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"Das ist absolut inakzeptabel"

Auf dem EU-Gipfel in Brüssel hat Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy behauptet, dass auch Deutschland Roma-Lager auflösen wolle. Jürgen Trittin, Fraktionschef der Grünen, sagt sinngemäß, es sei inakzeptabel, Abschiebungen von Menschen nur aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Volksgruppe vorzunehmen.

Jürgen Trittin im Gespräch mit Gerwald Herter |
    Gerwald Herter: Der Eklat beim EU-Gipfel gestern in Brüssel – Bundeskanzlerin Merkel hält sich bei dieser Angelegenheit in der Mitte und Außenminister Guido Westerwelle versucht, keinen Millimeter von ihrer Linie abzuweichen. Wenigstens die Bundesregierung steht eng zusammen, weil es um den wichtigsten Partner Deutschlands in Europa geht: um Frankreich. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy hat gestern beim EU-Gipfel in Brüssel einen handfesten Eklat produziert. Beim Familienfoto, sonst ein Lächeltermin, wandte er dem Präsidenten der EU-Kommission Barroso nur den Rücken zu. Anlass: Justizkommissarin Viviane Reding will ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Frankreich einleiten. Es geht dabei um die Abschiebung Tausender Roma aus Frankreich. Sarkozy sprach dann auch noch davon, dass Deutschland ebenfalls Roma-Lager auflösen wolle. Wer hat da nun was gesagt? Nach dem hitzigen EU-Gipfel bleiben Fragen offen. Der Élysée-Palast in Paris wollte heute auf Nachfrage nicht mitteilen, ob Präsident Sarkozy seine Behauptung, auch Deutschland plane die Abschiebung von Roma, aufrecht erhalten will. Und auch andere Teilnehmer der französischen Delegation halten sich einen Tag nach dem Gipfel eher zurück. Nun bin ich mit Jürgen Trittin, dem Fraktionsvorsitzenden der Grünen im Bundestag, verbunden. Guten Tag, Herr Trittin.

    Jürgen Trittin: Guten Tag!

    Herter: Herr Trittin, die Bundesregierung fährt einen Kurs in der Mitte – ein wenig Kritik an der Kommission, ein wenig Kritik an Sarkozy. Kann das gut gehen?

    Trittin: Ich glaube, die Bundesregierung wird am Ende des Tages, wenn sie nicht, wie das ja geschehen ist durch Sarkozy, sich selber für etwas Falsches einvernehmen lassen will, klar Farbe bekennen müssen, und es geht nicht, dass in Europa unter Gültigkeit der europäischen Menschenrechtskonvention, unter Gültigkeit der ja gerade mit dem Lissaboner Vertrag in Kraft getretenen Grundrechte-Charta der Europäischen Union es Abschiebungen gibt, die nach Volksgruppen entsprechend organisiert werden, wo nicht illegales, rechtswidriges Verhalten der Maßstab ist, sondern die Zugehörigkeit oder auch die vermutete Zugehörigkeit zu einer solchen Volksgruppe. Das ist absolut inakzeptabel und hier muss dann auch Klartext gesprochen werden. Wie es gehen kann, wenn man in dieser Frage nicht Klartext spricht, musste Frau Merkel ja gerade selber erfahren. Herr Sarkozy hat sie dann für seine menschenrechtswidrige, von billigen innenpolitischen Motiven geprägte Politik mit in Anspruch genommen.

    Herter: Aber Sarkozy, der französische Präsident, Frankreich ist der engste Partner Deutschlands in Europa. Das wissen Sie, Sie waren auch Mitglied der Bundesregierung. Mit solch einem Partner kann man nicht so umgehen wie mit anderen.

    Trittin: Ich bin dafür, dass wir ein sehr gutes Verhältnis zu Frankreich pflegen. Ein gutes Verhältnis zu Frankreich beruht aber auf gemeinsamen Werten, und dazu zählt die Unteilbarkeit der Menschenrechte, dazu zählt es, dass man den Schutz von Minderheiten und nicht die Mobilisierung staatlicher Gewalt und der geballten Vorurteile gegen ethnische Minoritäten, so unbequem sie auch sein mögen, zum Mittel der Politik erklärt, und gerade wenn man ein gutes Verhältnis zu Frankreich will, dann ist in dieser Frage ein offenes Wort angebracht. Ob das offene Wort hinter verschlossenen Türen, oder öffentlich gesprochen wird, ist mir egal, aber das offene Wort unter Freunden begründet erst eine strategische Freundschaft, wie wir sie zwischen Deutschland und Frankreich ja haben und auch pflegen.

    Herter: Aber davon gehen Sie doch aus, dass im Moment die Telefonleitungen zwischen Paris und Berlin glühen, oder?

    Trittin: Ich gehe davon aus, dass Frau Merkel stinke sauer ist, weil Herr Sarkozy sie für seine PR-Aktion instrumentalisiert hat. Da hat sie Recht. Sie muss sich nur vorhalten lassen, dass, wenn sie vorher deutlicher Klartext gesprochen hätte und nicht den Eindruck erweckt hätte, sie sei in dieser Frage ambivalent, wo die Kommission lediglich ihrer Aufgabe nachgekommen ist. Die Kommission ist die Hüterin der europäischen Verträge, sie ist nicht nur die Hüterin der Wettbewerbsregeln, da zweifelt das niemand an, sondern sie ist auch die Hüterin der Einhaltung europäischen Rechts, und dazu zählen seit dem Lissaboner Vertrag, für den Frau Merkel sich ja sehr stark gemacht hat, auch und gerade die Grundrechte.

    Herter: Und die Kommission muss auch bei ihrer Haltung bleiben, weil das sonst missverständlich wäre gegenüber zum Beispiel kleineren EU-Staaten.

    Trittin: Wer in dieser Frage anfängt zu wackeln, der öffnet Tür und Tor und der öffnet einer Praxis in Europa die Tür, wo jemand, der aus ganz anderen Gründen innenpolitisch unter Druck geraten ist, plötzlich damit anfängt, zu Lasten von Minderheiten sein politisches Profil zu schärfen. Unverholen schielt Sarkozy auf die Stimmen der radikalen Rechten, und dieses kann in einem gemeinsamen Europa nicht akzeptiert werden.

    Herter: Müssen wir akzeptieren, dass die osteuropäischen Staaten vollwertige Mitglieder der Europäischen Union sind? De jure sind sie das ja, aber man hat manchmal den Eindruck, als seien das immer noch Mitglieder zweiter Klasse. Das wird auch in diesem Zusammenhang irgendwo deutlich.

    Trittin: Ich glaube, das ist der zweite Aspekt, nämlich dass die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten uns nun zu 27 gleichberechtigten Mitgliedsstaaten gemacht hat, und Frau Reding und die Kommission haben nichts anderes getan, als einen einfachen Grundsatz zu verteidigen: in Europa gilt gleiches Recht für alle, egal woher sie kommen. Alle Unionsbürger sind gleich. Das heißt, sie haben sich an die gleichen Gesetze zu halten. Wenn sie sich nicht daran halten, müssen sie sanktioniert werden. Aber niemand darf wegen seiner Herkunft, seiner Zugehörigkeit zu einer kulturellen oder ethnischen Gruppe in diesem gemeinsamen Europa diskriminiert werden.

    Herter: Das war Jürgen Trittin, Fraktionsvorsitzender der Grünen, im Deutschlandfunk-Interview zum Eklat beim EU-Gipfel gestern in Brüssel und den Folgen. Herr Trittin, vielen Dank!

    Trittin: Ich danke Ihnen!