Jochen Fischer: In Hessen, da sollte heute Mittag eigentlich eine neue Landesregierung ins Amt gewählt werden. Die Hoffnung vieler Sozialdemokraten und der Grünen hieß Andrea Ypsilanti. Sie sollte - geduldet von der Fraktion der Linken - Regierungschefin einer Minderheitsregierung werden und das Land in eine neue politische Zukunft führen. Doch daraus wird nichts werden. Das wissen wir seit gestern. Denn in der Fraktion der SPD regte sich die Stimme des Gewissens. Die eine Stimme, die kannten wir schon. Sie hieß Dagmar Metzger. Und jetzt sind noch drei weitere Abgeordnete der SPD hinzugekommen, die eine Zusammenarbeit mit der Linken ablehnen. Aus der Traum also für Andrea Ypsilanti. Doch wie geht es jetzt weiter in Hessen und auch darüber hinaus? - Fragen an den Politikwissenschaftler Everhard Holtmann von der Universität Halle-Wittenberg. Guten Morgen!
Everhard Holtmann: Guten Morgen, Herr Fischer.
Fischer: Vier SPD-Abgeordnete also haben die Wahl von Andrea Ypsilanti verweigert, mit dem Hinweis auf das Gewissen. Wie glaubwürdig ist denn das?
Holtmann: Dieses freie Mandat, was ja bestimmt, dass Abgeordnete, gewählte Abgeordnete nur ihrem Wissen verantwortlich sind und an Weisungen nicht gebunden sind, ist ein Kernelement der Demokratie, im Bund wie im Landtag, und es öffnet Abgeordneten, die ein dissenting vote, also ein abweichendes Verhalten ankündigen und auch praktizieren, auch einen vergleichsweise breiten Handlungsspielraum, unabhängig von den sicherlich auch vorhandenen Erfordernissen der Fraktionsdisziplin. Das ist gar keine Frage.
Fischer: Ihnen wird ja vorgehalten, auch von Seiten der SPD-Führung, dass sie ja in einem Diskussionsprozess lange genug Zeit gehabt hätten, sich zu erklären. Warum haben sie denn diese Zeit nicht genutzt?
Holtmann: Der Hinweis ist sicherlich nicht ganz von der Hand zu weisen, denn Abgeordnete, die danach trachten, die Mehrheitsmeinung oder eine sich abzeichnende Mehrheitsmeinung in Partei und Fraktion, die man ja als einen politischen Gesamtzusammenhang betrachten muss, nicht mitvollziehen, sollten in der Tat rechtzeitig signalisieren, dass sie diesen Kurs nicht mittragen können. Und man fragt sich in der Tat, warum diese Abgeordneten die ja doch relativ vielen Gelegenheiten, öffentlich oder halb öffentlich, auf diese sich abzeichnende Möglichkeit hinzuweisen, nicht genutzt haben, denn in der Tat kommt damit ja die Gesamteinheit Partei und auch die Gesamteinheit Fraktion nicht nur in den Verdacht, sondern auch in die Situation, wo sie sich als handlungsunfähig darstellt. Diese Abwägung zwischen Gewissen und funktionaler Politikfähigkeit, die hätte man den Abgeordneten sicherlich auch zumuten müssen.
Fischer: Die vier sprachen von einem großen Druck, der auf ihnen gelastet habe. Das hört sich so an, als ob es noch Einflussmöglichkeiten von außerhalb gegeben habe. Worin könnte denn das bestanden haben?
Holtmann: Ich glaube nicht unbedingt, dass man jetzt an ungebührliche Einflussnahme dritter denken muss, gar in der Richtung des Stimmenkaufs oder ähnlichem. Nein, der Druck war sicherlich vorhanden, und zwar ab dem Zeitpunkt, wo sich für die einzelnen Abgeordneten, die ja offenbar auch erst relativ sich untereinander ausgetauscht haben und so etwas wie einen Gruppenwillen, einen abweichenden Gruppenwillen überhaupt gebildet haben, ab dem Zeitpunkt, wo jede einzelne und jeder einzelne dieser Abgeordneten in der Richtung gedacht hat, den Mehrheitswillen nicht mitzutragen, hat sich dieser Druck zweifellos aufgebaut und ab einem gewissen Zeitpunkt wird das auch den übrigen nicht verborgen geblieben sein. Da wird es auch Überzeugungsversuche gegeben haben. Da mag vielleicht auch der eine oder andere darauf hingewiesen haben, Andeutungen gemacht haben, dass die eigene persönliche und politische Karriere damit möglicherweise enden könnte, und dergleichen mehr. So gesehen ist dieser Druck mit hoher Wahrscheinlichkeit da gewesen, selbst produziert und von anderen möglicherweise auch noch bestärkt innerhalb der Fraktion.
Fischer: Ministerpräsident Koch bleibt weiter geschäftsführend im Amt. Er kann seine gepackten Kartons wieder auspacken. Wie geht es weiter in Hessen? Sind Neuwahlen die beste Lösung?
Holtmann: Das ist nach dem jetzigen Zeitpunkt nicht unwahrscheinlich, denn die Handlungsoptionen für Roland Koch im Rahmen seiner geschäftsführenden Regierung sind ja eigentlich nur scheinbar erweitert worden. Ich halte es angesichts der inhaltlichen Kontroversen zwischen CDU und Grünen in Hessen, die ja schier überbrückbar scheinen, und auch der Aufstellung der Grünen in der Richtung einer rot/rot/grünen Konstellation, die jetzt gescheitert ist, für schwer vorstellbar, dass es zu einer Art Jamaika-Koalition kommen könnte. Umgekehrt: dass die SPD jetzt noch einmal ernsthaft herangeht, als Juniorpartner in einer schwarz/roten Koalition mitzuwirken, auch das ist schwer vorstellbar, weil sie gewissermaßen erschöpft ist von dem Kraftakt, den der Ypsilanti-Kurs ja auch für die gesamte Partei bedeutet hat.
Für Neuwahlen sieht die Verfassung ein relativ klares Verfahren vor. Das bedeutet, wenn eine gestellte Vertrauensfrage im Parlament scheitert, dann ist der Landtag, sofern sich innerhalb von 14 Tagen keine neue Regierung gebildet hat, aufgelöst und dann kommt es automatisch zu Neuwahlen. Neuwahlen muss allerdings - und das ist auch immer wieder in den letzten Tagen gesagt worden - vor allen Dingen die SPD sicherlich fürchten.
Fischer: Wenn es zu Neuwahlen käme, wäre denn damit eigentlich der Wählerwille vom Januar noch gewahrt, denn die Wähler in Hessen haben ja gerade dieses Patt gewählt?
Holtmann: Gut. Sie haben aber auf der anderen Seite eben auch genau dieses Patt gewählt und immer dann, wenn denn Neuwahlen regulär oder auch außerplanmäßig im Rahmen der verfassungsrechtlichen Bestimmungen neu angesetzt werden, dann gibt es einen neuen, ebenso legitimen Wählerwillen. Ob und inwieweit es dann zu anderen Konstellationen, zu Mehrheitsverhältnissen im Landtag kommt, das wird man sehen. Wenig spricht dafür, dass es nach den jetzigen Erfahrungen, die ja auch an den Wahrnehmungen der Wähler nicht völlig vorübergegangen sind, zu einer Wiederholung der jetzigen schwierigen Konstellation im Landtag kommen würde.
Fischer: Aber kann man denn so lange wählen, bis das richtige Ergebnis kommt?
Holtmann: Nein, das kann man sicherlich nicht und ich denke, wenn es denn überhaupt jetzt noch mal zu Neuwahlen kommen würde, dann wäre auch die Verpflichtung, der Verpflichtungsgrad, also die Aufforderung an die gewählten Akteure, eine regierungsfähige Konstellation zu Stande zu bringen, so hoch, dass man sicherlich nicht in eine Sequenz von abermaligen Neuwahlen eintreten würde. Ich kann mir auch vorstellen, dass dann bestimmte Ausschließungen von Koalitionsmustern durch bestimmte Akteure zurückgenommen werden, so dass beispielsweise auch andere Konstellationen als schwarz/gelb oder rot/rot/grün denkbar würden.
Fischer: Der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann mit einem Plädoyer für Neuwahlen in Hessen. Vielen Dank.
Everhard Holtmann: Guten Morgen, Herr Fischer.
Fischer: Vier SPD-Abgeordnete also haben die Wahl von Andrea Ypsilanti verweigert, mit dem Hinweis auf das Gewissen. Wie glaubwürdig ist denn das?
Holtmann: Dieses freie Mandat, was ja bestimmt, dass Abgeordnete, gewählte Abgeordnete nur ihrem Wissen verantwortlich sind und an Weisungen nicht gebunden sind, ist ein Kernelement der Demokratie, im Bund wie im Landtag, und es öffnet Abgeordneten, die ein dissenting vote, also ein abweichendes Verhalten ankündigen und auch praktizieren, auch einen vergleichsweise breiten Handlungsspielraum, unabhängig von den sicherlich auch vorhandenen Erfordernissen der Fraktionsdisziplin. Das ist gar keine Frage.
Fischer: Ihnen wird ja vorgehalten, auch von Seiten der SPD-Führung, dass sie ja in einem Diskussionsprozess lange genug Zeit gehabt hätten, sich zu erklären. Warum haben sie denn diese Zeit nicht genutzt?
Holtmann: Der Hinweis ist sicherlich nicht ganz von der Hand zu weisen, denn Abgeordnete, die danach trachten, die Mehrheitsmeinung oder eine sich abzeichnende Mehrheitsmeinung in Partei und Fraktion, die man ja als einen politischen Gesamtzusammenhang betrachten muss, nicht mitvollziehen, sollten in der Tat rechtzeitig signalisieren, dass sie diesen Kurs nicht mittragen können. Und man fragt sich in der Tat, warum diese Abgeordneten die ja doch relativ vielen Gelegenheiten, öffentlich oder halb öffentlich, auf diese sich abzeichnende Möglichkeit hinzuweisen, nicht genutzt haben, denn in der Tat kommt damit ja die Gesamteinheit Partei und auch die Gesamteinheit Fraktion nicht nur in den Verdacht, sondern auch in die Situation, wo sie sich als handlungsunfähig darstellt. Diese Abwägung zwischen Gewissen und funktionaler Politikfähigkeit, die hätte man den Abgeordneten sicherlich auch zumuten müssen.
Fischer: Die vier sprachen von einem großen Druck, der auf ihnen gelastet habe. Das hört sich so an, als ob es noch Einflussmöglichkeiten von außerhalb gegeben habe. Worin könnte denn das bestanden haben?
Holtmann: Ich glaube nicht unbedingt, dass man jetzt an ungebührliche Einflussnahme dritter denken muss, gar in der Richtung des Stimmenkaufs oder ähnlichem. Nein, der Druck war sicherlich vorhanden, und zwar ab dem Zeitpunkt, wo sich für die einzelnen Abgeordneten, die ja offenbar auch erst relativ sich untereinander ausgetauscht haben und so etwas wie einen Gruppenwillen, einen abweichenden Gruppenwillen überhaupt gebildet haben, ab dem Zeitpunkt, wo jede einzelne und jeder einzelne dieser Abgeordneten in der Richtung gedacht hat, den Mehrheitswillen nicht mitzutragen, hat sich dieser Druck zweifellos aufgebaut und ab einem gewissen Zeitpunkt wird das auch den übrigen nicht verborgen geblieben sein. Da wird es auch Überzeugungsversuche gegeben haben. Da mag vielleicht auch der eine oder andere darauf hingewiesen haben, Andeutungen gemacht haben, dass die eigene persönliche und politische Karriere damit möglicherweise enden könnte, und dergleichen mehr. So gesehen ist dieser Druck mit hoher Wahrscheinlichkeit da gewesen, selbst produziert und von anderen möglicherweise auch noch bestärkt innerhalb der Fraktion.
Fischer: Ministerpräsident Koch bleibt weiter geschäftsführend im Amt. Er kann seine gepackten Kartons wieder auspacken. Wie geht es weiter in Hessen? Sind Neuwahlen die beste Lösung?
Holtmann: Das ist nach dem jetzigen Zeitpunkt nicht unwahrscheinlich, denn die Handlungsoptionen für Roland Koch im Rahmen seiner geschäftsführenden Regierung sind ja eigentlich nur scheinbar erweitert worden. Ich halte es angesichts der inhaltlichen Kontroversen zwischen CDU und Grünen in Hessen, die ja schier überbrückbar scheinen, und auch der Aufstellung der Grünen in der Richtung einer rot/rot/grünen Konstellation, die jetzt gescheitert ist, für schwer vorstellbar, dass es zu einer Art Jamaika-Koalition kommen könnte. Umgekehrt: dass die SPD jetzt noch einmal ernsthaft herangeht, als Juniorpartner in einer schwarz/roten Koalition mitzuwirken, auch das ist schwer vorstellbar, weil sie gewissermaßen erschöpft ist von dem Kraftakt, den der Ypsilanti-Kurs ja auch für die gesamte Partei bedeutet hat.
Für Neuwahlen sieht die Verfassung ein relativ klares Verfahren vor. Das bedeutet, wenn eine gestellte Vertrauensfrage im Parlament scheitert, dann ist der Landtag, sofern sich innerhalb von 14 Tagen keine neue Regierung gebildet hat, aufgelöst und dann kommt es automatisch zu Neuwahlen. Neuwahlen muss allerdings - und das ist auch immer wieder in den letzten Tagen gesagt worden - vor allen Dingen die SPD sicherlich fürchten.
Fischer: Wenn es zu Neuwahlen käme, wäre denn damit eigentlich der Wählerwille vom Januar noch gewahrt, denn die Wähler in Hessen haben ja gerade dieses Patt gewählt?
Holtmann: Gut. Sie haben aber auf der anderen Seite eben auch genau dieses Patt gewählt und immer dann, wenn denn Neuwahlen regulär oder auch außerplanmäßig im Rahmen der verfassungsrechtlichen Bestimmungen neu angesetzt werden, dann gibt es einen neuen, ebenso legitimen Wählerwillen. Ob und inwieweit es dann zu anderen Konstellationen, zu Mehrheitsverhältnissen im Landtag kommt, das wird man sehen. Wenig spricht dafür, dass es nach den jetzigen Erfahrungen, die ja auch an den Wahrnehmungen der Wähler nicht völlig vorübergegangen sind, zu einer Wiederholung der jetzigen schwierigen Konstellation im Landtag kommen würde.
Fischer: Aber kann man denn so lange wählen, bis das richtige Ergebnis kommt?
Holtmann: Nein, das kann man sicherlich nicht und ich denke, wenn es denn überhaupt jetzt noch mal zu Neuwahlen kommen würde, dann wäre auch die Verpflichtung, der Verpflichtungsgrad, also die Aufforderung an die gewählten Akteure, eine regierungsfähige Konstellation zu Stande zu bringen, so hoch, dass man sicherlich nicht in eine Sequenz von abermaligen Neuwahlen eintreten würde. Ich kann mir auch vorstellen, dass dann bestimmte Ausschließungen von Koalitionsmustern durch bestimmte Akteure zurückgenommen werden, so dass beispielsweise auch andere Konstellationen als schwarz/gelb oder rot/rot/grün denkbar würden.
Fischer: Der Politikwissenschaftler Everhard Holtmann mit einem Plädoyer für Neuwahlen in Hessen. Vielen Dank.