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"Das hat mit Existenzminimum wenig zu tun"

Jeder elfte Deutsche hat zwei oder mehr Jobs. Das ist das Ergebnis einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Hilmar Schneider, Direktor für Arbeitsmarktpolitik beim Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit in Bonn, sagt, ein drohendes Existenzminimum sei nicht die treibende Kraft dahinter. Vielmehr habe es damit zu tun "dass einfach die Hinzuverdienstmöglichkeiten sehr attraktiv sind".

Hilmar Schneider im Gespräch mit Doris Simon | 05.10.2012
    Doris Simon: Immer mehr Deutsche haben mehr als einen Job. 2,6 Millionen Menschen arbeiten neben ihrer Hauptbeschäftigung noch anderswo. Heute ist es bereits jeder elfte Deutsche, der zwei oder sogar mehr Jobs hat – Tendenz wohl weiter steigend. Früher war das eine Randerscheinung in Deutschland, aber, wie wir gerade gehört haben, in den letzten zehn Jahren sind es immer mehr geworden, die nicht nur eine einzige Hauptarbeit haben. Am Telefon bin ich jetzt verbunden mit Hilmar Schneider. Er ist Direktor für Arbeitsmarktpolitik beim Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit in Bonn. Guten Tag!

    Hilmar Schneider: Guten Tag, Frau Simon.

    Simon: Herr Schneider, haben Sie einen Überblick, wer diese 2,6 Millionen Menschen sind, die zwei oder mehr Jobs haben oder vielleicht auch brauchen?

    Schneider: Nein, wir haben leider auch nicht mehr Daten als die Bundesagentur für Arbeit. Ihr Kollege Kossakowski hat ja vorhin schon dargestellt, man weiß nicht wirklich etwas darüber, wer diese Zweitjobber sind. Der Verdacht liegt nahe, dass es hier ein, sagen wir mal, Armutsproblem geben könnte, dass also Menschen, weil sie mit dem Geld nicht über die Runden kommen, unbedingt noch einen zweiten Job brauchen. Aber ich glaube, das ist nicht wirklich die treibende Kraft, sondern es ist tatsächlich so, dass die Bedingungen für Zweitjobs so günstig sind, dass das sowohl für Arbeitgeber als auch für Arbeitnehmer eine attraktive Möglichkeit ist, sich was dazuzuverdienen.

    Simon: Wenn diese Zweitjobs Minijobs sind, also 400-Euro-Jobs?

    Schneider: Genau. Mir sind Fälle bekannt, wo Arbeitgeber sogar im Prinzip eine Tochtergesellschaft gründen, damit ihre eigenen Mitarbeiter die Möglichkeit haben, Überstunden im Rahmen von Minijobs abzuwickeln. Das heißt, auf die Art und Weise spart sich der Arbeitgeber die Überstundenzuschläge, und für die Arbeitnehmer ist das Netto so, als hätten sie Überstundenzuschläge. Insofern ist das einfach eine vom Gesetzgeber her geschaffene attraktive Möglichkeit, sich was dazuzuverdienen. Und die Motive dafür, sich was dazuzuverdienen, sind ganz unterschiedlich. Es ist tatsächlich so, dass der eine oder andere auch Zeit hat, und sagen wir mal, wenn Sie 35 Stunden in der Woche arbeiten, oder bei VW gibt es zum Teil sogar das 32-Stunden-Modell, dann haben die Leute auch Zeit, sich im Nebenjob noch was dazuzuverdienen, und das machen die gerne, weil sie sich vielleicht ein neues Auto kaufen wollen, oder weil sie einen Umbau finanzieren wollen oder solche Dinge. Das hat mit Existenzminimum wenig zu tun, aber sehr viel damit, dass einfach die Hinzuverdienstmöglichkeiten sehr attraktiv sind.

    Simon: Herr Schneider, Sie haben das gerade als eine attraktive Möglichkeit für Arbeitgeber und Arbeitnehmer bezeichnet, und mein Kollege sagte vorhin schon, diese Jobs sind für die Arbeitnehmer steuerfrei und zum Teil auch ohne Sozialabgaben. Aber irgendjemand muss ja dafür zahlen!

    Schneider: Na ja, zahlen tut letzten Endes die Solidargemeinschaft, denn es bedeutet ja, dass es im Prinzip ein wachsendes Segment von Beschäftigung gibt. Auch Minijobs im Erstjob sind ja mittlerweile ein nicht mehr zu vernachlässigendes Phänomen. Praktisch ein Achtel aller Erwerbstätigen in Deutschland arbeiten ausschließlich im Minijob. Das heißt, hier wird Erwerbstätigkeit oder Beschäftigung, abhängige Beschäftigung in einer Form ausgeführt, die an den Sozialkassen vorbeigeht. Die Rentenversicherung, die Arbeitslosenversicherung, die gesetzliche Krankenversicherung haben davon im Prinzip nichts. Auf der anderen Seite sind aber die Leistungen oder die Ansprüche aus den Versicherungen nun einfach mal da, und wenn sich jetzt insbesondere Minijobs als eine Möglichkeit etablieren oder an die Stelle von sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung treten, also wenn es quasi so einen Ersetzungsprozess gibt, dann stellt das am Ende die Sozialkassen vor Finanzierungsprobleme, denn es brechen ihnen dann im Prinzip Einnahmen weg, während sie auf der anderen Seite unverändert hohe Leistungsansprüche gewähren müssen, und da kann sich jeder ausrechnen, dass das nur eine begrenzte Zeit gut gehen kann.

    Simon: Was heißt das denn dann in diesem Zusammenhang, wenn die Verdienstgrenze wie jetzt vorgesehen für Minijobber von 400 auf 450 Euro steigen wird?

    Schneider: Das heißt, dass Minijobs noch attraktiver werden für Arbeitgeber und für Arbeitnehmer und dass damit natürlich die Finanzierungsprobleme der Sozialversicherungen noch gravierender werden, und das halte ich persönlich für einen Irrweg – auch deswegen, weil diese Minijob-Regelung ja nicht nur eine attraktive Hinzuverdienstmöglichkeit für Zweitverdiener ist. Das viel größere Problem ist, dass es auch eine Beschäftigungsfalle für Hauptverdiener, also nicht für Hauptverdiener, sondern für Zweitverdiener im Haushalt ist. Viele Frauen arbeiten ausschließlich im Minijob, verheiratete Frauen, muss man sagen, obwohl die eigentlich gerne viel mehr arbeiten würden. Nur die stellen dann fest, wenn sie über die 400-Euro-Grenze hinausgehen, oder künftig dann möglicherweise die 450-Euro-Grenze, dass sie dann, weil Sozialversicherungsbeiträge anfallen und weil die Steuerpflicht dann einsetzt, netto in einem bestimmten Bereich sogar weniger nachher in der Tasche haben, als wenn sie im 400-Euro-Job bleiben. Das ist der Grund dafür, dass viele Frauen ihre Möglichkeiten gar nicht zur Entfaltung bringen, und das ist angesichts des demografischen Wandels, mit dem wir ja konfrontiert sein werden, regelrecht verhängnisvoll, denn wir haben genügend Potenzial an Menschen, die ihre Arbeitskraft einsetzen könnten, und solche Regelungen hindern sie daran.

    Simon: Aber wenn jetzt noch mal die Verdienstgrenze erhöht wird, dann ist das eher eine Nicht-Bereitschaft, diese, wie Sie das sagen, Irrweg-, Fehlentwicklung zu korrigieren?

    Schneider: Ja. Alle Experten, die ich kenne, sind im Grunde ja sehr skeptisch eingestellt, was diese Minijobs anbelangt, und zwar aus wohl begründeten Überlegungen heraus, die ich jetzt gerade ja auch versucht habe zu schildern. Dass die Politik sich davon nicht belehren oder überzeugen lässt, ist verhängnisvoll. Wir werden die Rechnung dafür zahlen, spätestens dann, wenn demografisch bedingt uns die Arbeitskräfte ausgehen, aber die Bereitschaft der Menschen nicht steigt, weil sie finanziell bestraft werden, wenn sie ihre Arbeitszeit ausweiten würden. Die Ausweitung der Arbeitszeit ist im Grunde die Antwort auf die demografischen Veränderungen. Genau da machen wir jetzt im Grunde die Hürden noch höher, das ist der falsche Weg.

    Simon: Und das heißt, wir haben also jetzt schon, wie wir eingangs gehört haben, 2,6 Millionen Menschen mit zwei und mehr Jobs. In anderen Ländern, in den USA zum Beispiel, ist das lange schon normal, dass Menschen so arbeiten. Ist das eine Entwicklung, die Sie auch für Deutschland voraussehen?

    Schneider: Nein. Das Working-Pure-Problem aus den USA hat einen völlig anderen Hintergrund als in Deutschland. In den USA gibt es keine Grundsicherung, so wie wir das in Deutschland haben. Das heißt, es gibt wirklich Menschen, die zu extrem niedrigen Stundenlöhnen arbeiten müssen und keine andere Einkommensquelle haben. Da kann es einem passieren, dass man 40 oder 50 Stunden in der Woche arbeitet und damit nicht einmal auf das Existenzminimum kommt. Das zwingt Menschen tatsächlich dazu, zwei oder vielleicht drei Jobs zu haben, damit sie überhaupt über die Runden kommen. Das ist in Deutschland ja anders. Wir haben in Deutschland eine existenzsichernde Grundsicherung. Selbst wenn man gar nicht arbeitet, hat man Anspruch auf ein Mindesteinkommen, und da haben wir eher das Problem, dass diejenigen, die von der Grundsicherung abhängig sind und sich noch was dazuverdienen wollen, dann mit hohen Anrechnungen für ihre Erwerbseinkommen konfrontiert sind, dass es für viele Menschen auch wieder nicht attraktiv macht, sehr viel zu arbeiten, denn wenn sie quasi 100 Prozent des Hinzuverdienstes wieder von der Grundsicherung abgezogen bekommen, dann können sie auch zu Hause bleiben, oder, was dann viele machen, dann gehen sie halt in die Schwarzarbeit. Also, man kann Working Pure in den USA mit den Zweit- und Drittverdiensten in Deutschland nicht vergleichen, weil wir einfach eine völlig andere Organisation von gesetzlicher Mindestsicherung haben.

    Simon: Immer mehr Deutsche haben zwei oder sogar noch mehr Jobs – darüber habe ich gesprochen mit Hilmar Schneider, Direktor Arbeitsmarktpolitik am Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit in Bonn. Herr Schneider, vielen Dank!

    Schneider: Ich danke Ihnen auch, Frau Simon.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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