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Das Gipfeltreffen in Kopenhagen

    Heinlein: An Superlativen fehlt es wahrlich nicht: die Wiedervereinigung Europas, der "big bang", die Überwindung von Jalta. In Kopenhagen werden die letzten Trümmer des kalten Krieges bei Seite geräumt und ein neues europäisches Kapitel feierlich aufgeschlagen. Zehn auf einen Streich, es ist die bislang größte EU-Erweiterung. Ungetrübt ist der Neuanfang allerdings nicht. Das kleinliche Feilschen der Kandidaten bis zum Schluss gibt wohl einen Vorgeschmack auf die Schwierigkeiten künftiger Verhandlungen in einem Europa der 25. Ein weiteres Thema verlangt die geballte Aufmerksamkeit der europäischen Staats- und Regierungschefs: der Aufnahmewunsch Ankaras soll nicht länger auf die lange Bank geschoben werden. Am Telefon begrüße ich nun den EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen. Guten Morgen!

    Verheugen: Guten Morgen.

    Heinlein: Herr Verheugen, Pokern bis zur letzten Minute. Haben Sie erwartet, dass es am Ende noch einmal so schwierig wird?

    Verheugen: Seit einiger Zeit schon. Es sah einmal etwas besser aus und die dänische Präsidentschaft dachte, man könnte eigentlich alle Probleme schon vor Kopenhagen lösen und am Ende in Kopenhagen selber nur noch feierliche Erklärungen abgeben. Das hat sich nicht realisiert und ich glaube, es war auch wirklich nicht realistisch anzunehmen, dass die Staats- und Regierungschefs die letzten Entscheidungen nicht wirklich selber treffen wollten. Das wird auch so geschehen, aber ich bin zuversichtlich, dass wir, ohne bis Sonntag in Kopenhagen bleiben zu müssen, eine Lösung finden werden.

    Heinlein: Ist das ein Vorgeschmack auf das künftige Europa der 25, dieses kleinliche Feilschen um das Geld?

    Verheugen: Wissen Sie, das ist bei jedem großen europäischen Projekt so, dass am Ende noch viele, viele nationale Interessen auf den Tisch kommen und jeder versucht, noch etwas herauszuholen, noch etwas zu verhindern. Das ist nie anders gewesen. Das war beim Vertrag von Maastricht so, beim Vertrag von Nizza so und nach wenigen Wochen ist das vergessen und es zählt das Ergebnis. Ich glaube nicht, dass diese Streitereien, die wir im Augenblick haben, das große historische Projekt und die große historische Bedeutung dieses Vorganges verdunkeln werden.

    Heinlein: Unter dem Strich – wir haben es gehört – geht es ja maximal nur um eine Summe von 2,5 Milliarden Euro. Sind das nicht Kleinigkeiten, wenn man auf das Gesamtvolumen der Erweiterungskosten blickt?

    Verheugen: In der heutigen Haushaltssituation der Mitgliedsstaaten, insbesondere Deutschlands, ist überhaupt nichts mehr mit Kleinigkeiten. Selbst eine Million Euro wäre in der heutigen Situation nicht mehr so anzusehen. Man muss auch deutlich sehen: wenn wir jetzt nicht zu einem Abschluss kommen, dann wird es von Monat zu Monat schwieriger werden, überhaupt noch zu einem Abschluss zu kommen. Im übrigen ist nicht ganz richtig, was von manchen Mitgliedsländern gesagt wird, dass in Brüssel vor einigen Wochen eine neue Obergrenze festgelegt worden wäre. Das stimmt nicht. Die Obergrenze für die Ausgaben ist 1999 in Berlin festgelegt worden. Die gilt. Das wurde in Brüssel auch ausdrücklich noch einmal bestätigt. Wir liegen im Augenblick mit den Kostenschätzungen um etwas mehr als zwei Milliarden Euro unter dieser Berliner Obergrenze.

    Heinlein: Wie wird es denn am Ende ausgehen? Wagen Sie da eine Prognose? Werden die Polen klein beigeben oder wird die Union finanziell noch einmal draufsatteln? Wie könnte ein Kompromiss aussehen?

    Verheugen: Die polnische Situation ist die schwierigste von allen. Polen rechnet in den nächsten Jahren mit dramatischen Haushaltsdefiziten. Das ist eine Folge der wirtschaftlichen Entwicklung, aber auch eine Folge der enormen Kosten, die Polen in der Vorbereitung und in der Durchführung dieses Beitritts auf sich nehmen muss. Aus meiner Sicht ist die polnische Forderung, die gesamte Summe, die 1999 in Berlin beschlossen worden ist, wirklich auszuschöpfen, zumindest verständlich, vor allem wenn man berücksichtigt, dass die 42 Milliarden Euro, die in Berlin zur Verfügung gestellt worden sind, ja für sechs Länder bestimmt waren und wir jetzt mit demselben Geld zehn Länder finanzieren und diese zehn Länder fast die Hälfte dieses Betrages aus eigenen Mitteln aufbringen. Die müssen ja auch von Anfang an sehr hohe Beiträge bezahlen.

    Heinlein: Thema heute Abend zum Auftakt beim Abendessen soll die Türkei sein. Viele Beobachter befürchten, dass das Thema Türkei diesen ganzen Gipfel bestimmen wird. Bedauern Sie diese Entwicklung?

    Verheugen: Erstens glaube ich nicht, dass das passieren wird, weil im Vorfeld sich doch schon sehr viel geklärt hat. Mein Eindruck ist, dass ungefähr auf der Linie des deutsch-französischen Vorschlages eine Einigung relativ schnell erzielt werden kann. Ich habe beim Außenministertreffen am Montag jedenfalls keinen erlebt, der sich ausdrücklich gegen den deutsch-französischen Vorschlag ausgesprochen hätte. Einige wollen weiter gehen. Ich glaube also nicht, dass das noch so kompliziert sein wird, und ich glaube auch nicht, dass die Zypern-Frage am Ende den Gipfel bestimmt, weil wir ja sehr genau wissen was wir tun wollen. Wenn es eine Lösung in der Zypern-Frage in letzter Minute geben sollte, was ich nicht ausschließe, dann freuen wir uns und nehmen Zypern auf dieser Grundlage auf. Wenn aber nicht, dann wird die Entscheidung über Zypern auch getroffen und Zypern wird auch aufgenommen und das Tor zu weiteren Verhandlungen bleibt offen. Dann besteht ja immer noch die Möglichkeit, dass eine Einigung erzielt wird, bevor der Beitrittsvertrag abgeschlossen wird.

    Heinlein: Also eine Blockade der Griechen, sollte Zypern nicht gelöst werden, erwarten Sie nicht?

    Verheugen: Nein! Diese Möglichkeit ist heute schon ausgeschlossen.

    Heinlein: Wie sehr waren Sie denn eingebunden in die Formulierung des von Ihnen angesprochenen deutsch-französischen Vorschlags in Sachen türkischer Aufnahmegespräche?

    Verheugen: Überhaupt nicht. Das ist keine Angelegenheit, die die Mitgliedsländer mit der Kommission besprechen. Das ist eine deutsch-französische Initiative und sie wird von Deutschland und Frankreich auch gemeinsam verantwortet.

    Heinlein: Wie sehr sind Sie denn ganz persönlich für die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union?

    Verheugen: Die Diskussion kommt ein bisschen spät, weil die Entscheidung, dass die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden kann, werden soll, bereits 1999 in Helsinki getroffen worden ist. Ich weiß gar nicht, wie man gerade in der heutigen Situation erklären wollte, dass die Entscheidung von 1999 nicht mehr gelten soll. Um was es geht ist etwas anderes. Es geht darum, dass die Türkei im Hinblick auf die Entwicklung, die wir jetzt haben – zehn Länder treten bei, zwei Länder kriegen ein Datum für den Beitritt -, eben auch ein Datum haben wollen. Die Kommission hat einen solchen Vorschlag nicht gemacht. Die Kommission sagt, wir bleiben bei unseren Regeln. In dem Augenblick, wo die Türkei unsere politischen Bedingungen wirklich erfüllt, in dem Augenblick können wir die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen ankündigen.

    Heinlein: Welche der Kopenhagener Kriterien werden denn von Ankara bereits erfüllt?

    Verheugen: Überhaupt noch keine!

    Heinlein: Und welche müssen noch erfüllt werden, damit es tatsächlich dann zur Aufnahme der Gespräche kommen wird?

    Verheugen: Die Regel lautet, dass wir nur mit solchen Ländern über den Beitritt verhandeln, die unsere politischen Bedingungen bereits vollständig erfüllen. Das heißt also voll entwickelte Demokratie, voll entwickelte Rechtstaatlichkeit, voll entwickelter Schutz der Menschenrechte und Schutz der Minderheiten. Hier hat die Türkei jetzt aufgrund der Beitrittsperspektive in den letzten zwei Jahren enorme Fortschritte gemacht. Das muss man wirklich anerkennen. Wir haben mit dieser Politik in den letzten Jahren mehr erreicht, als vorher in Jahrzehnten erreicht wurde, und der Prozess setzt sich erstaunlicherweise mit großem Tempo fort. Die neue türkische Regierung hat ein weiteres Reformpaket auf den Weg gebracht, das genau die Themen anpackt, die wir von der Türkei verlangt haben: also Folter, Vereinigungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Minderheitsrechte, religiöse Rechte. Das alles liegt bereits wieder auf dem Tisch des Hauses.

    Heinlein: Frage zum Schluss, Herr Verheugen. Als EU-Erweiterungskommissar haben Sie mehr als drei Jahre auf diesen Gipfel hingearbeitet. Ist Kopenhagen für Sie so etwas wie die Krönung Ihrer europapolitischen Laufbahn?

    Verheugen: Es ist ja noch ein bisschen früh, sich Kränze zu flechten, denn noch sind wir nicht da. Aber natürlich ist es so, dass ich es als den ganz großen Erfolg betrachten muss, wenn es wirklich gelingt, innerhalb eines so kurzen Zeitraumes ein Projekt, eine Aufgabe von einer solchen historischen Dimension zu lösen. Ich fühle mich aber im Augenblick noch ein bisschen unsicher, ob ich mich nun freuen soll oder ob ich eher besorgt sein soll.

    Heinlein: Wünschen Sie sich als zuständiger Kommissar manchmal etwas mehr Kompetenzen, um die Dinge schneller und einfacher auf den Weg bringen zu können?

    Verheugen: Ich kann mich nicht beklagen. Die Mitgliedsländer haben die Steuerung dieses Prozesses in einem ganz ungewöhnlichen Maße der Kommission und mir überlassen. Sie sind in den drei Jahren in allen großen Fragen und in Tausenden von Einzelfragen den Vorschlägen der Kommission gefolgt. Mehr Einfluss wäre überhaupt nicht gut gewesen.

    Heinlein: Heute Auftakt des EU-Gipfels in Kopenhagen. Dazu heute Morgen hier im Deutschlandfunk der EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen. – Herr Verheugen, ich danke für das Gespräch und auf Wiederhören nach Brüssel!

    Link: Interview als RealAudio