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Das Filmfestival von Locarno

Beim 61.Filmfestival von Locarno wurden über 300 Filme gezeigt, die für den Goldenen Leoparden ins Rennen gingen. Es gibt traditionell auch einige Nebenreihen, darunter am wichtigsten die Reihe "Open Doors". Dort wird eine Region der Erde meist hervorgehoben. Dieses Jahr war es Lateinamerika. Und so konnte man nicht nur Produktionen aus Argentinien, Mexiko und Brasilien, sondern einmal auch aus Guatemala oder Chile sehen.

Rüdiger Suchsland im Gespräch mit Michael Köhler |
    Michael Köhler: Rüdiger Suchsland, was ist denn Locarno 2008 an Größe und Qualität? Es ja nicht der große Bahnhof, etwa wie bei der Berliner Biennale?

    Rüdiger Suchsland: Ja, das ist kein Festival der Stars. Die richtig großen Hollywood-Stars, die kommen nach Locarno, die warten noch zwei, drei Wochen, dann ist das Festival von Venedig. Und dann kommt da noch Toronto und Sankt Sebastián. Locarno ist ein Festival, wo eigentlich junge Filmemacher entdeckt werden, junge Talente, ihre ersten, zweiten, vielleicht auch noch dritten Filme vorstellen, und zwar in beiden Wettbewerbsreihen, auch teilweise in Nebenreihen. Und dann ist es ein Festival, wo es immer auch irgendwelche, so ein bisschen schrägen und besonderen Events gibt. Was in diesem Jahr zum Beispiel sehr interessant war, das war Michel Houellebecq, den wir alle natürlich kennen als Autor, zum Beispiel von "Elementarteilchen" und "Ausweitung der Kampfzone", dass der jetzt plötzlich ein Filmregisseur ist. Der Film lief in einer Nebenreihe, auch ganz zu Recht. Er hat seinen eigenen Roman verfilmt, "Die Möglichkeit einer Insel", mit einem bekannten französischen Schauspieler, Benoît Magimel, in der Hauptrolle. Aber der Film ist nicht besonders gut gelungen. Da muss man sagen, es erinnert eher so ein bisschen an Science-Fiction, und zwar einen schlechten B-Movie-Science-Fiction aus den 70er Jahren mit einem verrückten Wissenschaftler und unglaublich viel Gerede und so Kulissen, denen man ansieht, dass sie wackeln und dass sie nur aus Pappe sind. Und das Schweizer Publikum hat einen ganz guten Instinkt in Locarno. Denn es war ziemlich überraschend für mich persönlich. Obwohl Houellebecq selber da war mit seinem Hund, war die Vorstellung nur so ein Drittel besucht. Das war insofern dann nicht so aufregend. Aber Houellebecq war einer der großen Stars. Ein anderer Star ist auch ein Autor, das ist Chuck Palahniuk, den wir kennen als Autor von "Fight Club". Und der war da, als ein anderer Roman von ihm "Choke" verfilmt wurde. Der handelt von einem Sexsüchtigen mit Mutterproblemen. Und Anjelica Huston und Sam Rockwell spielen da die Hauptrollen.

    Köhler: Knapp 30 Filme mit Regionalschwerpunkt Lateinamerika, da gab es u.a. auch eine brasilianische Produktion, die es Ihnen angetan hat?

    Suchsland: Ja, es gibt einen Film. Das ist ein Dokumentarfilm. Der erzählt von einer Geschichte, an die sich vielleicht sogar noch erinnern. Es ist mal ein Flugzeug abgestürzt in den Anden, und einige haben überlebt. Die haben aber nur überleben können, indem sie die Leichen der Toten des Absturzes gegessen haben in einer Schneelandschaft, menschenleeren Schneelandschaft. Da haben die auf diese Weise einen Monat lang überlebt. Und die Geschichte, diese ganze Geschichte, auch mit Interviews der Überlebenden, die erzählt der Film "Stranded" aus Brasilien, "Gestrandet" heißt das übersetzt. Und das ist ein sehr bewegender, sehr beeindruckender Film, der von Grenzerfahrung erzählt. Das ist eigentlich was, was man ja sehen möchte, Grenzerfahrung im Kino. Darum geht man zu so einem Festival, wo man Filme sieht, die nicht ins Kino kommen, jedenfalls nicht alle von den natürlich.

    Köhler: Verlieren Sie abschließend noch ein Wort über die deutschen Beiträge.

    Suchsland: Ja, da kommen ja teilweise auch Filme, die tatsächlich ins Kino kommen. Das ist nämlich zum Beispiel auf der Piazza, dem riesengroßen Platz von Locarno, wo Tausende von Zuschauern sind, wenn er voll besetzt ist. Da lief der Film "Nordwand", der recht bald ins Kino kommt. Der stammt von Philipp Stölzl, der hat vor allem Videoclips gemacht, Opern inszeniert, vor ein paar Jahren einen kleinen Erstlingsfilm gemacht. Und das ist, wenn man so will, ein Wiederaufwärmen des Bergfilms. Die Bergfilme, die kennen wir von Luis Trenker und von Leni Riefenstahl auch aus den 20er- und frühen 30er-Jahren. Da kämpft der kleine Mensch gegen die große Natur. Und das ist eine Geschichte, die erzählt er heute noch mal von zwei Bergsteigern, die 1936, während die Nazis in Berlin herrschen, versuchen, die Eiger-Nordwand zu besteigen. Und das alles ist aber nicht wirklich gelungen. Denn man muss sagen, das Ganze wirkt ein bisschen wie eine Daily Soap. Das sind eigentlich die bekannten Muster des sogenannten Event-Kinos, die hier mit neuen Versatzstücken gefüllt werden, und was zwar zum Lachen ist. Aber eher ein unfreiwilliger Lacher, das ist, wenn Benno Führmann, der Berliner Hauptdarsteller des Films dann so ein peinliches Pseudobayerisch sprechen muss. Da hat man offenbar zwar sehr viel Geld ausgegeben für den Film, aber am Sprachcouch gespart. Und es gab einige Lacher bei der Vorführung, die aber nicht mit dem Film, sondern eher gegen Film gerichtet waren.

    Köhler: Sagt Rüdiger Suchsland zum 61. Filmfest von Locarno.