Silvia Engels: Teilnehmen an dem Gedenken in Straßburg wird auch Hans-Gert Pöttering. Er ist Leiter der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, 35 Jahre lang war er zudem für die CDU-Abgeordneter im Europäischen Parlament und von 2007 bis 2009 Präsident des Europäischen Parlaments. Wir erreichen ihn schon in Straßburg, guten Morgen, Herr Pöttering!
Hans-Gert Pöttering: Guten Morgen, Frau Engels!
Engels: Sie hatten gerade vor allem in der Europapolitik Zeit Ihres Lebens, möchte man fast sagen, viel mit Helmut Kohl zu tun. Welches bleibt hier Ihr prägender Eindruck von ihm?
Pöttering: Ja, das Entscheidende war, dass Helmut Kohl Vertrauen gewann bei den anderen Regierungschefs der Europäischen Union, aber auch bei Michail Gorbatschow, dem damaligen Präsidenten der Sowjetunion, und vor allem auch bei George Bush, dem Älteren, also dem Vater, dem amerikanischen Präsidenten. Und das war unglaublich hilfreich für den Prozess der Einheit Deutschlands, das ja dann schließlich gelang und am 3. Oktober 1990 Deutschland dann in Freiheit wiedervereint war. Ich glaube, das Vertrauen ist das Wichtigste, was Helmut Kohl uns hinterlässt.
Engels: Vertrauen hat er im Ausland vor allen Dingen gestiftet, das hört man immer wieder. Der CDU-Politiker wurde, das merkt man auch jetzt, im Ausland stets sehr hoch geschätzt, teilweise höher als im Inland. Gab es nach Ihrer Beobachtung einen Unterschied zwischen dem Verhalten Kohls als CDU-Chef auf nationaler Ebene und seinem Verhalten, das er auf internationalem Parkett an den Tag legte?
Pöttering: Ja, Helmut Kohl war ja neben seinem bedeutenden Amt als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland der Vorsitzende der CDU Deutschlands, und dann ist es ganz normal, dass sich innenpolitisch, also in der innenpolitischen Auseinandersetzung mit anderen Parteien, besonders auch mit den Sozialdemokraten als der großen Oppositionspartei, natürlich immer Differenzen ergaben. Das ist ganz natürlich im politischen Geschehen, und das bedeutet Streit, das bedeutet Auseinandersetzung, das bedeutet Diskussionen, und das war in diesem Sinne außenpolitisch, europapolitisch nicht in dieser Schärfe der Fall. Insofern muss man diese Rollen – einerseits Bundeskanzler, andererseits Parteivorsitzender – doch unterscheiden, und das gehört einfach zur Politik dazu.
"Das war eine sehr gute Zusammenarbeit, die ich damals mit ihm hatte"
Engels: Wie sind Sie mit diesem zweifachen Verhältnis und diesem zweifachen Auftreten Helmut Kohls zurecht gekommen, hatten Sie auch mal Konflikte mit ihm?
Pöttering: Eigentlich nicht. Ich habe am meisten mit ihm natürlich zu tun gehabt in meiner Zeit, als ich stellvertretender Fraktionsvorsitzender war der europäischen Volkspartei, also der Christdemokraten, zwischen 1994 und 1999. Das war eine sehr gute Zusammenarbeit, die ich damals mit ihm hatte. Es ging um die Weiterentwicklung der Europäischen Union, um die Verträge, insbesondere auch um den Vertrag von Amsterdam, der dem Europäischen Parlament viele neue Möglichkeiten eröffnete, und ich hatte mit Helmut Kohl zu tun in meiner Verantwortung als damals stellvertretender Vorsitzender für die Fragen der Erweiterung.
Es lag ja im Horizont, dass Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Slowenien Mitglied der Europäischen Union werden sollten, und ich leitete damals eine Arbeitsgruppe in unserer Fraktion, die sich mit der Erweiterung befasste, und das hat mich natürlich auch immer wieder zusammengeführt mit Helmut Kohl. Und nach seinem Ausscheiden als Bundeskanzler hatte ich immer wieder Kontakt mit ihm, als ich Fraktionsvorsitzender der europäischen Volkspartei war in den Jahren 1999 bis 2007.
"Wenn wir den Euro nicht hätten, wir müssten ihn heute erfinden"
Engels: Sie haben es angesprochen, in Fragen der Europapolitik lagen Sie mit Helmut Kohl auf einer Linie, auch was den Kurs der Erweiterung und ja auch der Vertiefung der EU angeht. Die Verdienste gelten ja bis heute fort. Es sind aber auch einige Bruchlinien, gerade rund um die Wirtschafts- und Währungsunion, die die EU ja heute auch in Krisen stürzt, damals auch geschaffen worden, weil man sie nicht gesehen hat?
Pöttering: Ja, Frau Engels, zunächst einmal muss man darauf hinweisen, dass die Währungsunion nicht der Preis war für die Deutsche Einheit – das wir ja immer wieder behauptet. Vor der deutschen Einheit, bereits lange vorher, in den 80er-Jahren, gab es ja Pläne von Jacques Delors und anderen, die hinführten auf eine Europäische Währungsunion. Und was den Euro angeht, ist die Wahrnehmung in Deutschland auch eine andere als beispielsweise in Frankreich. Ich habe vor wenigen Wochen mit einem früheren französischen Staatspräsidenten über den Euro gesprochen, und der sagt, das ist doch alles in Ordnung, da gibt es doch keine großen Probleme. In Deutschland ist die Wahrnehmung anders. Aber das bedeutet natürlich – und da haben Sie einen richtigen Punkt getroffen –, wir müssen weiter daran arbeiten, den Euro stabil zu machen. Wenn wir den Euro nicht hätten, wir müssten ihn heute erfinden. Und wir müssen jetzt gerade auch mit dem neuen französischen Staatspräsidenten Macron, aber auch allen anderen Partnern der Eurozone einen Weg suchen, wie wir die Europäische Währungsunion stärken können.
"Ich bin zuversichtlich, dass wir da gute Lösungen finden"
Engels: Lassen Sie uns einen Blick voraus werfen: Der Umgang mit dem politischen Nachlass von Helmut Kohl und dementsprechend auch die Würdigung seines Erbes hängt ja auch damit zusammen, welchen Einblick die Erben, die Wissenschaftler einnehmen können in die Unterlagen, die Helmut Kohl hinterlassen hat, die politischen Unterlagen. Sie sind Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung und Helmut Kohl hatte der KAS ja 1998 Akten aus seinem Bestand zukommen lassen, 2010 jedoch wieder abholen lassen. Haben Sie in der Konrad-Adenauer-Stiftung überhaupt noch Unterlagen über Helmut Kohl?
Pöttering: Ja, natürlich haben wir noch Unterlagen, aber wir haben natürlich Helmut Kohl auch Unterlagen zur Verfügung gestellt, aber immerhin mit der Vereinbarung, dass diese Unterlagen der Konrad-Adenauer-Stiftung zurückgegeben werden. Und ich würde auch nicht empfehlen, darüber jetzt groß eine Auseinandersetzung zu beginnen, sondern am Ende wird natürlich auch die so erfolgreiche Kanzlerschaft von Helmut Kohl als Kanzler der Einheit, als Ehrenbürger Europas natürlich auch wissenschaftlich aufgearbeitet werden müssen, und wir setzen uns sehr dafür ein, dass wir eine Stiftung bekommen nach dem Beispiel der Willy-Brandt-Stiftung, der Helmut-Schmidt-Stiftung. Das heißt, dass es eine Stiftung geben wird, die sich mit dem Erbe von Helmut Kohl befasst, und das sollten wir alles in Ruhe und Gelassenheit mit den zuständigen Institutionen, mit dem Bundestag, mit der Bundesregierung, mit seiner Witwe diskutieren, und ich bin auch zuversichtlich, dass wir da gute Lösungen finden.
Silvia Engels: Rechnen Sie damit, dass gerade die Witwe, Maike Richter-Kohl diese Akten auch wieder Ihrer Stiftung zukommen lässt und gegebenenfalls auch weitere Unterlagen, die Helmut Kohl in seinem Privathaus hatte?
Pöttering: Also ich bin davon überzeugt, dass Frau Kohl-Richter ein großes Interesse daran hat, wie wir natürlich alle, dass das Erbe, das Vermächtnis von Helmut Kohl als großer europäischer und deutscher Politiker, Staatsmann, dass das hinreichend gewürdigt wird. Und dafür braucht man natürlich die Unterlagen, die Akten, um das ein oder andere noch neu zu erfahren.
Aber selbst ohne diese Akten ist die historische Größe von Helmut Kohl ganz klar für alle deutlich, und der Staatsakt – nein, es ist kein Staatsakt –, der Trauerakt heute im Europäischen Parlament bringt ja zum Ausdruck, welche Wertschätzung Helmut Kohl genießt über Deutschland hinaus, in Europa und in der Welt. Und ich bin sicher, dass sein historisches Erbe auch noch in der Zukunft deutlicher gemacht werden kann als bisher. Insofern bin ich ganz zuversichtlich, dass die historische Größe von Helmut Kohl das am Ende Dominierende ist, und das wird bleiben.
"Wenn wir dafür arbeiten, dann arbeiten wir im Sinne von Helmut Kohl"
Engels: Seinen Platz in den Geschichtsbüchern rund um die deutsche Einheit hat Helmut Kohl sicherlich sicher, aber sind die von ihm eingeleiteten Integrationsprozesse in der EU Ihrer Einschätzung nach wirklich unumkehrbar?
Pöttering: Unumkehrbar ist nichts im Leben, weder im persönlichen noch im politischen Leben und die heutige politische Generation. Das bedeutet für Deutschland natürlich, Bundeskanzlerin Angela Merkel und alle, die Verantwortung haben in Deutschland, in der Europäischen Union, müssen weiter daran arbeiten, dass die Einigung Europas Bestand hat, und jede Generation hat neue Herausforderungen.
Und ich bin zuversichtlich, wenn alle ihre Verantwortung wahrnehmen, dann wird Europa auch in dieser schwierigen Zeit, in der wir uns heute in der Welt befinden – die autoritären Regime nehmen zu … Und da kommt es auf Deutschland und auf die Europäische Union entscheidend an, und ich bin zuversichtlich, dass die politisch Verantwortlichen auch das Richtige tun, um die Einheit der Europäischen Union nicht nur zu bewahren, sondern auch zu stärken. Und da ist es ein großes Glück, dass wir in Frankreich jetzt einen neuen Präsidenten haben mit Emmanuel Macron, der ein überzeugter Europäer ist und ein guter Partner Deutschlands. Und wenn die anderen Staaten der Europäischen Union den Weg ebenso gehen für die Einheit Europas, dann bin ich sehr zuversichtlich, dass wir unsere Werte, die europäischen Werte, die Freiheit, die Würde des Menschen, die Demokratie, die Rechtsordnung, den Frieden bewahren können. Und wenn wir dafür arbeiten, dann arbeiten wir im Sinne von Helmut Kohl.
Engels: Hans-Gert Pöttering war das, von 2007 bis 2009 war er Präsident des Europäischen Parlaments. Wir sprachen mit ihm über die Trauerfeier in Straßburg, die heute für Helmut Kohl stattfinden wird. Vielen Dank für das Gespräch!
Pöttering: Gerne, Frau Engels!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.