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Das Erbe eines Träumers

Die Martin-Luther-King-Gedenkstätte in Atlanta ist eine Art Freilichtmuseum der Bürgerrechtsbewegung: Mit dem Geburtshaus, der Kirche und dem Grabmal des prominenten Bürgerrechtlers dokumentiert sie den langen Kampf der Afroamerikaner um ihre Freiheit und ihre Rechte. Und sie ist nur eine von vielen Stätten, die die afroamerikanische Kultur würdigen.

Von Marion Trutter | 06.04.2008
    Das Geburtshaus des Martin Luther King Jr. ist eine vielbesuchte Gedenkstätte.
    Das Geburtshaus des Martin Luther King Jr. ist eine vielbesuchte Gedenkstätte. (Marion Trutter)
    "I have a dream, that one day this nation will rise up and live out the true meaning of its creed: 'We hold these truth to be self-evident, that all men are created equal.'"

    Drei Schulklassen und eine Handvoll Touristen drängen sich um einen Monitor. Es spricht: Dr. Martin Luther King Jr. Die Kinder sind mucksmäuschenstill, und auch uns läuft eine Gänsehaut über den Rücken.

    "I have a dream that one day on the red hills of Georgia, the sons of former slaves and the sons of former slave owners will be able to sit down together at the table of brotherhood."

    Es war im August 1963, als der amerikanische Bürgerrechtler in Washington seine wohl berühmteste Rede hielt. Mit der Inbrunst des Predigers offenbarte er den Amerikanern seinen Traum. Den Traum von einem Land, in dem alle Menschen gleich sind, in dem Charakter mehr zählt als Hautfarbe.
    "I have a dream that my four little children will one day live in a nation where they will not be judged by the color of their skin but by the content of their character."

    Die Martin-Luther-King-Gedenkstätte in Atlanta ist eine Art Freilichtmuseum der Bürgerrechtsbewegung. Sie umfasst das Geburtshaus des späteren Bürgerrechtlers, seine Kirche, sein Grabmal. Und sie dokumentiert den langen Kampf der Afroamerikaner um ihre Freiheit und ihre Rechte.

    Als Führer durch die Gedenkstätte und das umliegende Sweet Auburn-Viertel nehmen wir uns einen GPS-Ranger. Kein Mann in grüner Uniform, sondern ein Satelliten-Navigations-System. Für knapp zehn Dollar kann man den GPS-Empfänger ausleihen, einen Apparat zum Umhängen, der auch gleich freundlich zu uns spricht:

    "Willkommen zu Ihrem Rundgang. Ihr Ranger gibt Ihnen unterwegs automatisch Multimedia-Informationen. Ihren jeweiligen Standort sehen Sie auf der Karte. Bitte halten Sie die Antenne immer nach oben gerichtet für automatischen Empfang."

    Wir spazieren entlang der Auburn Avenue. Vor Hausnummer 501 meldet sich das GPS. Wir stehen vor einem zweistöckigen Wohnhaus in Beige und Braun, mit Vorgarten und der typischen Südstaaten-Veranda. Hier wurde Martin Luther King Jr. am 15. Januar 1929 geboren. Ein junger Mann lässt uns ein.

    Innen ist das Ambiente bürgerlich, die Zimmer groß, mit hohen Decken und Fenstern. Wir werfen einen Blick ins Schlafzimmer der Eltern, wo Martin und seine Geschwister geboren wurden. Wir sehen das Esszimmer, den Mittelpunkt des Familienlebens. Und über das Kinderzimmer staunen vor allem die Kleinen: Man sieht weitaus mehr Bücher als Spielzeug. Kein Wunder, denn Mutter und Großmutter waren Lehrerinnen, der Vater Pastor. Der Historiker Dean Roley erzählt:

    "Etwa zwei Straßen weiter gab es eine Bibliothek. Jeden Samstagmorgen spazierte Martin mit der Büchereikarte seines Vaters dorthin und holte sich einen Stapel Bücher. Die las er dann während der Woche, und am Samstag drauf holte er sich den nächsten Stapel. In der Familie wurde er stets ermuntert, zu lesen, seinen Wortschatz zu erweitern, Zeitung zu lesen und Fragen zu stellen über Gott und die Welt. Lesen und Lernen hatten in der Familie wirklich einen hohen Stellenwert."

    Martin trat in die Fußstapfen des Vaters. Von 1960 bis 1968 war er Copastor in der Ebenezer Baptist Church an der Seite von Martin Luther King Senior. Die Kirche liegt nur einen Block von Kings Geburtshaus entfernt. Und gegenüber die neue Ebenezer-Kirche - ein Bau aus rosa Backstein, mit viel Raum und Licht, aber sonst ausgesprochen schlicht.

    Wir besuchen die Kirche an einem Sonntag. Für den Gottesdienst haben sich die Ladies der Gemeinde so richtig in Schale geworfen. Sie tragen ihre besten Kostüme in Lila und Beige und Apricot. Dazu hochhackige Schuhe und riesige Hüte mit Perlen und Schleifen.

    Der örtliche Pastor eröffnet den Gottesdienst und kündigt den Redner für die Predigt an. Unser Herz schlägt höher, als der die Kanzel betritt. Es ist Reverend Jesse Jackson, jener Mann, der Seite an Seite mit Martin Luther King kämpfte und der sich 1984 als erster Afroamerikaner um die US-Präsidentschaft bewarb. Jackson, selbst Pastor, wählt zwei Verse aus dem ersten Buch Mose als Basis für eine Hymne an sein großes Idol:

    "Sie sagten untereinander: 'Da kommt der Träumer. Kommt und lasst uns ihn töten und in eine Grube werfen. Wir werden sagen, ein wildes Tier habe ihn gefressen. Dann wollen wir mal sehen, was aus seinen Träumen wird.'
    Dieses Jahr gedenken Amerika und die Welt des vor 40 Jahren brutal ermordeten Dr. Martin Luther King Jr. , Träumer einer Minderheit mit einer Vision für viele. Träumer sterben oft jung. Träumer marschieren nach einem anderen Takt. Sie hören außergewöhnliche Dinge. Sie schwimmen gegen den Strom. Doch diese Träumer schlafen nicht! Sie träumen mit offenen Augen."

    Jesse Jackson schlägt den Bogen von Martin Luther King zu Barack Obama. Die Gemeinde jubelt. Wir haben das Gefühl, einem historischen Moment beizuwohnen.

    Gleich hinter der Kirche liegt der International Civil Rights Walk of Fame, die Ruhmesmeile der Bürgerrechte. Ähnlich wie die Sterne der Filmgrößen in Hollywood markieren hier Fußabdrücke die Spuren berühmter Menschen, die sich für Frieden und Gleichheit einsetzten. Vor ein paar Wochen durfte auch Tyrone Brooks hier seinen Schuhabdruck hinterlassen. Der Bürgerrechtler war schon zu Kings Zeiten aktiv und ist heute Abgeordneter im Repräsentantenhaus von Georgia.
    "Diese Ruhmesmeile hebt das Ansehen von Atlanta. Sie bringt Aufmerksamkeit und vermittelt eine Menge über unsere Geschichte. Und sie ist wirklich international, denn viele der Namen hier gehen weit über Atlanta und über die USA hinaus. Sehen Sie zum Beispiel Nelson Mandela, Mahatma Ghandi, Desmond Tutu oder auch Michael Manley, den ehemaligen Premierminister von Jamaica.

    Und nun selbst hier verewigt zu sein, ist eine Ehre, die ich gar nicht beschreiben kann. Es ist einfach überwältigend. Man sagt sich: Was verschafft mir diese Ehre? Wie habe ich es nur verdient, hier unter all diesen Giganten zu sein?"

    Für viele Afroamerikaner ist der historische Sweet Auburn District so etwas wie die Quelle ihres Selbstbewusstseins - und das nicht erst seit Martin Luther King. In diesem Viertel von Atlanta hatten schon vor 100 Jahren viele Schwarze ihre Läden und Firmen. Auf dieses Erbe beruft sich auch Sonya Jones, Inhaberin einer kleinen Bäckerei an der Auburn Avenue:

    "Ich stamme aus Atlanta, also bin ich mir der Dinge, die hier geschehen sind, durchaus bewusst. Ich fühle wirklich die Geschichte, und ich mag es, in einer Gegend zu sein, wo Schwarze schon vor langer Zeit als Profis unterwegs waren - als kreative Individuen und Unternehmer.

    Da ist zum Beispiel der Silver Star Barber Shop, der älteste schwarze Männerfriseur der Stadt, dann die Drogerie von Yates and Milton oder auch das Royal Theatre, das erste schwarze Kino in Atlanta. Heute finden dort vor allem kulturelle Veranstaltungen statt.

    In der Nähe findet man auch die Atlanta Daily World, eine schwarze Tageszeitung, das Apex Museum, und die Auburn Avenue Forschungsbibliothek für afroamerikanische Kultur. Also neuere Einrichtungen in der Auburn Avenue für schwarze Kultur, Literatur und Kunst."

    1997 eröffnete Chef Sonya in dieser historischen Umgebung ihre Sweet Auburn Bread Company. Nur ein paar Quadratmeter hat sie zum Teigrühren, Backen und Verkaufen. Wenn die zwei Tischchen besetzt sind, geht die Tür fast nicht mehr auf. Doch die Kunden sind wild nach Sonyas Spezialitäten.
    "Ich serviere Euch heute ein traditionelles Südstaatenfrühstück mit Lachskroketten, Räucherwurst, Speck, Buttermilchplätzchen und einige meiner Eigenkreationen: Süßkartoffel-Muffins und 'Nackte Kolibris' mit Banane und Ananas."

    Und dann ist da noch der legendäre Süßkartoffel-Käsekuchen, den 1999 sogar der damalige US-Präsident kostete. Natürlich hängt das Foto des besagten Moments an der Wand. Es zeigt Bill Clinton, Chef Sonya - und den berühmten Kuchen.
    Nicht weit von hier liegt das Apex-Museum, ein multimediales Panorama afroamerikanischer Kultur. Die Ausstellung spannt den Bogen vom Schicksal afrikanischer Sklaven über die Bürgerrechtsbewegung bis zu den modernsten technischen Erfindungen schwarzer US-Bürger. Das Museum zeigt ein nachgebautes Sklavenschiff mit Regalen, in die hunderte Menschen gepfercht wurden. An der Wand hängen Listen mit den Namen von Sklaven, ihren Fähigkeiten und ihrem Marktwert. Spitzenpreis für einen jungen Zimmermann, Wert gleich null für einen Blinden. Vom Band tönen bittere Klagen.

    Durchs Museum führt uns Thomas White, ein ehrenamtlicher Mitarbeiter. Strahlend berichtet er von den Fähigkeiten und Errungenschaften seiner afroamerikanischen Brüder. Und er präsentiert den Yates & Milton Drugstore, der von seinem ursprünglichen Standort in der Auburn Avenue hier ins Museum verfrachtet wurde. Ende des 19. Jahrhunderts war dies die erste Drogerie in schwarzer Hand.

    "Hier sehen Sie, wie der Laden damals aussah. Er war eine Art Treffpunkt im Viertel. Man konnte sich hinsetzen, mit den Nachbarn klönen, einen Milchshake trinken, einen Hotdog essen und Zeitschriften lesen. Das war für die Gemeinde wirklich wichtig!

    Da der Laden auf der Auburn-Avenue lag, war er auch einer der Lieblingsläden von Dr. King. Sein Wohnhaus lag ja nur ein Stück die Straße runter. Als Kind lief er nach dem Geigenunterricht gerne zu Yates und Milton, weil es hier sein Lieblingseis gab. Außerdem sagt man, dass Dr. King auch in seinen späteren Jahren gerne hier saß und Notizen für seine Aktivitäten niederschrieb. Dies war also mit Sicherheit einer seiner Lieblingsplätze."

    Doch aller Sweet Auburn-Nostalgie zum Trotz: So süß wie der Name des Viertels klingen mag, war das Leben hier über lange Jahre nicht. In den 70er-Jahren hielten Drogen und Kriminalität Einzug, die einst blühenden Geschäfte zerfielen. Heute aber wird wieder kräftig investiert. Es gilt als schick, im Sweet Auburn District ein Designstudio oder einen Club zu eröffnen und sich mit dem Flair der schwarzen Kultur zu umgeben. Als Nachbar Martin Luther Kings sozusagen.

    Auch Kings Grabmal, ein Marmorsarkophag inmitten eines riesigen Wasserbeckens, ist für viele Afroamerikaner ein regelrechtes Pilgerziel geworden. Schulklassen lassen sich vor dem schneeweißen Monument fotografieren, und am Rand des Bassins treffen wir ein junges Pärchen aus Mississippi.

    Die beiden sitzen ergriffen am Rand des Beckens. Ihr GPS-Ranger lässt sie den Abend nacherleben, an dem Dr. Martin Luther King Jr. starb. Am 4. April 1968, erschossen auf einem Balkon des Lorraine Motels in Memphis, Tennessee. Gemeinsam mit dem schwarzen Pärchen lauschen wir den Worten des damaligen US-Präsidenten Lyndon B. Johnson:

    "Das Leben eines Mannes, der für die Freiheit und den Glauben Amerikas stand, wurde jäh beendet. Damit wird unser Land bis ins Mark erschüttert. Meine Worte können die Lücke, die hier gerissen wurde, niemals ermessen. Aber ich glaube aus tiefstem Herzen: Der Traum von Dr. Martin Luther King Jr. ist nicht mit ihm gestorben."