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"Das Deutsche ist nicht mehr wie eine hässliche Warze"

"Spiegel"-Kulturchef Matthias Matussek glaubt nicht, dass der von der Begeisterung für die deutsche Fußballnationalmannschaft ausgelöste Patriotismus eine Eintagsfliege bleibt. Die Gefühle hätten sich ins kollektive Bewusstsein gesenkt und abgelagert, wo sie eine abrufbare Erinnerung blieben, so der Autor des Buchs "Wir Deutschen. Warum die anderen uns gern haben können".

Moderation: Jürgen Liminski | 07.07.2006
    Jürgen Liminski: Es war die höchste je gemessene Einschaltquote in Deutschland: 91,2 Prozent oder 31,3 Millionen Zuschauer sahen, wie ein kleiner Italiener, der Spieler Grosso, den großen Traum der Deutschen mit einem Bananenschuss in letzter Minute platzen ließ. Augenblicklich sanken die schwarz-rot-goldenen Fahnen auf den Boden herab; das patriotische Hochgefühl hatte eine eiskalte Dusche abbekommen. Ist nun Schluss mit Patriotismus? War er sowieso nur eine weltmeisterliche Eintagsfliege? Zu diesen und anderen Fragen begrüße ich den Kulturchef des "SPIEGEL", Matthias Matussek, in jüngster Zeit einem größeren Kreis bekannt geworden durch sein Buch "Wir Deutschen. Warum die anderen uns gern haben können". Herr Matussek, viele mögen uns jetzt oder können uns gern haben, wie Sie sagen, insbesondere die Italiener. Aber mögen wir uns jetzt auch selbst? Ja sind wir, um den Bundespräsidenten zu zitieren, "stolz auf Deutschland"?

    Matthias Matussek: Also wir haben die letzten drei Wochen eine Bejahungswelle erlebt, ein Jubelbedürfnis, einen Tanz in den Straßen, wie wir ihn vorher noch nicht gehabt haben nach dem Kriege. Stellt alles in den Schatten, was wir bei dem historisch ungleich wichtigeren Ereignis der Wiedervereinigung 1989 sozusagen an positiven Gefühlen hatten. Und, ja, ich glaube, das Land hat sich geändert und wir haben uns verändert in diesen drei Wochen.

    Liminski: Und mögen wir uns jetzt auch selbst?

    Matussek: Ja. Ich glaube, wir haben eine positivere Einstellung zu uns. Ich glaube, das Deutsche ist nicht mehr so was wie eine hässliche Warze, was wir verstecken müssen. Jeder von uns kennt ja aus den vergangenen Jahren immer das Gefühl: Oh Gott, hoffentlich wird man im Ausland nicht als Deutscher identifiziert, weil mit deutsch, wenn man gesagt hat: "typisch deutsch", war immer ein ganzes Bündel an negativen Eigenschaften und ganz langweiligen, fürchterlichen Attributen verbunden. Und ich glaube, das hat sich geändert. Mit Deutschsein sind positive Gefühle verknüpft und wir mögen uns. Wir können uns darin besser annehmen.

    Liminski: Seit dem 9. Juni ist Deutschland wie verwandelt, sagen Sie. War der Patriotismus aber nicht doch nur eine Eintagsfliege - und zwar nicht im Sinne Renaults ein "tägliches Plebiszit", sondern ein vergängliches Plebiszit? Ist in drei Tagen nicht alles vorbei?

    Matussek: Also ich hoffe nicht, dass der Patriotismus von einem Fußballergebnis abhängig ist. Natürlich waren wir alle ziemlich am Boden erschlagen - ich ganz besonders, ich nehme mir Fußball immer wahnsinnig zu Herzen. Aber es ist ja auch interessant, was in so einem Wettbewerb an Gefühlen wachgerufen wird. Vorher ist mir immer gesagt worden: Ja, das ist Nationalismus, oder das Nationalgefühl ist was Altmodisches, das ist die überwundene Evolutionsstufe und so weiter, in der Welt von morgen gibt es das nicht mehr. Und nun plötzlich sieht man Leute, die genau das gesagt haben, sich um den Hals fallen, wenn Deutschland gewonnen hat, und zu Tode betrübt sein, wenn Deutschland verloren hat. Also es scheint sozusagen auf einer atavistischen tiefen Ebene in jedem von uns das Gefühl der Zugehörigkeit zu den eigenen Leuten zu geben, wie es auch in anderen Nationen da ist. Und das ist eine ganz normale Sache. Und ich glaube nicht, dass dieser Patriotismus eine Eintagsfliege ist. Ich glaube, was da wachgerufen wurde an Gefühlen - und auch an Bildern im Übrigen -, hat sich ins kollektive Bewusstsein gesenkt und abgelagert und wird bleiben, wird als abrufbare Erinnerung bleiben.

    Liminski: Klinsmann ist die neue Lichtgestalt, Herr Matussek, er hat Spiele noch in der Schlussphase gewendet. Braucht man als Nation, mithin auch in der Politik, nicht solche Lichtgestalten, auf die oder in denen sich Patriotisches dann verdichtet? Oder reicht ein gewollter Stolz auf ein gesellschaftlich vielleicht marodes und reformbedürftiges, aber landschaftlich schönes Land?

    Matussek: Ja also, ja ohne Zweifel im Übrigen, dass unser Land schön ist, landschaftlich schön ist. Es gibt immer zunehmend mehr Leute, die jetzt im eigenen Land Urlaub machen - das mache ich dieses Jahr mit meiner Familie auch, Urlaub, und fahre zur Loreley, weil ich da noch nie gewesen bin. Aber für Figur Klinsmann: Es ist natürlich hier eine Legendengestalt jetzt, weil alle Ingredienzien eines Helden wieder da zusammenkommen. Er war der Einzelne, er war derjenige, mit Visionen. Er hat sich gegen Widerstände durchgeboxt. Er begann als absoluter Außenseiter und steht jetzt sozusagen als strahlender Held im Zentrum der Zuneigung. Warum? Weil er so was, tatsächlich so was wie eine Vision vorgelegt hat und an diese Idee, die er gehabt hat, geglaubt hat und die umgesetzt hat und damit alle anderen mitgerissen hat. Und natürlich kommt die Politik ohne solche Heldenfiguren auch nicht aus. Ich erinnere an Kennedy, ich erinnere an die großen frühen Stunden von Tony Blair, also wo ein Einzelner sozusagen zu verkörpern scheint das, was kollektiv vorher gewünscht, geträumt, gedacht wurde. Und, ja, die Frage lässt sich nur mit Ja beantworten. Wir brauchen in der Politik unbedingt so jemanden. Und wenn man jetzt nach Berlin guckt in diesen Tagen und dieses entsetzlich kleinkarierte, technokratische Klein-Klein sieht, wünscht man sich die Lichtgestalt Klinsmann in der Politik umso mehr.

    Liminski: Sehen Sie also keinen Klinsmann in der deutschen Politik?

    Matussek: Ne, leider nicht. Leider nicht. Wir, es waren ja große Erwartungen - auch meinerseits - geknüpft an Angela Merkel, weil sie ja eine ostdeutsche Kanzlerin ist, oder eine Kanzlerin mit dieser anderen Vita. Ich dachte mir, das ist die erste Kanzlerin - auch eine Frau -, die erste Kanzlerin, die sozusagen die Nachkriegszeit hinter sich gelassen hat, die das neue, das vereinte, zusammengekommene Deutschland verkörpert - meine Frau ist aus der DDR und ich fand das toll, dass wir an der Spitze des Staates jemanden haben, der uns beide sozusagen repräsentiert. Aber, sie scheint eine geschickte Taktiererin zu sein, aber das, was sie an Politisch-Visionärem vorgelegt hat, das ist eher zu vernachlässigen.

    Liminski: Sie argumentieren mit den Bildern im kollektiven Gedächtnis, mit atavistischen Ebenen. Die Soziobiologie spricht in der Tat auch von entsprechenden Programmen im Gehirn, die ein Wir-Gefühl abrufen oder verlangen und damit auch Sicherheit suggerieren. Braucht dieses Wir-Gefühl nicht auch Geschichte und vor allem Zukunftsperspektiven? Sie sprachen eben auch von "Visionen"?

    Matussek: Ja, es ist richtig. Alle Nationen haben natürlich im Moment diese Rückwendung auf das Eigene, auf die eigene kulturelle Identität, auf die Nation. Das ist ja eine spannende welthistorische Situation im Moment: Es gibt dieses Aufsteigen neuer Mächte, es gibt die Globalisierung, es gibt eine grenzenlose Internationalisierung durch die Medien, durch den Markt und so weiter. Und gleichzeitig wächst in allen Nationen dieses Gespür, dieses Bedürfnis nach dem je Eigenen, nach der kulturellen Identität. Das ist da. Und kulturelle Identität bedeutet natürlich, dass man sich seiner Geschichte vergewissert. Wir haben jetzt vor drei Wochen unter großer öffentlicher Anteilnahme das Deutsche Historische Museum in Berlin eröffnet, das eine, sozusagen einen deutschen Geschichtsentwurf präsentiert, der über die zwölf dunklen Jahre der Nazizeit hinaus und zurück reicht. Die erste geschlossene Geschichtsausstellung, die sozusagen in der Zeitenwende beginnt und die präsentiert 2000 Jahre stolze deutsche Geschichte, die auch zum großen Teil eben Kulturgeschichte, und das ist spannend, was da der Öffentlichkeit sozusagen für Räume eröffnet werden.

    Liminski: Die Franzosen haben da eine voluntaristischere Vorstellung von Nation: Es ist Franzose, wer Franzose sein will und damit auch die französische Lebensart akzeptiert. Wir Deutschen haben eine eher kulturelle Idee von Nation geprägt - von Sprache, Kultur, Geschichte. Wäre es nun nicht sinnvoll, sich an die französische Idee anzunähern? Also nicht immer erst auf Ereignisse zu warten, die uns bewusst machen, dass Deutschsein auch schön sein kann. Immerhin werden die Franzosen mit ihrer Idee ja vielleicht sogar Weltmeister.

    Matussek: Ja, ja gut, also akzeptiere ich. Jemand, der so fußballverrückt ist wie ich, akzeptiert das als Metapher. Aber wir bewegen uns ja schon auf das französische Modell auch. Wir sind ja im Grunde genommen insofern ein Einwanderungsland und die, die zu uns kommen, die wollen Deutsche werden und hier Deutsche werden und die werden dann auch Deutsche. Ereignisse sind allerdings auch sehr wichtig. Eine Nation muss sich Ereignisse schaffen, in denen sie sich selber bejubeln kann. Und nun haben wir, die wir ja eher an triste und trübe Gedenktage und Jubiläen gewöhnt waren, diese WM zum Anlass genommen, sozusagen das Positive zu feiern. Ich glaube, nach dieser WM wird ein Vorschlag nicht mehr kommen, den der ehemalige Bundeskanzler Schröder gemacht hat, damals, dass er sagte: Der Tag der Deutschen Einheit ist zu teuer, den schaffen wir ab oder wir verlegen ihn auf irgendeinen sozusagen Durchschnittssonntag. So was ist ab sofort nicht mehr möglich. Ich glaube, die Deutschen sind mir patriotisch und nationenbewusst genug, um zu sagen: Ne, wir brauchen auch unsere eigenen Ereignisse, um positive Dinge zu feiern.

    Liminski: Patriotismus ist also, das darf man nun festhalten, mehr als Rudelbildung um eine Fahne. Aber was ist nun, vor allem was ist die deutsche Variante davon, auch nach dem Ende des Fußballfestes? Lässt sie sich auch politisch gebrauchen oder gestalten im Sinne einer höheren Opferbereitschaft bei Reformen?

    Matussek: Umfragen zeigen ja, dass die Deutschen - die Umfragen schon zur letzten Wahl -, zeigen, dass die Deutschen im Prinzip zu schmerzhaften Einschnitten bereit sind. Wenn es dann allerdings um die konkreten Maßnahmen geht, dann antworten die jeweiligen dann betroffenen Gruppen wiederum anders. Aber ich glaube, dass es ein Nationenzusammengehörigkeitsgefühl braucht, um gerade durch schwierige Zeiten zu kommen und zu sagen: Okay, das muss jetzt sein, diesen Einschnitt machen wir. Und da ist Patriotismus natürlich sehr tauglich. Und ich glaube, dass da eine gestiegene Bereitschaft ist. Unser Patriotismus unterscheidet sich ja von dem der anderen Nationen dadurch, dass wir ihn erst mal sehr, sehr kompliziert und fragwürdig empfinden, eigene Widerstände überwinden müssen. Und das ist eigentlich ein ganz guter demokratischer Instinkt, den wir da haben. Wir wissen, dass patriotische Gefühle ausgebeutet wurden in der Vergangenheit, ausgebeutet werden können. Also, wenn wir nun Fahne zeigen, zeigen wir sie mit einem sehr wachen Verstand - nicht nur mit glühendem Herzen, sondern auch einem sehr wachen Verstand. Und ich glaube, das ist eine ganz gute Kombination.