Archiv

Robert Menasse: „Die Erweiterung“
Das europäische Narrenschiff

Aus dem Maschinenraum der Macht: Robert Menasse literarisiert in „Die Erweiterung“ die stockenden EU-Beitrittsverhandlungen mit Albanien. Das ist turbulenter, als es klingt, aber auch moralistischer, als es sein müsste.

Von Oliver Jungen |
Robert Menasse: "Die Erweiterung"
Robert Menasse schreibt in seinem Roman "Die Erweiterung" über Europa. (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Hintergrund: Gerda Bergs)
Robert Menasse ist ein Europäer mit Haut und Resthaar. Seit Jahren hält er flammende Plädoyers für die wahre europäische Einheit jenseits der Nationalstaaten. Doch ist er kein bloßer Schwärmer, sondern ein ausgewiesener Kenner der Brüsseler Institutionen. Mit „Die Hauptstadt“ hat der Autor 2017 die Gattung des EU-Romans erfunden. Das Buch überzeugte mit einem satirisch gebrochenen, aber scharf konturierten Einblick in den oft undurchsichtig wirkenden Machtapparat.

Abstrakte, hochkomplexe Politik zu einem literarischen Sujet verdichtet zu haben, dieses wohl seltene Lob gebührt Menasse nun ebenfalls im Hinblick auf den Nachfolgeroman „Die Erweiterung“. Poetologisch handelt es sich um eine Art mitlaufende Simultanübersetzung des Brüsseler Wahnsinns in eine eigene, erzählerische Realität. Wiedererkennbarkeit ist garantiert:

„Ja, es hatte sich einiges geändert. Nach der letzten EU-Wahl, bei der Millionen Europäer ihre Stimme abgegeben hatten, wurde eine neue Kommissionspräsidentin, die bei der Wahl gar nicht kandidiert hatte, mit nur zwei Stimmen gewählt: einer des französischen Präsidenten und einer der deutschen Kanzlerin. Die Europawahl wurde dadurch zu einer Farce gemacht.“

Abrechnung mit der polnischen Regierung

Der Autor nimmt allerdings nicht naheliegende jüngere Ereignisse rund um den Brexit oder die Pandemie-Bekämpfung in den Blick, sondern die besonders verwickelte Osterweiterung der EU, über die auf jährlichen Balkankonferenzen verhandelt wird.

Menasses Helden sind erneut Bürokraten wie der mausgraue Jurist Karl Auer oder der hohe Kommissionsbeamte Adam Prawdower, der ein Hühnchen mit dem polnischen Ministerpräsidenten zu rupfen hat. Beide gehörten einst der „Kämpfenden Solidarnosc“ an, aber Mateusz hat in den Augen seines Blutsbruders solchen Verrat an den Idealen begangen, dass er ihn laut Treueschwur nun eigentlich töten müsste. Der Autor wiederum nutzt die Gelegenheit für eine Abrechnung mit der aktuellen polnischen Führung:

„Wir haben eine Justizreform, die – hallo! Bist du noch da? Ja? Ja!, also, die Regierung hebt die Gewaltenteilung auf, hörst du mich? Ja? Sie zerstört den Rechtsstaat, die Demokratie, und – wieso sagst du nichts? Bist du noch da? Und was macht ihr, was macht die Kommission, hört man da etwas?“

Ein Helm als Zeichen Großalbanien

Ein großer Teil der Handlung spielt diesmal in Tirana: am Amtssitz des albanischen Ministerpräsidenten, der eng an den tatsächlichen Regierungschef Edi Rama, einen Künstler in Politikverantwortung, angelehnt ist. Als die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit dem mehrheitlich muslimischen Land wieder einmal von einigen Staaten blockiert wird, kommt ein Berater des Ministerpräsidenten auf die Idee, die EU mit einem Bluff unter Zugzwang zu setzen. In Anlehnung an den mittelalterlichen Nationalhelden Skanderbeg solle zum Schein ein geeintes Großalbanien beschworen werden. Konkret sei der gehörnte Helm des Kastrioti-Fürsten, der im Kunsthistorischen Museum Wien aufbewahrt wird, zurückzufordern:

„Wenn Du dich mit seinem Helm krönst, dann bist du es, der für die Einheit der Albaner steht. (...) Zweitens wäre es die beste Antwort an Brüssel. Du erinnerst sie daran, dass Skanderbeg der Beschützer des europäischen Christentums gegen die Osmanen war.“

Das ist der Nukleus für eine mitunter slapstickhafte Verwechslungskomödie rund um diesen Helm und seine Kopien. Gewitzt illustriert Menasse dabei die diplomatischen Verrenkungen und Asymmetrien in der politischen Kommunikation: Man schenkt sich nichts in Europa.

Düstere Aussichten für die EU

Es handelt sich freilich um den einzig durchlaufenden Handlungsstrang des Buches, das ansonsten in unzählige Abschweifungen zerfällt. Stark ist wiederum das allegorische Finale, das nicht nur alle Figuren, sondern gleich die meisten europäischen Staatslenker anlässlich einer inoffiziellen Balkan-Vorkonferenz auf einer Art albanischem Narrenschiff zusammenbringt. Diese Kreuzfahrt endet als Fliegender Holländer, als antriebslos auf den Meeren treibendes Geisterschiff: eine düstere Prognose für die EU. Mitgegeben wird den Lesern dabei eine letzte Frage:

„Der Helm des Skanderbeg ist das Symbol für ein geeintes Albanien. Was ist das Symbol für ein geeintes Europa?“

Sicher, das ist eine wichtige Frage. Aber an ihr wird auch das Problem des voluminösen Buchs deutlich: Fast jede Szene wirkt ins Symbolische verschoben – und wird auch noch in dieser Weise selbst interpretiert. Das Verhältnis von politischer Botschaft und literarischem Eigensinn ist hier aus der Balance geraten. Menasse will gar nicht mit Stil, Sprache und innerer Glaubwürdigkeit überzeugen, sondern mit Argumenten.

Hölzerne Dialoge paradigmatischer Figuren

Das führt zu skizzenhaft bleibenden, paradigmatischen Figuren. Die Hauptaufgabe der oft hölzernen Dialoge besteht darin, Positionen zu verdeutlichen. Da erklärt etwa eine Kellnerin in Tirana, was sich das Volk von der EU verspricht, und eine Fahrt in die Berge führt zu lehrreichen Anekdoten über den Balkankonflikt.

Auch scheut der Autor keine Zufälle, etwa den, dass Adam 2017 an der – real passierten – Selbstverbrennung des Regimegegners Piotr Szczesny in Warschau vorüberkommt und diesen todesmutig zu löschen versucht. Bei der Romantisierung des einfachen albanischen Lebens und des „Kanun“, des alten „Gesetzes der Ehre“, das „Blutrache“ ebenso fordert wie „Gastfreundschaft“, streift Menasse sogar den Ethnokitsch:

„Und er wusste: Man würde ihn, weil er einen jüdischen Flüchtling versteckt hatte und also dem Kanun gehorchte, nicht töten, kein Albaner würde das tun, nicht hier, wissend, dass Verwandte des Ermordeten, bis zum Letzten des Clans, nicht ruhen und rasten würden, bis der Mörder seinerseits getötet war.“

Mehr Essay als Roman

Zu alledem hat sich die europäische Lage zuletzt massiv verändert. Gegenüber Fragen von Krieg und Frieden wirkt die ausgedachte Posse um einen Helm – samt ihrer Metaphorik – doch eher peripher. Wer das politisch wie historisch gut recherchierte Buch hingegen als engagierten, bebilderten Essay liest, eine europäische Mahnung angesichts des zunehmenden Nationalismus, wird seine Freude daran haben.
Robert Menasse: „Die Erweiterung“
Suhrkamp Verlag, Berlin
654 Seiten, 28 Euro.