Dienstag, 19. März 2024

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Das Erbe Wilhelms II.
Historiker Rainer F. Schmidt zeichnet "Kaiserdämmerung" nach

Vor 150 Jahren wurde das deutsche Kaiserreich gegründet. Zu diesem Jubiläum sind etliche Sachbücher erschienen, auch zum Erbe dieser Zeit. Der Historiker Rainer F. Schmidt beschreibt das Wilhelminische Reich vom Abgang Bismarcks als Reichskanzler bis zum Ende des Ersten Weltkriegs.

Von Otto Langels | 19.09.2021
Rainer F. Schmidt: „Kaiserdämmerung. Berlin, London, Paris, St. Petersburg und der Weg in den Untergang“
Der Anfang vom Ende des deutschen Kaiserreiches (Buchcover: Klett-Cotta Verlag, Hintergrund: IMAGO / United Archives International)
Am 18. Januar 1871 wurde im Spiegelsaal von Versailles das deutsche Kaiserreich ausgerufen. Ein knappes halbes Jahrhundert später ging es bereits wieder zugrunde. Dazwischen lag eine Zeit wirtschaftlicher Dynamik und fortschrittlicher Sozialreformen, aber auch autoritärer Strukturen und politischen Stillstands. Rainer F. Schmidt, Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Würzburg, spricht von einem Staat mit zwei Gesichtern:
"Auf der einen Seite eine hochinnovative Industriegesellschaft, ein moderner Interventions- und Sozialstaat, der die Wurzeln für unseren Wohlfahrtsstaat legt, eine frei pulsierende Gesellschaft, und eben auch das weltweit freieste und korrekteste Wahlrecht, dass die Wahlbeteiligung auf bis zu 85 Prozent hochschraubt. Auf der anderen Seite bestehen aber vormoderne, ja fast verkrustete Strukturen fort, von traditionellen Eliten in Staat und Gesellschaft, Adel, Militär, hohe Beamtenschaft, die – ja, man könnte fast sagen - in einer Art von Belagerungs- und Bollwerksmentalität ihre Vorherrschaft im Staat mit Zähnen und Klauen verteidigen."
Welchen Einfluss diese beiden Seiten auf die Entwicklung des Kaiserreichs hatten, ist immer wieder Gegenstand kontroverser Debatten. Steht das Kaiserreich für preußisch-deutschen Militarismus, Kulturkampf, Antisemitismus, Sozialistengesetz, aggressiven Kolonialismus und Expansionsstreben oder für Sozialversicherung, Politisierung der Massen, Frauenbewegung, demokratischen und parlamentarischen Fortschritt? In jüngeren Darstellungen haben etwa Christopher Clark, Holger Afflerbach, Christoph Nonn oder Hedwig Richter das Kaiserreich in ein milderes Licht getaucht und ein positives Narrativ entwickelt.
Rainer F. Schmidt vertritt eine ähnliche Position. Er hebt die hellen Seiten der Wilhelminischen Ära hervor und relativiert die Verantwortung Deutschlands am Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Damit kritisiert er zugleich die Auffassungen etwa von Hans-Ulrich Wehler, Heinrich August Winkler, Wolfram Wette oder Eckart Conze, die immer noch den Ton in dieser Kontroverse vorgeben würden.
"Diese einseitige Sicht der Dinge ist das Ergebnis einer längst traditionell gewordenen Deutung. Sie lautet: Es war die notorisch aggressive und prestigesüchtige Außenpolitik des Deutschen Reiches vor 1914, die das Staatensystem sprengte und die zum Zusammenschluss der anderen Mächte gegen das Kaiserreich führte. Mit der Thronbesteigung Wilhelms II. und dem Sturz Bismarcks begann dieser Weg, der das Kaiserreich in den Untergang führte."

Der Lotse geht von Bord

Wer kennt nicht aus Schulzeiten die Karikatur vom Lotsen Bismarck, der von Bord geht? Mit dem Sturz des Reichskanzlers im März 1890 durch den unerfahrenen, geltungssüchtigen und sprunghaften jungen Kaiser setzt Rainer F. Schmidts anschauliche, flüssig geschriebene Darstellung ein. Die historische Erzählung lockert er durch markante Porträts einzelner Protagonisten auf, darunter auch die Beschreibung einer Frau: Victoria Adelaide Mary Louisa, Prinzessin von Großbritannien und Irland, die Ehefrau Kaiser Friedrichs III., des 99-Tage-Kaisers im Jahr 1888, der nach kurzer Regentschaft starb.
"Victoria war schockiert, als sie an einem eisigen Februartag in ihrer neuen Heimat eintraf. ‚Ich habe nur einen warmen Fleck, und das ist mein Herz,‘ so stöhnte sie. Entsetzlich empfand sie die Dürftigkeit ihrer neuen Umgebung im alten Flügel des Berliner Stadtschlosses: keine Bäder, keine Wassertoiletten, die Kamine ungefegt und unbrauchbar, die Fenster ließen sich nicht öffnen. Vor allem aber nahm sie Anstoß an ihrer Rolle als Frau am Hof und in der Gesellschaft. Was man sich hier wünscht, so schrieb sie an ihren Gatten, ist ‚ein williges Werkzeug in den Händen der Umgebung, eine Art Kammerfrau, die sich gut anzieht, hübsch aussieht, mit jedem ein banales Wort zu sprechen weiß‘ und ‚in ihrem eigenen Haus eine Puppe ist.‘"
Das Berliner Stadtschloss, das die junge Engländerin in düsteren Farben schildert, ist wohlgemerkt das Gebäude, das in den letzten Jahren als Humboldt-Forum wiederaufgebaut wurde.
Victoria machte sich mit ihrer undiplomatischen, besserwisserischen Art keine Freunde. In Berlin blieb sie die Ausländerin. Mit diesem Weibe, so Otto von Bismarck, mit einer von Humanität triefenden Moraltrompete wolle er nichts zu tun haben. Victoria hatte aber noch eine andere Seite, einen Perfektionswahn, unter dem vor allem ihr ältester Sohn, der spätere Kaiser Wilhelm II. litt.
"Er sollte nach ihrem Willen der Mustermensch des Jahrhunderts werden, ein Vorbild an Ernsthaftigkeit, Gerechtigkeitssinn und Pflichterfüllung. Aber statt Nestwärme und Zuneigung beherrschten Elektroschocks und metallene Stützapparate sein Dasein als Kind, die Folge eines dramatischen und langwierigen Geburtsverlaufs, als dessen Ergebnis sein linker Arm fünfzehn Zentimeter kürzer als der rechte blieb."
"Hart sein im Schmerz, nicht wünschen, was unerreichbar oder wertlos." Kaiser Wilhelm in einer Rede im Jahr 1904. "Zufrieden mit dem Tag, wie er kommt, in allem das Gute suchen und Freude an der Natur und an den Menschen haben, wie sie nun einmal sind."

"Pardon wird nicht gegeben!"

Wilhelm II., der 1888 im Alter von 29 Jahren den Thron bestieg, war die Verkörperung seiner Epoche, die Projektionsfläche des allgemeinen Stolzes auf Nation und Vaterland, so Rainer F. Schmidt.
"Als lautstarker Befürworter der vor allem vom Bürgertum getragenen Weltmacht- und Flottenpolitik verkörperte er den Großmachtanspruch des Reiches. Als säbelrasselnder oberster Kriegsherr war er der Inbegriff der zeitgenössischen Überbewertung militärischen Denkens und martialischer Wertmaßstäbe."
Die Herrschaft Wilhelms war geprägt von pompösen Auftritten, er gefiel sich als Stichwortgeber der Nation, irritierte die Öffentlichkeit wie die Regierung gleichermaßen durch peinliche Formulierungen und unbedachte Äußerungen. Berühmt-berüchtigt wurde seine sogenannte Hunnenrede aus dem Jahr 1900, als er in Bremerhaven ein Expeditionskorps verabschiedete, das den Boxeraufstand in China niederschlagen sollte.
"Ihr wisst es wohl, ihr sollt fechten gegen einen verschlagenen, tapferen, gut bewaffneten, grausamen Feind."
2.000 Matrosen waren am 27. Juli in Reih und Glied angetreten, als ihr Kaiser sie auf den Kampf gegen einen "verschlagenen, grausamen Feind" einstimmte. Ob es sich bei der vor Jahren zufällig entdeckten Edison-Wachswalze mit der Hunnen-Rede um die Originalstimme Wilhelms handelt, lässt sich auch nach eingehender Analyse des bayerischen Landeskriminalamtes nicht mit Bestimmtheit sagen. Der Text aber ist damals von anwesenden Journalisten stenografiert und in mehreren leicht voneinander abweichenden Versionen überliefert worden.
"Pardon wird nicht gegeben. Gefangene werden nicht gemacht. Führt eure Waffen so, dass auf tausend Jahre hinaus kein Chinese mehr es wagt, einen Deutschen scheel anzusehen."
Die Soldaten sollten die gleiche Haltung zeigen wie die Hunnen tausend Jahre zuvor. Daher der Name Hunnenrede. Sie hatte in Deutschland – vor allem aber im Ausland – eine verheerende Wirkung. Wilhelm II. festigte seinen Ruf als Repräsentant eines militaristischen und inhumanen Kaiserreiches. Die deutschen Truppen wiederum betrachteten die Worte des Kaisers als Freibrief für ein schonungsloses Vorgehen gegen die chinesische Bevölkerung.
"Wilhelm posaunt das, was er denkt, lauthals hinaus und taumelt im Grunde von einem rhetorischen Eklat zum nächsten - und im Grunde auch wie kein zweiter dieses Unverwundbarkeitsgefühl seiner Epoche verkörpert."
Der Autor hält den Einfluss Wilhelms auf das Kaiserreich zwar für begrenzt, allerdings bestimmte er die Auswahl des Spitzenpersonals in Regierung und Militär und hatte dabei keine glückliche Hand. Das Unglück des Deutschen Reichs nahm gewissermaßen seinen Lauf, als Wilhelm die Entlassung Bismarcks als Reichskanzler betrieb. In den Augen Rainer F. Schmidts eine verhängnisvolle Entscheidung.
"Diese hohe Kunst der Politik, die geht mit seinem Abgang verloren, dass die Nachfolger im Grunde Pygmäen waren, die an seinem Werk herumdilettiert haben, aber nicht die Kunst der Politik so beherrschten, dass sie über alle Klippen und Gefahrenlagen hinaus das Reich durch die Stromschnellen der Zeitläufte steuern konnten."
Als Risiko erwies sich vor allem die Bündnispolitik Deutschlands. Nach dem Abgang Bismarcks gab das Deutsche Reich ohne Not das bis dahin klug austarierte Bündnis- und Sicherheitssystem auf und geriet durch seine ungünstige geografische Mittellage zusehends in Bedrängnis, insbesondere durch die sich anbahnende Annäherung zwischen Frankreich und Russland. Das, was Rainer F. Schmidt die Fähigkeit des Maßhaltens nennt, ging verloren.

"Platz an der Sonne" – Der Kampf um Kolonien

Hinzu kam eine aggressive Kolonialpolitik. Deutschland war als "verspätete Nation" im Wettlauf um Kolonien und "Schutzgebiete" gegenüber England, Frankreich und andere europäische Mächte ins Hintertreffen geraten und suchte nach einem "Platz an der Sonne", wie es in einer zeitgenössischen Floskel hieß. Die deutschen Kolonialherren setzten ihre Ansprüche mit brutaler Gewalt durch, ob in Deutsch-Südwest- und Ost-Afrika oder in Neuguinea und China, getreu dem Motto ihres Kaisers: Pardon wird nicht gegeben!
Erstaunlicherweise geht Rainer F. Schmidt in seiner Darstellung weder auf die Massaker an den Herero und Nama im heutigen Namibia ein - für viele Experten der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts -, noch erwähnt er das brutale Vorgehen in Neu-Guinea, das der Historiker Götz Aly erst jüngst eindrücklich beschrieben hat.
"Und der Kolonialismus hat natürlich auch zwei Seiten. Die eine, die sehr stark in der öffentlichen Wahrnehmung ist, ist die Entrechtung und die Ausbeutung der indigenen Bevölkerung. Aber auf der anderen Seite errichtet man Schulen und Bildungsanstalten, man baut eine Verkehrsinfrastruktur, man gründet Krankenhäuser, man schafft Erwerbsmöglichkeiten, Wasser, Stromversorgung, Bergbauprojekte."
Der Bau von Eisenbahnstrecken, Schulen, Plantagen, Kohle- und Silberminen waren jedoch keine reinen Akte der Nächstenliebe, sondern dienten in erster Linie der Erschließung, Beherrschung und Ausbeutung der Kolonien.

"Griff nach der Weltmacht"

"Griff nach der Weltmacht" hieß das Buch des Hamburger Historikers Fritz Fischer, das bei seinem Erscheinen im Jahre 1961 eine heftige Kontroverse auslöste. Fischer hatte darin behauptet, Deutschland trage durch eine aggressive Außenpolitik die Hauptschuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Er widersprach der bis dahin gängigen Ansicht, das Deutsche Reich treffe allenfalls eine Mitschuld. Seitdem streiten Generationen von Historikerinnen und Historikern immer wieder aufs Neue über den Anteil Deutschlands am Kriegsausbruch. Auch Rainer F. Schmidt positioniert sich in dieser Frage.
"Keine der beteiligten Mächte wirkte deeskalierend. Keine einzige Macht wollte den Krieg verhindern oder diesem aus dem Wege gehen. […] Es war mithin nicht nur Berlin, das in der Vorkriegszeit seine machtpolitischen Ansprüche über das gesamteuropäische Interesse und den internationalen Ausgleich stellte."
Mehr Verantwortung schreibt Rainer F. Schmidt Frankreich zu, das nach dem verlorenen Krieg von 1871 und der Demütigung durch die deutsche Kaiserkrönung in Versailles auf Rache sann. Gegenüber einem "bis an die Zähne bewaffneten Frankreich" – wie Schmidt schreibt – und einem mit "horrenden Aufwendungen" aufrüstenden Russland konnte Deutschland nicht Schritt halten und sah sich zusehends in die Defensive gedrängt.
"Angesichts dessen konnte es in Berlin keinen Zweifel geben, dass man immer stärker in eine Position militärischer Defensive, ja Wehrlosigkeit abrutschte. Der grassierende Einkreisungsdruck auf politischer Ebene verschränkte sich mit den Erdrückungsgefühlen auf dem militärischen Sektor. Dies heizte die Bereitschaft zum Risiko, zur Offensive und zum Präventivkrieg enorm an."
Der Präventivkrieg war demnach ein Akt der Notwehr gegenüber übermächtigen Gegnern. Eine Sichtweise, die Schmidt mit zahlreichen Belegen zu untermauern sucht, um – wie gesagt - die Hauptverantwortung Deutschlands am Ausbruch des Weltkrieges zu relativieren. Zugleich aber widersteht er der Versuchung, gegenteilige Argumente auszublenden. Daher klingt seine Darstellung mitunter widersprüchlich und nicht immer schlüssig.
"Deutschland war eben, das muss man auch zur Kenntnis nehmen, Berlin war 1914 die einzige Macht, die den Großen Krieg hätte verhindern können. Keine andere Macht war dazu in der Lage. Aber dazu kam es eben nicht, und das belastet natürlich die deutsche Seite mit einer großen Verantwortung für das Kriegsgeschehen."

"Auf zu den Waffen" – Der Erste Weltkrieg

"An das deutsche Volk. Seit der Reichsgründung ist es durch 43 Jahre mein und meiner Vorfahren heißes Bemühen gewesen, der Welt den Frieden zu erhalten und im Frieden unsere kraftvolle Entwicklung zu fördern."
Kaiser Wilhelm II. mit seinem Aufruf an das deutsche Volk am 6. August 1914, nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
"Nun aber will man uns demütigen. Es muss denn das Schwert nun entscheiden. Mitten im Frieden überfällt uns der Feind. Darum auf zu den Waffen! Jedes Schwanken, jedes Zögern wäre Verrat am Vaterlande."
Die meisten deutschen Soldaten griffen freudig zu den Waffen, voller Zuversicht, schon bald wieder siegreich heimzukehren.
"Der Krieg ist nach damaliger Einschätzung die legitime Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln und wird nicht als kollektive Katastrophe empfunden."
Doch es sollte bekanntlich anders kommen, die Kriegsschauplätze verwandelten sich in Orte der Materialschlachten und des Massensterbens. Verdun wurde zum Synonym des sinnlosen Kampfes: Rund 700.000 Menschen mussten für wenige Quadratkilometer Geländegewinn sterben. Rainer F. Schmidt spricht vom ersten modernen und totalen Krieg.
"Die Soldaten treten im Bewusstsein der Kriegführung des 19. Jahrhunderts an, um einen Krieg des 20. Jahrhunderts zu führen. Das gilt für die Vernichtungskraft der neuen Waffen. Es gilt für die Einbeziehung der Zivilgesellschaft und ihrer Ressourcen in den Krieg. Das gilt für die Schauplätze des Krieges zu Wasser, zu Lande, in der Luft, die Innenstädte, Wohnhäuser, Marktplätze, all das wird in das Kriegsgeschehen einbezogen. Das gilt für die Kriegsziele, die nicht nur den Gegner unschädlich machen wollen, sondern die dessen staatliche Existenz in Zweifel ziehen."

Kaiserdämmerung und Dolchstoßlegende

1917, als die Oberste Heeresleitung unter Erich Ludendorff und Paul von Hindenburg, dem späteren Reichspräsidenten, faktisch eine Militärdiktatur in Deutschland errichtet und Wilhelm II. und die Reichsregierung entmachtet hatte, 1917 bekundete Hindenburg im Angesicht einer drohenden Niederlage immer noch ungebrochen Zuversicht.
"Deutschland steht im vierten Kriegsjahre militärisch und wirtschaftlich unerschüttert. Eine Welt von Feinden hat nicht vermocht, es nieder zu ringen. Da Waffen und Hunger Deutschlands Siegeswillen nicht niederzwangen, griff der Feind zur Niedertracht. Er suchte Zwietracht zu säen, das Volk von seinem Kaiser zu trennen."
Neben den feindlichen Armeen Frankreichs, Englands, Russlands und der USA sah sich die deutsche Militärführung zusehends mit einer kriegsmüden Bevölkerung konfrontiert, die den Frieden herbeisehnte. Da das deutsche Heer bis zum Herbst 1918 keine kriegsentscheidende Schlacht verlor, konnte Paul von Hindenburg später die Propagandalüge verbreiten, Deutschland sei im Felde unbesiegt geblieben, aber von Feinden aus der Heimat erledigt worden - von streikenden Arbeitern, pazifistischen Sozialdemokraten und linksradikalen Spartakisten - die sogenannte Dolchstoßlegende.
Der unrühmliche Ausgang des Krieges, der fatale Beigeschmack der erniedrigenden Kapitulation, ohne das Letzte gewagt zu haben, dieses Erbe war eine schwere Hypothek für die Weimarer Republik, so Rainer F. Schmidt.
"Diese Bürde führte zu chaotischen Zuständen: zur Revolution vom November, zu Bürgerkrieg, Anarchie und Gesetzlosigkeit, zur tiefen Spaltung der Weimarer Gesellschaft und zu einem unscheinbaren kleinen Mann in München, der mit seinen antisemitischen und revanchistischen Parolen ungeheuren Anklang fand und dem die Zukunft gehören sollte."
Damit relativiert Rainer F. Schmidt selber seine Kritik an sogenannten Sonderwegsverfechtern wie Hans Ulrich Wehler oder Heinrich August Winkler, die Entwicklungslinien und Kontinuitäten vom Deutschen Kaiserreich zum Nationalsozialismus zeichneten. Das Kaiserreich mag nicht den Treppenabsatz für Hitler geboten haben, wie der Autor zuspitzend formuliert, aber Deutschland war das einzige hoch entwickelte westliche Industrieland, das unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise nach 1930 seine demokratische Ordnung zugunsten einer totalitären Diktatur aufgab. Der Weg in den Untergang setzte nicht erst in der Weimarer Republik ein, sondern hatte seinen Ursprung unter anderem in dem, was Rainer F. Schmidt Kaiserdämmerung nennt.
Rainer F. Schmidt: "Kaiserdämmerung. Berlin, London, Paris, St. Petersburg und der Weg in den Untergang", Klett-Cotta Verlag, Stuttgart, 880 Seiten, 38 Euro.