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Das Glück im Hier und Jetzt

Wie das Lukrez-Gedicht "De Rerum Natura" mehr als 1400 Jahre nach seinem Erscheinen die Öffentlichkeit erreichte, das schildert der Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt in seinem Buch "Die Wende". Seine These: Der Fund des Gedichtes gab der Renaissance einen entscheidenden Schub.

Von Brigitte Baetz | 11.10.2012
    Jede gute Geschichte, auch wenn sie wahr ist, braucht einen Helden. Poggio Bracciolini ist der Held Stephen Greenblatts:

    Im Winter 1417 reitet Poggio Bracciolini durch die bewaldeten Täler und Höhen Süddeutschlands seinem fernen Ziel entgegen, einem Kloster, von dem es heißt, es beherberge ein geheimes Lager alter Handschriften.

    Und wer ist dieser Poggio Bracciolini?

    "Er kam aus einer kleinen Stadt, sein Vater war arm, musste die Stadt verlassen, um vor seinen Schuldnern zu fliehen. Aber Poggio taucht, quasi noch ein Teenager, in Florenz auf mit einer bewundernswerten Gabe: Er hat eine wunderbare Handschrift, die zum Schlüssel zu seiner Karriere werden wird. In dem Zeitalter vor der Erfindung des Buchdrucks, in der Schriften in großer Zahl kopiert werden müssen, ist dies eine wichtige Gabe. Und er nutzt sie für das Ziel eines ambitionierten jungen Mannes seiner Zeit: einen Posten zu ergattern am päpstlichen Hof. Er war ein Skriptor, ein Sekretär für einen der möglicherweise schlimmsten Päpste in der Geschichte, einem Mann, der als Johannes XXIII. bekannt wurde."

    Poggio Bracciolini ist nicht nur ein päpstlicher Angestellter mit begnadet schöner Handschrift, er ist auch ein Bücherjäger in der Tradition Petrarcas. Er teilt das Ziel vieler Humanisten, die, meist aus Italien kommend, in ganz Europa auf der Suche sind: Sie möchten antike Schriften wieder entdecken, die teilweise nur noch durch Anmerkungen einiger weniger überlieferter Autoren bekannt geblieben sind. Nach der Absetzung des unrühmlichen Johannes XXIII. durch das Konzil von Konstanz 1415 ist dieser Poggio Bracciolini arbeitslos und zieht auf der Suche nach unentdeckten literarischen Schätzen durch Süddeutschland. Und so beginnt Stephen Greenblatts Buch "Die Wende", mit der der amerikanische Literaturwissenschaftler erklären will, "wie die Welt modern wurde" – so der Untertitel des englischsprachigen Originals. In der deutschen Übersetzung heißt es etwas konkreter: "Wie die Renaissance begann".

    Die Renaissance, im Grunde die Kulturbewegung einer kleinen europäischen Elite im 14. bis ins 16. Jahrhundert hinein, rückte den Menschen ins Zentrum ihrer Schriften und ihrer Kunst. Und dies war ein revolutionärer Akt, der allerdings nichts grundsätzlich Neues schuf, sondern sich auf eine alte antike Tradition berufen konnte – die allerdings verloren gegangen war.

    "Praktisch alles ging unter als Rom unterging, als die Bibliotheken zerstört wurden, die Schulen geschlossen, als keine Bücher mehr kopiert wurden, Menschen, die Bücher besaßen, nicht mehr wichtig genommen wurden, als ungebildete Kriegsherren die Überreste des römischen Imperiums übernahmen."

    Die Gründe für den Untergang der antiken Schriftkultur zwischen dem dritten und siebten Jahrhundert nach Christus sind vielfältig: die Wirren der Völkerwanderungszeit, allgemeiner kultureller Niedergang, die Zerstörung von Bibliotheken. Stephen Greenblatt hebt vor allem die Verfolgung heidnischer Kulturträger während der Christianisierung des Römischen Reiches hervor, so z. B. die Ermordung der Mathematikerin, Philosophin und Astronomin Hypatia, die um 415 in Alexandria von einem christlichen Mob gelyncht worden war.

    Mit dem Mord an Hypatia endete nicht nur das Leben einer bemerkenswerten Frau, er markierte auch den Niedergang des geistigen Lebens in Alexandria, war das Totengeläut für eine ganze geistige Tradition, die hinter dem Text steht, den Poggio viele Jahrhunderte später wiederentdecken sollte.

    Doch was entdeckte Poggio Bracciolini nun 1417 in einem Kloster in Süddeutschland, das so revolutionär gewesen sein muss, dass es die weiteren Weltläufe beeinflussen konnte? Stephen Greenblatt:

    "Über die Natur der Dinge" von Lukrez ist eins der großen Beispiele für das Überdauern von Kultur. Dies ist ein Text, ein bemerkenswertes Gedicht, geschrieben vor mehr als 2000 Jahren. Es basiert auf Ideen, die mindestens noch einmal 400 Jahre älter sind. Es fand eine gewisse Verbreitung in der Zeit Ciceros, Caesars und Vergils. Und dann, nachdem es 400 Jahre lang bekannt gewesen war, verschwand es einfach. Und es wurde mehr als 1000 Jahre lang kaum noch erwähnt. Und dann, an einem Tag im Januar 1417, geht der Bücherjäger Poggio Bracciolini in eine Klosterbibliothek, findet eine Kopie und nimmt es aus dem Regal. Das hatte außergewöhnliche, weitreichende Konsequenzen, natürlich nicht sofort. Es war mehr so wie der Flügelschlag des Schmetterlings."

    Der Flügelschlag des Schmetterlings - die kleine Veränderung also, die schwerwiegende Folgen haben kann – ist das 17.400 Verse zählende Langgedicht des römischen Dichters Titus Lucretius Caro: "De rerum natura", Über die Natur der Dinge. Sein zentrales Thema: die Befreiung des Menschen vom Götterkult.

    Lukrez, 1. Buch, 63
    Schmählichen Anblicks lag auf Erden das Leben der Menschen,
    unter der Religion gewaltsam niedergetreten;
    die vorstreckend das Haupt aus himmlischen Regionen,
    mit entsetzlichem Blick herab auf die Sterblichen drohte:
    da trat auf ein griechischer Mann, und wagte zuerst es,
    aufzuheben dagegen das Aug, und entgegen zu streben:
    nicht der Götter Ruf, noch Blitze, noch drohende Donner
    schreckten ihn ab; sie reizten nur schärfer des Geistes
    angestrengten Mut, die Riegel nieder zu brechen,
    und der erste zu sein, die Natur aus dem Kerker zu lösen.


    Der erste, der die Natur aus dem Kerker löste, wie Lukrez meinte, um sich unbeeinflusst von der Religion ihrer Erforschung zu widmen, war der griechische Philosoph Epikur. Dieser hatte im 4. vorchristlichen Jahrhundert in der Nachfolge Demokrits postuliert, dass alles Seiende aus kleinsten Teilen zusammen gesetzt wäre: den Atomen.

    "Mit diesem Gedicht kommt der Gedanke zurück, dass die Welt aus Atomen und Leere besteht und nichts anderem. Keine geheimnisvollen Dämonen, keine Engel, keine Kräfte bewegen diese Atome, es gibt keine Vorsehung. Man braucht keinen Schöpfer, kein "intelligentes Design”, um komplexe Geschöpfe, seien es Küchenschaben oder Menschen, hervorzubringen. Sie existieren, weil Atome vor Millionen oder Milliarden Jahren zufällig auf eine bestimmte Art zusammengestoßen sind oder sich verbunden haben. Dieser Gedanke sagt, dass auch die menschliche Seele aus Atomen besteht. Die menschliche Seele besteht aus Atomen, weil der menschliche Körper aus Atomen besteht. Wenn er auseinander fällt, fällt auch die Seele auseinander. Deshalb gibt es kein Leben nach dem Tod. Deshalb gibt es kein jüngste Gericht im Leben nach dem Tod. Es gibt keine Bestrafung und keine Belohnung. Welchen Sinn wir auch im Universum haben, es ist im Hier und Jetzt, in dieser Welt. Und welche politischen oder ethischen Bedeutungen wir uns geben können, müssen wir uns hier geben und zwar uns selbst. Kein Gott kann uns das abnehmen."

    Lukrez, 1. Buch, 73
    Also hat obsiegt des Geistes Kraft, und er drang noch
    über die Grenzen hinaus der Flammenwelle des Äthers,
    forschte mit Geist und Sinn das unermessliche Weltall.
    Von da kam er zurück als Sieger, und lehrte was sein kann,
    und was nicht; und wie, beschränkt durch die eigenen Kräfte,
    jedem Ding ein Ziel, ein endliches Maß ihm gesteckt sei.
    Und so lieget die Religion nun wieder zur Erde,
    unter die Füße getreten; der Sieg erhebt uns zum Himmel.


    Doch der Sieg über die Religion, wie Lukrez ihn mit dem Leben und dem Werk Epikurs gekommen gesehen hatte, er sollte nicht ewig währen. Die Vielgötterei der Griechen und Römer wurde abgelöst vom Monotheismus des Christentums. Und das Werk des Lukrez ging verloren, ein Umstand, den christliche Autoren des Mittelalters durchaus begrüßten. Schon der Kirchenvater Hieronymus vermerkte in seiner Chronik für das Jahr 94 vor Christus:

    "Der Dichter Titus Lucretius wurde geboren. Nachdem ihn ein Liebestrank in den Wahnsinn stürzte, und er in den Pausen seines Wahns mehrere Bücher geschrieben hatte, die später Cicero durchsah, tötete er sich in seinem 44. Lebensjahr mit eigener Hand."

    "Wir wissen nicht viel von Lukrez. Er war Römer und lebte in der Zeit Ciceros und Julius Cäsars. Wir wissen nur, dass er dieses große Gedicht geschrieben hat, dass es von vielen seiner Zeitgenossen bewundert wurde, aber dann verschwand. Es gab einige böse Geschichten über ihn, mehrere Hundert Jahre nach seinem Tod: dass er von seiner Frau vergiftet wurde mit einem Liebestrank, dass er verrückt wurde, Selbstmord beging. Das sind so die Dinge, die man sich von Sündern wie Lukrez erzählte."

    Doch nicht der Umstand, dass das Werk des heidnischen, angeblichen, Sünders Lukrez verloren gegangen war, hatte eine Tradition des frühen Atheismus abreißen lassen, es war der Umstand, dass die Schule des Epikur grundsätzlich in Vergessenheit geraten war, von Epikurs eigenen Schriften bis heute nur Fragmente erhalten sind. Vor diesem Hintergrund kann es als eine Art nichtreligiöses Wunder bezeichnet werden, dass das Gedicht des Lukrez wieder gefunden wurde. Für Stephen Greenblatt ist der Fund einer der Zufälle, die der Geschichte einen kleinen, aber entscheidenden Stoß in eine andere Richtung geben.

    "Warum ist es so bedeutend? Weil das meiste klassische Erbe verloren gegangen war. Viele, viele Werke von Sophokles, Euripides und Aischylos. Viele große Kunstwerke, Werke der Philosophie, der Wissenschaft. Der große Zusammenbruch der antiken Zivilisation traf auch die philosophische Schule der Epikureer. Die Überlieferung dieser Schule hing wirklich nur an einem großen Gedicht. Alles das kam auf einmal zurück 1417. Die ganze philosophische Tradition eines Demokrit, eines Leukipp, fast alles von Epikur ist verloren, für immer verloren. Und dann taucht dieser Text, dieser großartige Text wieder auf. Es gab nur noch wenige Kopien, vielleicht eine Handvoll, auf der ganzen Welt. Ein Feuer, ein Erdbeben, irgendein Akt der Zerstörung – und es wäre alles vorbei gewesen. Aber es kommt alles wieder, in dem Moment als ein etwas undurchsichtiger Beamter das Buch aus dem Regal nimmt."


    Der Harvard-Professor Stephen Greenblatt ist einer der Mitbegründer des sogenannten New Historicism. Diese Theorierichtung der Literaturwissenschaft geht davon aus, dass literarische Aussagen nicht losgelöst betrachtet werden können, sondern als Teil einer allgemeinen Diskursvernetzung. Der Interpret eines literarischen Textes muss diese Vernetzung rekonstruieren, um den Text mit "sozialer Energie" aufzuladen, der Energie, die er im Entstehungsprozess besaß und die er im Prozess des Lesens besitzt. Vor diesem Hintergrund ist es Greenblatt wahrscheinlich nachzusehen, dass er einem einzelnen Text eine möglicherweise zu große Bedeutung beimisst, wie einige Kritiker ihm unterstellten. Allerdings ist die Modernität des Gedichtes von Lukrez auch für unsere heutige Zeit nicht zu leugnen, lässt sich die Sprengkraft der Epikureischen Gedanken für das ausgehende Mittelalter nicht überschätzen. Noch einmal Stephen Greenblatt:

    "Die Ideen waren sehr gefährlich, denn es ging ja nicht nur einfach um Atome, obwohl dieser Gedanke natürlich auch heute die Menschen beschäftigt und schwer zu begreifen ist. Es geht mehr darum, was daraus folgt, wenn Lukrez sagt, dass die Welt von Niemandem geschaffen worden ist. Man braucht keinen Schöpfer, kein intelligentes Design, es war das Resultat eines endlosen Experimentierens der Natur. Lukrez glaubte, dass alle Religion Wahn ist, dass sie mit der Angst der Menschen spielt, und dass sie letztendlich grausam ist. Er sagte, und das um 50 vor Christus, dass Religionen die Tendenz haben, Kinder zu opfern. Dabei dachte er natürlich an Agamemnon. Aber der Gedanke war, man könne sich davon freimachen, man sollte sich vom Wahn befreien. Die Frage ist natürlich: befreien zu welchem Zweck? Dazu, zu akzeptieren, dass wir eben sind, was wir sind."

    Eine Überlegung, die befreit, wenn man sie begreift, wie Epikur sie begriffen hat. Das Glück ist im Hier und Jetzt zu finden. Der Tod ist nicht zu fürchten, denn Epikur schrieb: Solange wir da sind, ist der Tod nicht da, wenn aber der Tod da ist, dann sind wir nicht da. Der Mensch ist ein Wesen unter vielen, es gab vor dem Menschen Lebewesen und es wird nach dem Menschen andere Lebewesen geben. Religionen sind Täuschungen. Und wer das weiß und weder Tod noch Götter fürchtet, der kann und soll darauf achten, Furcht, Schmerz, aber auch übermäßige Gier zu vermeiden und ein glückliches Leben zu führen.

    "De rerum natura" – dem Gedicht von Lukrez war in der Renaissance und darüber hinaus ein durchschlagender Erfolg beschieden. Es wurde kopiert und weitergetragen, durchaus auch unter dem Vorzeichen, es theologisch zu widerlegen. Mit der Erfindung des Buchdrucks wurde es endgültig wieder in den kulturellen Kanon einer neuen Zeit aufgenommen. Eines der ersten Druckexemplare erwarb der Politiker und Philosoph Michel de Montaigne. Botticellis berühmtes Gemälde "Primavera" rekuriert auf die ersten Verse von Lukrez Gedicht, in der der Römer Venus feiert als Sinnbild der Fülle der Natur.

    Lukrez, 1. Buch:
    Mutter der Aenaden, o Wonne der Menschen und Götter,
    holde Venus, die Du, unter gleitenden Lichtern des Himmels,
    das schifftragende Meer und die früchtegebärende Erde
    froh mit Leben erfüllt; denn alle lebendigen Wesen
    werden erzeuget durch Dich, und schauen die Strahlen der Sonne.


    Der Historiker Friedrich Prinz nannte es "eine der erstaunlichsten Paradoxien der Weltgeschichte", dass gerade Kirche und Mönchtum, die gegen die Freizügigkeit und das Heidentum der antiken Literatur gekämpft hatten, zu ihren wichtigsten Übermittlern wurden. Hätten Mönche wie die des nicht bekannt gewordenen Klosters in Süddeutschland in ihrer Bibliothek nicht antike Autoren wie Lukrez bewahrt und sogar kopiert, wäre uns sein Zeugnis der Gedanken Epikurs verloren gegangen. Die Renaissance, diese Wiedergeburt der Antike, hätte, so jedenfalls die Überzeugung des Literaturwissenschaftlers Stephen Greenblatt, eine andere Ausgestaltung erfahren.