heinemann: Stecken Sie denn nicht ein bißchen den Kopf in den Sand?

    Rüttgers: Nein überhaupt nicht, sondern ich habe, wie Sie gemerkt haben, an einigen Stellen sehr deutlich gemacht, daß wir den Neuanfang brauchen; daß ich aber nichts davon halte, daß es jetzt einige Leute in der Partei gibt, die so tun, als ob sie jetzt eine Woche nach der Wahl schon die Patentantworten hätten. Ich wäre sehr dankbar gewesen, sie hätten uns das dann vielleicht drei Tage vor der Wahl gesagt, oder drei Monate vor der Wahl, dann hätte man ja dann Konsequenzen daraus ziehen können.

    Heinemann: Stichwort Neuanfang. Wen wünschen Sie sich als Parteichef?

    Rüttgers: Wolfgang Schäuble.

    Heinemann: Am Freitag haben sich die jungen Wilden getroffen in Frankfurt getroffen und zwar so geheim, daß man es heute in der Zeitung nachlesen kann. Sollte man nicht jetzt die Vierzigjährigen ranlassen? Die können sich vier Jahre lang warm laufen und wären ja auch in acht Jahren nicht so alt.

    Rüttgers: Ich bin sehr dafür, aber das gilt nicht nur für die Vierzigjährigen , sondern das muß ein Mix sein. Neuanfang heißt, daß jetzt eine Mannschaft gebildet wird, die in vier Jahren die Regierung wieder übernehmen kann.

    Heinemann: War Wolfgang Schäuble nicht zu nah an Helmut Kohl?

    Rüttgers: Helmut Kohl war über 25 Jahre Parteivorsitzender. Da waren sehr viele sehr nah an Helmut Kohl, und wenn Sie das zum Kriterium machen, dann können Sie die halbe Partei in Pension schicken. Das kann nicht funktionieren.

    Heinemann: Welche Rolle soll Helmut Kohl künftig in der CDU spielen und welche nicht?

    Rüttgers: Ich finde, er hat sie sehr gut für sich selber definiert. Er ist ein Stück Geschichte dieser Partei, ein ganz wesentliches Stück Geschichte. Er wird dann seinen Rat geben, wenn er meint, daß das richtig ist und wenn andere das hören wollen.

    Heinemann: Wird es je wieder einen so machtvollen Parteivorsitzenden wie Helmut Kohl in der Union geben?

    Rüttgers: Also das glaub ich kaum, zumindest so schnell nicht.

    Heinemann: Gerhard Schröder hat in der vergangenen Woche in Paris Rilke zitiert: "Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr - Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben". Herbert Wehner hat weiland eine erstaunlich präzise Aussage zur Oppositionszeit der SPD gemacht. Mit wieviel Jahren rechnen Sie?

    Rüttgers: Mit vier. Die Zeiten haben sich verändert, es ist nicht mehr so, daß politische Abläufe in Jahrzehnten ablaufen. Das ist ja gerade auch einer der interessanten Punkte dieses Wahlergebnisses. Wenn Ausschläge, wie wir sie gerade am Wahlabend erlebt haben nach unten möglich sind, dann sind sie auch nach oben möglich.

    Heinemann: Mit Helmut Kohl ist die letzte der drei großen Wenderegierungen abgewählt, schreibt Dettling in der "Zeit". Regan, Thatcher sind schon längere Zeit Geschichte, die meisten westeuropäischen Länder werden von Sozialdemokraten oder Sozialisten regiert. Warum haben die Konservativen mit Ausnahme Spaniens so abgewirtschaftet?

    Rüttgers: Das eine ist sicherlich die Tatsache, daß wir auch 16 Jahre regiert haben, erfolgreich regiert haben. Ich glaube nicht, daß diejenigen recht haben, die die These vertreten haben, in den Medien, daß die Menschen in Deutschland nun süchtig nach Reformen sind und Reformen haben wollten, sondern in Wahrheit, und das darf man ja nicht vergessen, nach den beiden großen historischen Entscheidungen, unserer Regierungszeit - Wiedervereinigung und europäische Einigung - waren die Leute ein Stück weit auf der Suche nach Ruhe.

    Heinemann: Brauchen wir in Deutschland eine geistig-moralische Wende?

    Rüttgers: Die hat's gegeben. Das ist übrigens einer der Punkte, wo wir nicht mutig genug waren. Wir haben uns da von den Linken einreden lassen, das habe gar nicht stattgefunden. Wenn Sie mal überlegen '82 da konnten Sie nicht von Elite reden, da wurden Sie aus dem Saal gejagt. Leistung, etwa im Bildungswesen, war ein verpöntes Wort. Unser Verhältnis zur Nation war damals völlig verkrampft. Das hat sich normalisiert, auch durch ganz konkrete Maßnahmen, Stichwort Bundeswehreinsatz in Bosnien und anderes , das hat schon stattgefunden.

    Heinemann: Herr Rüttgers, zum Schluß noch ein ganz anderes Thema. Nach der Wahlniederlage hat das amtierende Kabinett von Bundeskanzler Kohl nach Information von "Bild am Sonntag" noch rund 70 Beförderungen zugestimmt, stimmt das?

    Rüttgers: Nein, das stimmt nicht.

    Heinemann: Wie kommt die "Bild am Sonntag" dazu?

    Rüttgers: Das weiß ich nicht.

    Heinemann: Sie haben sehr konkrete Zahlen genannt: 18 Beförderungen allein im Bundeswirtschaftsministerium, 14 im Blüm-Ministerium.

    Rüttgers: Also ich hab ja nun meine Kabinettsvorlage gelesen. Das stimmt nicht.

    Heinemann: Herr Rüttgers, ich danke Ihnen für das Gespräch.