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Das Genom der Gnome

Mikrobiologie. - Forscher aus den USA und aus Japan haben das kleinste Erbgut der Welt entdeckt. Um es zu finden haben sie ins Innere von Insektenzellen geschaut. Dort verwirklichen kleinste Bakterien den Traum vom einfachen Leben. Sie lassen es sich gut gehen, denn die Insekten haben ihnen in ihrem Innern ein Wohnzimmer – speziell für Bakterien eingerichtet.

Von Michael Lange | 13.10.2006
    Die Biologin Nancy Moran aus Tucson, Arizona, muss nur vor die Tür ihres Laborgebäudes auf dem Universitäts-Campus gehen. Dort stehen Hackberry-Bäume, wie sie in den USA und Mexiko verbreitet sind. In Deutschland nennt man sie auch Zürgelbäume. Und in diesen Bäumen krabbeln und saugen Insekten, die nur etwa zwei bis drei Millimeter groß sind: so genannte Blattflöhe. In den Tieren verborgen lebt das Bakterium Carsonella rudii, das Nancy Moran seit Jahren erforscht:

    "”Das Bakterium kommt nur in einer speziellen Gruppe von Insekten vor: in den Psylliden, einer Blattfloh-Familie. Die Tiere saugen Pflanzensaft aus Blättern und Stängeln. Für die Bakterien haben diese Blattflöhe eigene Zellen gebildet: Die Bakteriocyten. Im Innern dieser Zellen leben die Bakterien als Symbionten.""

    Bakteriom nennen die Biologen den Bereich der Zelle, in dem die Bakterien leben - gewissermaßen ein Wohnzimmer für Bakterien – hergerichtet nach den Vorlieben der Bewohner. Als Bezahlung liefern die Bakterien Aminosäuren, die das Insekt zum Aufbau eigener Eiweiße braucht. Um das Zusammenleben von Blattflöhen und Bakterien besser zu verstehen, hat Nancy Moran gemeinsam mit Kollegen aus Japan nun das Erbgut der Bakterien erforscht. Die Biologen erwarteten ein kleines Erbgut, und fanden ein winziges. Moran:

    "”Das Genom ist noch viel kleiner als alle dachten. Wir wollten es zunächst gar nicht glauben, aber wir haben es mehrfach überprüft. Carsonella hat nur 182 Gene. Bisher lag der Rekord, also das kleinste Genom, bei etwa 500 Genen.""

    Damit ist Carsonella eindeutig der Rekordhalter unter den Lebewesen, mit eigenem Stoffwechsel. Viren zählen nicht dazu. Sie verzichten auf den eigenen Stoffwechsel und lassen sich von der Zelle durchfüttern. Carsonella aber ist aufgebaut wie ein Bakterium und besitzt auf den ersten Blick alle Merkmale, die ein Lebewesen ausmachen. Eine Art Mini-Bakterium, wie es der Genompionier Craig Venter in seinem neuen Labor für Synthetische Biologie in Rockville eigentlich erst noch schaffen will:

    "”Indem wir ein Gen nach dem anderen ausschalteten, fanden wir eine Art Minimalgenom. Nach unserer Schätzung sind es etwa 380 Gene, die ein Lebewesen mindestens braucht. Wir konstruieren gerade ein künstliches Bakterium, um das zu überprüfen. Es braucht weniger Gene als ein natürliches Bakterium, da es unter künstlichen Bedingungen im Labor lebt.""

    Das natürliche Bakterium Carsonella hat noch einen zusätzlichen Vorteil. Es erhält Hilfe von den Insektenzellen für den Aufbau seiner Zellhülle. Dadurch wurde es abhängig und kann nur in den Blattflöhen überleben. Carsonella wird bei der Fortpflanzung von Generation zu Generation weiter gegeben.
    Möglicherweise ist das Bakterium auf dem Wege, zu einem Teil der Insektenzellen zu werden. Genau so sind einst die Pflanzen entstanden, erklärt der Pflanzengenetiker Bill Martin von der Universität Düsseldorf. Als Ergebnis dieses Prozess besitzen heute alle grünen Pflanzenzellen Chloroplasten, auch genannt Plastiden. Martin:

    "Die Plastiden waren einst frei lebende Cyanobakterien mit einem vollständigen Genom mit etwa 5000 bis 7000 Genen. Heute sind nur noch ein paar hundert davon da. Wo sind die anderen geblieben? Sind sie verloren gegangen? Nein! Sie haben sich konzentriert im Kern."
    Das gleiche könnte bei Carsonella geschehen sein, vermuten die Biologen aus Arizona. Zumindest könnte dieser Prozess begonnen haben. Ursprünglich hatte Carsonella vielleicht mehr als 182 Gene. Aber einige Gene und damit einige Stoffwechsel-Aufgaben haben die Bakterien an ihren Wirt abgegeben. Dort im Zellkern der Blattflöhe könnten frühere Carsonella-Gene verborgen sein. Aber bisher wurden keine entdeckt. Und solange gilt Carsonella als kleinste eigenständige Lebensform der Welt.